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Implizites Wissen und Erfahrung

3 Theoretische Fundierung

3.6 Implizites Wissen und Erfahrung

Inter-pretationsvorlage, Einordnung und Handlungsrichtschnur, die sich dann im Handeln ausdrückt. Bewusste Erfahrungen werden innerhalb des Lebens abgespeichert und wirken dann im Hintergrundbewusstsein mit bei der Konstruktion des aktuell Erfahre-nen. Diesen Prozess nennt Polanyi Einverleiben. Einverleiben wird damit zu einer integrativen Tätigkeit, die sich auf viele Bereiche erstreckt. Bspw. wäre der Gebrauch eines Hammers eine Einverleibung in dem Sinne, dass er als Werkzeug zum Einschla-gen eines Nagels dient, während des Gebrauchs jedoch nicht fokussiert wird. Das meint, dass die ausführende Person nicht auf den Hammer, sondern auf den Nagel achtet. Auch Theorien können einverleibt sein und dann funktional genutzt werden.

Wenn sie als interpretativer Rahmen eingesetzt und so zu einem Verständnis oder einer Interpretation beitragen, werden sie funktional wirksam. Auch Moralvorstellun-gen werden in dieser Weise wirksam, wenn sie verinnerlicht wurden. In ihrer funktio-nalen Ausrichtung werden sie nicht bewusst erlebt, das heißt, sie werden „stillschwei-gend“ im Hintergrund benutzt. Die Person erlebt sie nur transformiert (phänomenal) in der semantischen Eingebundenheit des Fokalbewusstseins. Damit ist aber nicht gemeint, dass sie grundsätzlich nicht bewusstseinsfähig wären (Neuweg, 2001, S.

187ff). Eine Refokussierung auf die Subsidien ist zwar teilweise möglich, jedoch wird dabei die vormals bestehende phänomenale und semantische Bedeutung zerstört. Die Subsidien sind jedoch wesentlich notwendig, um den Gesamtkontext zu verstehen, das heißt, im Moment der Fokussierung von Subsidien geht das integrative Gesamtbild verloren. Eine Person ist nicht in der Lage, auf beide Bewusstseinsebenen gleichzeitig zu achten. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass sich Menschen im Normalfall auf das proximale Gefüge im Handeln verlassen. Der Fokus der Aufmerksamkeit ist nach außen gerichtet. Wird dieser auf die Subsidien nach innen gelenkt, geraten Menschen ins Stocken und die Gesamtbedeutung geht verloren (Polanyi, 1986, S.

49ff). Es ist ein typisches Phänomen, dass sich in vielen Bereichen des Lebens nach-vollziehen lässt. Zum Beispiel gibt es viele Menschen, die relativ flüssig in einer Fremdsprache lesen können. Sollen sie jedoch einzelne Sätze oder Wörter übersetzen, fällt ihnen das oft sehr schwer, da sie den Text in der Gestalt des Gesamtzusammen-hanges erfasst haben und nicht über die korrekte Übersetzung jedes Teilelementes. Ein weiteres Beispiel wäre das schnelle Treppablaufen, wobei immer zwei oder drei Stufen auf einmal genommen werden. Fängt der Ausführende währenddessen an darüber nachzudenken, wird die bis dahin flüssige Bewegung unsicher und er gerät ins Strau-cheln. Der dritte Aspekt im Aufbau der impliziten Triade ist das Subjekt. Die weiteren Aspekte der Triade sind der distale Term und der proximale Kern. Dem Subjekt wird

eine entscheidende Aufgabe zugesprochen, denn nur das Subjekt vermag durch eine implizite Integration Einzelelementen eine Bedeutung zu verleihen. Subsidien für sich genommen sind noch nicht mit Bedeutung behaftet, erst durch den Akt der Integrati-on wird diese geschaffen. Verstehen ist die sinnvolle Einbettung einzelner Subsidien in ein Gesamtgefüge. Diese zentrale Funktion übernimmt innerhalb der Triade das Subjekt.

Polanyi beschreibt, dass Menschen grundsätzlich zur Integration neigen, und um dies zu erreichen, entweder bestimmte Elemente ausblenden, andere evtl. überbetonen oder Details verändern. Damit macht er auch deutlich, dass es innerhalb von Integrations-leistungen zu Fehlern kommen kann. Eine damit gebildete Wirklichkeit hat also nicht den Anspruch, fehlerfrei oder objektiv sein zu können. Vielmehr zeigt sich in ihr eine Integration von Subsidien zu einem bestimmten Bild, das maßgeblich von vorange-gangen Erfahrungen, Einstellungen usw. geprägt wird. Im Handeln selbst kommt es dabei zu einer bestimmten Bedeutung, die das Subjekt so und nicht anders handeln lässt. Polanyis Idee eines sinnvollen Lernprozesses ist daher auch eine Verzahnung von Integration und Analyse. Er selbst bezeichnet es als eine Pendelbewegung, die zwischen der fokussierten Ganzheit und den explizierbaren Einzelelementen stattfindet und nötig ist. An dieser Stelle wird deutlich, dass Polanyi keineswegs sich gegen explizites Wissen ausspricht, sondern dieses als wichtigen Baustein ansieht, um implizite Integra-tionen in ihren Bestandteilen zu analysieren oder um bis dahin ausgeblendete Elemen-te mit einzubeziehen. Die Analyse aus dem KonElemen-text heraus auf die Subsidien zerstört jedoch die Bedeutung der Gestalt zu Gunsten einer vertiefenden Auseinandersetzung oder Bewusstmachung des im proximalen Term Vorhandenen. Reintegration ist für Michael Polanyi daher ein wesentlicher Schritt, um einen Lernfortschritt zu erzielen.

