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3. Das europäische Bedrohungsbewusstsein von 1890 bis 1914

4.4 Integrative Organisationsmodelle von den „Vereinigten Staaten von Europa“

bis zur „Union Mondiale“

Zu den Konstanten der Debatte über eine Einigung des europäischen Kontinents gehörte die Frage nach den Organisationsmodellen beim Zusammenschluss europäischer Staaten. In einer 1892 erschienenen Studie über „L‟arbitrage internationale“ nannte der Autor Michel Revon vier Modelle staatlicher Organisation: Föderation, Konföderation, Weltstaatenbund und eine universelle Monarchie.488 Die Idee der Gründung einer gesamteuropäischen Monarchie gewann um 1900 nur eine geringe Anzahl von Anhängern. Das ergab sich sowohl aus dem Aufschwung der demokratischen Idee in Europa wie auch aus der Befürchtung, dass die Schaffung einer europäischen Universalmonarchie letztlich die Hegemonie eines europäischen Staates zur Folge haben würde. Die Errichtung einer hegemonialen Macht auf dem europäischen Kontinent bedeutete den Zerfall des Gleichgewichtsprinzips, das schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts als eine der wichtigsten Errungenschaften der

485 Voyenne, Histoire de l‟idée, S. 145.

486 Siehe Fleury, Y a-t-il des intérêts, S. 47 f.; Dollot, Comment les intérêts, S. 76. Zu den europäischen Neutralgebieten zählten im 19. Jahrhundert die Schweiz (seit 1815), Belgien (seit 1831) und Luxemburg (seit 1867). Nach 1890 wurde auch die Neutralisierung des elsässischen Territoriums intensiv diskutiert. Dieser Aspekt wird von mir im Kapitel 3.4.3 etwas näher erörtert.

487 Fleury, Y a-t-il des intérêts, S. 54.

488 Michel Revon, Arbitrage internationale, Paris 1892, S. 344.

postnapoleonischen Zeit betrachtet wurde. Von der Umgestaltung Europas in eine universelle Monarchie träumten in der Geschichte unter anderem der neuzeitliche Philosoph Leibniz, der französische Kaiser Napoleon I. sowie die Dichter Dante und Novalis. Wie unterschiedlich die Vorstellungen von der Schaffung einer gesamteuropäischen Monarchie waren, untersuchte am Beispiel von Novalis und Napoleon der Germanist Paul Michael Lützeler.489 An der Wende zum 20. Jahrhundert wurde eine europäische Universalmonarchie u. a. von Alfons Paquet, seinem Landsmann Max Waechter und dem französischen Rassetheoretiker Georges Vacher de Lapouge ersehnt.490 In der Regel wurde jedoch der Gedanke einer Umbildung Europas nach dem monarchischen Prinzip in besagter Periode als völlig realitätsfern kritisiert:

„La création d‟un empire d‟Europe est donc un contre-sens qui n‟a pu prendre naissance que dans l‟imagination d‟un romancier“491, betonte etwa der Jurist Gaston Isambert auf dem Kongress „Les Etats-Unis d‟Europe“ bezogen auf den britischen Roman „Marmaduke, emperor of Europa“ von Fawkes.492 Isambert, der der republikanischen Regierungsform einen modellhaften Charakter für ein geeintes Europa zuerkannte, wandte sich gegen die Gründung einer gesamteuropäischen Monarchie nicht zuletzt aufgrund der Schwierigkeiten bei der Wahl des Herrschers, der dieses Staatswesen zu repräsentieren hätte.493

Für die Entwicklung europäischer Einigungspläne wurden vornehmlich das föderative und das konföderative Modell gewählt. Das gilt auch für die Zeit nach 1890. Im Einklang mit dem Zeitgeist lagen vorrangig die Pläne für eine konföderative Organisation Europas. In diesem Modell sahen die Zeitgenossen die optimale Lösung für die Vereinbarung eines supranationalen Selbstverständnisses mit nationalem Empfinden. Zu den wichtigsten Aufgaben dieser Konföderation europäischer Staaten zählte man, darunter insbesondere Intellektuelle und Literaten, die Bewahrung des kulturellen Reichtums, der als einer der zentralen Unterschiede zwischen Europa und den anderen Kontinenten aufgefasst wurde.