Nur so lässt sich Bedeutung wiederherstellen, indem die bearbeiteten Subsidien integ-riert werden und dadurch einen klareren Blick auf das Ganze freilegen (Neuweg, 2001, S. 252ff und 351ff).

Übertragung auf die Untersuchung:

Mit der Konzeption des impliziten Wissens wird dargestellt, dass z.B. Pflegekräfte in ihrem Handeln etwas Bestimmtes im Fokus ihrer Aufmerksamkeit haben (bspw. die Positionierung oder die Begrüßung des zu Pflegenden). Dabei werden erworbene und sozialisierte Deutungsmuster wirksam. Diese im Hintergrundbewusstsein befindlichen Anteile sind nur zum Teil dem Bewusststein zugänglich. Demnach lässt sich das

konkrete Handeln der Pflegekräfte nur sehr schwer über explizite Regeln und Hand-lungsabfolgen generieren. Vielmehr zeigt sich, dass Erfahrung einen zentralen Stellen-wert hat und das konkrete Handeln und die Interaktion maßgeblich bestimmt. Ver-deutlicht wurde auch, dass es eine Tendenz dazu gibt, bestimmte Ordnungen zu generieren und für sich selbst zu integrieren. Gerade in der Handlung und Interaktion kann dies dann wieder zu einer einseitigen Auslegung der Situation kommen. Der Bedeutungskontext bildet sich über eine situative Verortung. Subsidien an sich tragen also keine Bedeutung in sich, sondern erst im Aufgehobensein in der aktuellen Situa-tion konstruiert sich eine Bedeutung. Hier ergibt sich eine Anschlussfähigkeit an Mead, da sich die situative Bedeutung im Handeln herausbilden kann. Konstruktions-logiken werden jedoch anhand von (nur zum Teil dem Bewusstsein zugänglichen) Vorannahmen gebildet. Es ist für die Pflegekräfte natürlich gar nicht möglich, völlig neue Konstrukte zu bilden, sondern sie bewegen sich in einem vorher schon etablierten Rahmen. Im konkreten Handeln werden diese Logiken zu einer bestimmten Deutung der Situation zusammengesetzt. Polanyi verweist auf das Vorhandensein einer realen Wirklichkeit außerhalb dessen, was für uns als Menschen erfahrbar ist. Für die Hand-lung der Pflegekräfte und die Interaktionen ist in dieser Arbeit der Sozialkonstrukti-vismus von Bedeutung, der ja gerade darauf verweist, dass sich innerhalb einer Gesell-schaft bestimmte Wirklichkeitskonstruktionen als wahr herausgebildet haben und damit auch eine machtvolle Position einnehmen, die für den Menschen in der natürli-chen Einstellung der Alltagswelt als gegeben akzeptiert und nicht hinterfragt wird.

Für die Arbeit bedeutsam ist auch, dass diese Integrationen, die implizit ablaufen, nicht unbedingt immer zu einer angemessenen Deutung bzw. Interpretation führen müssen. Pflegekräfte sind aufgrund ihrer Position in der Lage, innerhalb des Bewe-gungshandelns und der Interaktion mit den zu Pflegenden ihre Deutung sehr leicht durchzusetzen bzw. andere Sichtweisen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Umso wichtiger erscheinen auch hier Elemente der Reflexion auf die Handlungen bzw. der Versuch der Explikation, wie man zu der Deutung gekommen ist. Denn die Pflege-kräfte benötigen ja diese Fähigkeit zur Explikation, wenn sie bspw. während einer Visite oder einer Übergabe erklären sollen, warum sie zu dem Schluss kommen, dass der zu Pflegende ein bestimmtes Interaktionsverhalten zeige. Jeder, der mit Menschen gearbeitet hat, die zur verbalen Sprache nicht in der Lage sind, weiß, wie schwer genau dieser Punkt häufig ist, da er von der Situation abstrahiert und die situative Einbettung der Bedeutungsstruktur damit verloren geht. Und doch können gerade

solche Diskurse dabei helfen, eigene Deutungshintergründe und Urteile zu verdeutli-chen und evtl. Fehldeutungen in der Interaktion bzw. im Handeln mit dem zu Pfle-genden aufzudecken.

Damit findet eine deutliche Aufwertung von Erfahrung und Praxis statt. Lehrbuchwis-sen, bspw. darüber, wie man eine Mobilisation durchführt, führt nicht unweigerlich dazu, dass man dies auch beherrscht, sondern erst durch das durch Erfahrung aufge-baute Wissen und die darin enthaltenen Deutungen bildet sich Könnerschaft heraus.

Genau dieses Erfahrungswissen scheint wesentlich zu sein, um professionell interagie-ren, urteilen und handeln zu können. Im nächsten Abschnitt werden anhand eines Beispiels die Gedanken von Michael Polanyi übertragen und die Begriffe Urteilen und Könnerschaft herausgearbeitet. Damit geht die Einbettung dieser Gedanken in ein Verständnis beruflicher Pflege einher.

3.7 Urteilen und Könnerschaft in der Theorie des impliziten