489 Für den Germanisten steht Napoleon I. für ein pragmatisches Konzept europäischer Einigung, während Novalis ein idealistisches Konzept repräsentiert: „Novalis oder Napoleon, eine schier unüberbrückliche Kluft tut sich auf:

Einigt man den Kontinent von der Religion her oder von der Politik, vom Mythos her oder vom Kommerz, vom Humanismus her oder von der Börse, von der Idee her oder von der Bürokratie, vom Glauben her oder vom Kalkül, vom Pazifismus her oder von der Rüstung, von der Brüderlichkeit her oder vom Parteienapparat, vom Geist her oder vom Geld?“, in: Lützeler, Novalis oder Napoleon? Zu Grundpositionen der Europa-Essayistik, in:

Europäische Identität und Multikultur, S. 38.

490 Paquet, Der Kaisergedanke, S. 58 f.; Waechter, Ein europäischer Staaten-Bund, S. 202; La question d‟Alsace-Lorraine: un article de M. Robert Stein, S. 5 f.

491 Isambert, Projet d‟organisation, S. 147.

492 Frank A. Fawkes, Marmaduke, Emperor of Europe, 1895. Der Roman wurde Ende des 19. Jahrhunderts von der österreichischen Schriftstellerin und Befürworterin einer Einigung Europas, Bertha von Suttner, ins Deutsche übersetzt.

493 Siehe Isambert, Projet d‟organisation, S. 147.

Unabdingbar für den europäischen Einigungsprozess war die Sicherung der kulturellen Vielfalt Europas etwa für den französischen Historiker Anatole Leroy-Beaulieu:

„S‟il peut s‟établir ou s‟ebaucher, à brêve échéance, au cours du XX siècle, par exemple, sous une forme ou sous autre, une sorte d‟union entre les peuples et les Etats européens, il faut que cette union respecte l‟individualité nationale de chacun et qu‟elle puisse, chez tous, se concilier avec le noble et legitime sentiment du patriotisme. Il faut que, au lieu de condamner chaque nation à sacrifier sa nationalité et son individualité historique, l‟union future puisse apparaitre, à chacun, comme une garantie des droits et des intérêts de sa nationalité. Il faut que, dans l‟Europe enfin réconciliée, chaque peuple, petit ou grand, […] puisse garder tout ce qui fait le juste orgeuil de sa patrie.“494

Auch für den Soziologen Ludwig Stein war die Bewahrung der Kulturvielfalt Europas besonders relevant. Dies ergab sich aus der Zielsetzung von Steins Europa-Projekt, das auf die Gründung eines „Kulturstaatenbundes“ zielte.495 Welche Bedeutung der deutsche Schriftsteller Emil von Wolzogen der Sicherstellung des Pluralismus in der europäischen Kulturlandschaft beimaß, zeigt exemplarisch seine Amerika-Studie „Der Dichter in Dollarica“.496 Die Mehrzahl der zeitgenössischen Befürworter einer Integration des europäischen Kontinents plädierte für seine republikanische Organisationsform. Besonders engagierte Vertreter dieser Idee waren in Frankreich anzutreffen. Exemplarisch hierfür ist der Beitrag des französischen Autors Mieille zur europäischen Einigungsdebatte: „(D)ans une Europe divisée et desunié, la France ne peut garder son rang, que travaillons à fonder cette République des Etats-Unis d‟Europe, dont notre chère patrie pourrait être l‟âme et le pivot“497. In ähnlichen Grundton äußerte sich auch der französische Abgeordnete Alfred Naquet.498

Ein zeitspezifischer Begriff des 19. Jahrhunderts für die Benennung eines konföderativen Zusammenschlusses der europäischen Staaten lautete „Vereinigte Staaten von Europa“. Schon während der Revolutionen von 1848 befand er sich im publizistischen Umlauf. Ihren bedeutendsten Vertreter fand die Idee der Errichtung der Vereinigten Staaten von Europa in dem französischen Schriftsteller Victor Hugo. In Italien wurde diese Idee um die Mitte des 19. Jahrhunderts von Carlo Cattaneo499 und Giuseppe Mazzini popularisiert, auf den britischen Inseln vom schottischen Dichter Charles Mackay.500 Auch noch ein halbes

494 Leroy-Beaulieu, Les Etats-Unis d‟Europe, S. 9.

495 Stein, An der Wende, S. 392.

496 Wolzogen, Der Dichter in Dollarica. Siehe insbesondere S. 271.

497 Mieille, Patriotisme et internationalisme, S. 568.

498 La question d‟Alsace-Lorraine: un article de M. Robert Stein, S. 5 f.

499 Voyenne, Histoire de l‟idée, S. 145.

500 Ein Dokument von grundlegender Bedeutung für die Untersuchung der Geschichte des Begriffs „Vereinigte Staaten von Europa“ liefert der 1932 erschienene Artikel von Anton Ernstberger „Charles Mackay und die Idee der Vereinigten Staaten von Europa“. Ernstberger bekämpft die in der Wissenschaft bis heute verbreitete Indiz auf Victor Hugo als den Erfinder des Begriffs „Vereinigte Staaten von Europa“. Seine These belegt er mit Charles Mackays Veröffentlichungen aus der Zeit vor der berühmten Rede Hugos auf dem Pazifistenkongress im Jahre 1849, in der er sich des Begriffs „VSE“ bediente. Auf die Eigenarten der beiden Konzepte rekurrierend betonte Ernstberger: „Dass Mackays Programm realistischer gesehen, praktischer angefasst, bei allem Höhenflug

Jahrhundert später vermittelte das Ideal der „VSE“ den Europäern ein relevantes Identifizierungsmuster. Dies betraf sowohl die künstlerischen und literarischen Milieus als auch die liberalen Kreise des gebildeten Bürgertums. Es ist an dieser Stelle zu betonen, dass das Aufkommen der Idee der „VSE“ mit der Formierung einer öffentlichen Meinung in Europa zusammenfiel. Auf diesen Aspekt hat Mitte der 1990er-Jahre der Historiker Hagen Schulze hingewiesen, indem er betonte:

„Im heraufkommenden Zeitalter der öffentlichen Meinung und der politischen Teilhabe immer breiterer Bevölkerungsschichten konnte keine Macht bestehen, die sich nicht durch die Ideen und Propaganda rechtfertigte. Ein neues Europa entstand, das des bürgerlichen Liberalismus, und es entband eine große Idee, die umso feierlicher war, als sie nicht die geringste Chance der Verwirklichung besaß: Die Idee von den Vereinigten Staaten von Europa.“501

Auf die starke Verbreitung des Begriffs „Vereinigte Staaten von Europa“ zu Beginn des 20.

Jahrhunderts weist seine häufige Verwendung in der zeitgenössischen Europa-Debatte hin.

Eins der eindrucksvollsten Beispiele hierfür bildet der Kongress „Les Etats-Unis d‟Europe“, der im Juni 1900 in Paris veranstaltet wurde. In einigen Fällen diente dieser Begriff als Titel für Zeitschriften und zeitgeschichtliche Studien. „Les Etats-Unis d‟Europe“ hieß etwa eine im September 1870 in Paris herausgegebene Zeitung, in der Frankreich im Namen der europäischen Zusammengehörigkeit und gemeinsamer europäischer Interessen bei den europäischen Völkern um eine Unterstützung gegen die deutsche Bedrohung warb. In den 1880er-Jahren hat man dem Presseorgan der „Ligue de la Paix et de la Liberté“ den Titel „Les Etats-Unis d‟Europe“ gegeben. Wichtige Hinweise auf die Popularität des Begriffs „VSE“

liefern zudem zeitgenössische Studien wie etwa die 1903 unter dem Decknamen „Européen“

veröffentlichte Monographie „Les Etats-Unis d‟Europe et la question d‟Alsace-Lorraine“, William Steads „The United States of Europe“, Robert Steins „Die Vereinigten Staaten von Europa“, „Die Vereinigten Staaten von Europa – Bestrebungen für die Verbrüderung der europäischen Nationen“ von Ploetzer und „Die Schöpfung der Vereinigten Staaten von Europa – Eine Phantasie von 1910 und eine Betrachtung von 1914“.502

des Gedankens doch noch realpolitischer verankert war, Viktor Hugos Idee aber sensationeller aufgemacht, bestrickender entwickelt und mit unwiderstehlicher Geste dargelegt wurde, das gerade war dort das spezifisch Englische daran, wie hier das spezifisch Französische.“, in:Anton Ernstberger, Charles Mackay und die Idee der Vereinigten Staaten von Europa, in: Historische Zeitschrift, 1932, Bd. 146, S. 292.

501 Schulze, Europäische Identität, S. 29.

502 Européen, Die Vereinigten Staaten von Europa et la question d‟Alsace-Lorraine, Straßburg 1903 ; William T.

Stead, The United States of Europe, London 1899; Robert Stein, Die Vereinigten Staaten von Europa, Berlin 1908; Franz Heinrich Plötzer, Die Vereinigten Staaten von Europa – Bestrebungen für die Verbrüderung der europäischen Nationen, Darmstadt 1912; Die Schöpfung der Vereinigten Staaten von Europa – Eine Phantasie von 1910 und eine Betrachtung von 1914, Berlin 1914 (anonym).

Unter den Vorschlägen für die politische Integration der europäischen Staaten sind auch solche anzutreffen, die die Einberufung einer europäischen Konföderation als eine Übergangsphase betrachteten, der die Umbildung Europas in eine Föderation folgen sollte.

Der Wunsch nach der Etablierung eines konföderativen Europas war wesentlich durch die Sicht auf Europa als historische Traditionsgemeinschaft geprägt. Das Streben der Zeitgenossen nach einer europäischen Föderation war auch durch den Aufschwung des internationalen Gedankens auf dem europäischen Kontinent und die Hochschätzung des amerikanischen Staatsmodells bedingt. Einige Stimmen, von der zivilisatorischen und kulturellen Verwandtschaft zwischen Europa und den USA überzeugt, plädierten für die Schaffung einer „Föderation der europäischen Kulturwelt“503. Der Friedenspublizist Alfred Fried zielte sogar auf einen politischen Zusammenschluss zwischen den USA und den europäischen Staaten. „Diese Föderation“, so der Autor, wäre ein „solcher Machtkomplex […], dass es keinen andern auf Erden geben wird, der in einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit den föderierten Staaten seine Rechnung zu finden hoffen könnte.“504

Nicht wenige Verfasser von Europa-Plänen gingen in ihren Integrationsvorschlägen sogar bis zur Gründung eines Weltbundes.505 Der Zusammenschluss der europäischen Staaten wurde dabei als der erste Schritt auf dem Weg zur Gründung eines Weltstaatenbundes aufgefasst. Der Stuttgarter Pfarrer Otto Umfried etwa betonte 1913 in seiner Studie mit dem programmatischen Titel „Europa den Europäern“: „Zuerst muss Europa unter sich eins werden; dann mag das System auf die ganze Erde ausgedehnt werden.“506 Auf die Vorrangstellung der „Etats-Unis du monde“ gegenüber einer genuin europäischen Lösung wies 1900 auch Gaston Brunet hin.507 Als Befürworter der Begründung eines Weltstaatenbundes zeigte sich darüber hinaus der französische Autor Léon Bollack. Sein Ziel war die Gründung einer „Fédération des Etats d‟Europe et d‟Amérique avec leurs colonies d‟Afrique et d‟Asie“508. „La constitution de la Fédération mondiale sera l‟oeuvre du XXIe siècle“, resümierte Bollack, „par suite de l‟Accession volontaire des races jaunes à la

503 Fried, Handbuch der Friedensbewegung, S. 86.

504 Ebenda, S. 90. Hierzu vgl. ebenda, S. 56.

505 Hierzu vgl. Karl von Stengel, Weltstaat und Friedensproblem, Berlin 1909, S. 37; Ein Buch über die Weltorganisation, in: Die Friedens-Warte, Juni 1908, Nr. 6, Jg. 10, S. 106–107. Mit der Problematik des geschichtlichen Ursprungs des „Weltbundgedankens“ sowie der Idee eines „Weltfriedens“ setzte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Soziologe und Kulturphilosoph Ludwig Stein auseinander. Siehe Stein, „Das Ideal des

„ewigen Friedens“, S. 4 ff. Vom politischen Standpunkt aus betrachtet, geht Stein von dem Hinweis auf das

„Weltreich“ Alexander des Großen aus. In der Philosophie wurde der Weltbund- und Friedensgedanke nach seinem Urteil zuerst durch die Stoiker repräsentiert.

506 Otto Umfried, Europa den Europäern, Esslingen 1913, S. 71.

507 Les Etats-Unis d‟Europe. Congrès, S. 41.

508 Bollack, Comment et pourquoi, S. 38.

Fédération blanche“.509 In einer globalen Lösung sahen europäische Zeitgenossen auch die Chance, die weltumspannende Machtposition Europas zu sichern. Zudem verdeutlicht die Entwicklung von Plänen für die Errichtung eines Weltstaatenbundes die ideelle Sehnsucht nach der Menschheitsverbrüderung, wie sie etwa bei Romain Rolland zu beobachten ist.510 Bei dem Streben nach Gründung eines Weltbundes dominierte der Wunsch nach der dauerhaften Sicherung des Friedens in der Welt. In diesem Sinne äußerte sich etwa der Friedenspropagandist Eduard Loewenthal, für den „ein Welt-Staatenbund“ das „sicherste Mittel zur Beseitigung des Krieges“ darstellte.511 Nach Überzeugung Alfred Frieds war eine

„Weltorganisation“ bereits an der Wende zum 20. Jahrhundert im Entstehen begriffen:

„Ein Prozess gewaltiger Natur vollzieht sich in Europa, in der ganzen Welt. Wer sein Auge geschärft hat und ihn seit Jahrzehnten verfolgt, weiss, wohin er führt; weiss, was daraus werden muss. Weltorganisation ist das Ziel, das Ergebnis all dieser Kämpfe, dieser fieberhaften Erregungen in der politischen Welt. Der glückliche Mensch, der einst in abgeklärter Ruhe die Zuckungen unseres Zeitalters übersehen, eine Geschichte schreiben wird, er wird ein herrliches Bild erfassen, denn er wird alle Zusammenhänge erkennen und Farben sehen, wo unsere Zeitgenossen nur Ungeordnetes, nur einzelne Punkte wahrnehmen. Er wird sicherlich unser Zeitalter das grosse Zeitalter nennen, er wird von der grossen Umwälzung zu Beginn des 20. Jahrhunderts sprechen und eine neue Epoche der Geschichte datieren, die mit unseren Tagen einsetzt.“512

Schwer zu überwiegende Hindernisse für die Errichtung eines Weltbundes sahen zeitgenössische Stimmen in seiner Ausdehnung, die seine Macht schwächen müsste sowie in der isolationistischen Politik der USA, die schon lange in der Monroe-Doktrin ihren Ausdruck gefunden hatte.

Als historische Vorbilder für erfolgreich vollzogene europäische Integrationen erwähnte man im Zeitraum von 1890 bis 1914 in chronologischer Ordnung das Römische Reich, die Helvetische Konföderation aus der Zeit vor 1848 und den Deutschen Bund. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für einen gelungenen Einigungsprozess in Europa sah man an der Jahrhundertwende auch in der Gründung des Deutschen Zollvereins.513 Sein Verdienst

509 Ebenda.

510 Zu diesem Aspekt siehe Kapitel 7.2 dieser Arbeit.

511 Eduard von Loewenthal, Ein Welt-Staatenbund als sicherstes Mittel zur Beseitigung des Krieges, Berlin 1896.

512 Fried, Wohin geht Deutschland?, S. 104.

513 Ein aussagekräftiges Zeitzeugnis hierüber lieferte der Pariser Kongress „Les Etats-Unis d‟Europe“. Zur Wirkung des Deutschen Zollvereins als Vorbild für eine ökonomische Integration Europas siehe Rolf. H. Dumke, Der Zollverein als Modell ökonomischer Integration, in: Helmut Berding (Hrsg.), Wirtschaftliche und politische Einigung, Göttingen 1988 (Geschichte und Gesellschaft: Sonderheft 10), S. 71–102. Kennzeichnend für die Popularität des Deutschen Zollvereins als Modell für eine ökonomische Einigung Europas ist die Verbreitung des Ausdrucks „Zollverein européen“ in der zeitgenössischen französischen Literatur über europäische Integration. Hierzu siehe L‟Alsace-Lorraine et la paix, Paris 1904, S. 19. (Die Studie erschien anonym); Jules Domergue, La Question du Zollverein européen, in: La réforme économique, 15. 3. 1903, Jg. 12, Nr. 11, S. 359–

361; Jules Méline, Un projet de Zollverein européen, in: La réforme économique, 17. 5. 1903, Jg. 12, Nr. 20, S.

683–685; Edmond Théry, Histoire économique de l‟Angleterre, de l‟Allemagne, des Etats-Unis et de la France, Paris 1902, S. 13; Novicow, L‟Alsace-Lorraine et la Paix, S. 415. Zahlreiche Belege hierfür enthält auch der bereits an mehreren Stellen zitierte Konferenzband „Les Etats-Unis d‟Europe“ (1900).

bestand nach dieser Auffassung einmal darin, die Integration eines großen Teils von Zentraleuropa zu ermöglichen, eine intensivere Annäherung zwischen den Staaten, als dies im Falle eines genuin politischen Bündnisses möglich wäre erreicht zu haben und zugleich ein Beispiel für den gelungenen Integrationsweg von einer ökonomischen Union zur politischen Einheit zu liefern.Zugleich bedeutete seine Gründung die Vorbereitung auf die Absorbierung der kleinen Staaten durch die größeren. Die Bildung einer Zollunion in Europa wurde von vielen Anhängern der Europa-Pläne als der erste und „praktischste“514 Schritt auf dem Weg zu einer politischen Einigung des Kontinents interpretiert. Hierzu gehörten Anatole Leroy-Beaulieu, Paul von Leusse, Guillaume de Molinari, Alexander von Peez, Albert Schäffle und Ludwig Stein.515 Am lebhaftesten wurde das Problem der wirtschaftlichen Integration Europas an der Wende zum 20. Jahrhundert in Deutschland diskutiert.516 Der Nationalökonom und Jurist Louis Bosc wollte insbesondere drei Aspekte als verantwortlich für diesen Tatbestand sehen: 1. „weil es (Deutschland; M. G.) innerhalb seines Gebiets jenes merkwürdige zollpolitische Gebilde hat entstehen sehen, das gewissermaßen den Ausgangspunkt seiner nationalen Einheit bildete“, 2. weil in Deutschland „die wirtschaftspolitischen Fragen von den deutschen Nationalökonomen und Staatsmännern mit mehr Gründlichkeit und Gelehrsamkeit als sonst überall untersucht werden“, 3. weil

„Deutschland in einem mitteleuropäischen Zollverein dank seiner geographischen Lage eine hervorragende Rolle ersten Ranges spielen würde“ und wie ehemals Preußen einen bestimmenden Einfluss auf den Zollverein ausübte.517 Die Pläne für die Bildung einer Zollunion der europäischen Staaten fußten um 1900 besonders häufig auf der sog. „Theorie von den Weltreichen“ auf.518 Dieses Konzept beruhte auf der Annahme, dass sich der britische, amerikanische und russische Markt zukünftig zwangsläufig verschließen würden und sich drei große Machtblöcke in der Welt bilden würden. Durch die Gründung einer europäischen Wirtschaftsunion beabsichtigten ihre Wortführer dem Entstehen dieser ökonomischen Machtzentren entgegenzuwirken.

514 Leroy-Beaulieu, Les Etats-Unis d‟Europe, S. 22.

515 Guillaume de Molinari, Union douanière de l‟Europe Centrale, in: Journal des Economistes, Februar 1879, Bd.

V, S. 309–318; Paul von Leusse, Der Frieden mittels des deutsch-französischen Zollvereins, Straßburg 1888 S.

17–33; Alexander von Peez, Mittel-Europa und die drei Weltreiche Grösser-Britannien, die Vereinigten Staaten und Rußland, in: ders., Zur neuesten Handelspolitik. Sieben Abhandlungen, Wien 1895, S. 20; Ludwig Stein, Das Ideal des „ewigen Friedens“ und die soziale Frage, Berlin 1896, S. 54 f.; Albert Schäffle, Die Handelspolitik der Zukunft, in: Die Zukunft, 16. 10. 1897, Bd. 21, S. 122–140; Leroy-Beaulieu, Les Etats-Unis d‟Europe, S. 22.

516 Vgl. Bosc, Zollunionen, S. 252.

517 Alle Zitate nach: ebenda.

518 Eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Konzept liefert: Heinrich Dietzel, Die Theorie von den drei Weltreichen, Berlin 1900. Hierzu vgl. die Rezension dieser Studie von N.E. Weill: N.E. Weill, Drei Weltreiche, in: Die Zukunft, 2. 2. 1901, Bd. 34, S. 219–224.