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Identität und Nation

Teil I: Theoretische Grundlagen und einführende Diskussion

1. Diskurs, Sprache, Ideologie

1.6. Identität und Nation

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soll auch die Wahlmöglichkeit verschwinden. Ohne Wahlmöglichkeit besteht auch keine Bewertungs- bzw. Zuordnungsmöglichkeit und -notwendigkeit (vgl. Arutjunova 1998, 173, 229). Der hinter der betreffenden Norm bzw. hinter dem betreffenden Standard stehende Wert wird ‘devaluiert’ bzw. neutralisiert im Hinblick auf seine Wertigkeit, indem er als das einzig Mögliche, als gegebenes Faktum empfunden wird. Er verschwindet aus dem Interessenbereich der Menschen und als Folge aus ihrer ‘idealisierten Welt’. Er wird ‘naturalisiert’ (s.

Unterkapitel 1.3).

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Signs used to make the difference, to fix identities in the sphere of anthroposemiosis, means to use signs abusively, aberrantly with respect to semiosis in general. In fact, use of signs to make the difference stops deferral and relates the sign to static difference, difference understood as fixed identity, and not to difference understood as an open process, as dialogical movement, participation, involvement, intercorporeity, otherness. (Petrilli 2006, 78)

Differenz, verstanden als Identität, sei eine indifferente Differenz (indifferent difference).

Zeichen der Differenz-Identität schreiben Rollen und Funktionen zu und sehen Alternativen vor; dabei bleiben sie indifferent gegenüber der Andersheit: „Difference as identity refers to indifferent difference, the type of difference that is connected with functions and roles as required by the ‘closed universe of discourse’ […], which foresees alternatives, but excludes difference understood in terms of otherness.“ (Ebd.) Differenz, verstanden als Andersheit, sei eine nicht-indifferente Differenz (unindifferent difference); solch eine Differenz impliziere eine dialogische Interaktion mit anderen Differenzen (ebd.). Diese zwei Möglichkeiten, Zeichen zu verwenden, kann man auch auf der interkulturellen (oder internationalen) Ebene beobachten:

Signs may be used by cultures in at least two different ways: to establish differences with respect to other cultures, to establish identities, that is, to define a culture’s identity and juxtapose it to others; or, as a means of responding to signs, whether their own or of others, in dialogical interrelations, in processes of infinite deferral, in which one sign refers to or defers to another sign as the interpreted sign or the interpretant sign. (Petrilli 2006, 79) Im zweiten Fall handelt es sich um ein ‘antwortendes Verstehen’ oder answering comprehension im Sinne von Vološinov (1975) bzw. Ponzio (2004) (s. Unterkapitel 1.3). Hier ist Differenz oder Andersartigkeit konstitutiv für Zeichen, denn sie führt eine Verschiebung, eine dialogische Öffnung der Zeichen herbei (vgl. Petrilli 2006, 77 f.). Der erstere Fall ist allerdings weiter verbreitet und betrifft vor allem die Nationen, die sich als „concept of identity with implications of the ethnic, linguistic, and religious orders“ präsentieren (Petrilli 2006, 75 f.). Zeichen, die der Schaffung oder Markierung von Differenzen-Identitäten dienen, weisen eine Tendenz zur Schließung auf und können sich bis auf den Status eines Signals – eines eindeutigen, monologischen und statischen Zeichens – reduzieren (vgl. Petrilli 2006, 78).

Vološinov (1975, 123) charakterisiert das Signal als ein ‘selbstidentisches’ „innerlich unbewegliches, einheitliches Ding, das in Wirklichkeit nichts ersetzt, nichts reflektiert oder refraktiert“, während sich das Zeichen durch Veränderlichkeit und Flexibilität auszeichnet. Der wichtigste Unterschied zwischen einem Zeichen und einem Signal besteht laut Vološinov (1975, 123) darin, dass ein Zeichen danach strebt, verstanden zu werden, während ein Signal lediglich (wieder)erkannt werden muss: „So ist also sowohl für die sprachliche Form als auch für das Zeichen das konstitutive Moment nicht etwa ihre signalhafte Identität, sondern ihre spezifische Veränderlichkeit, während das konstitutive Moment für das Verstehen der sprachlichen Form nicht das Wiedererkennen des ‘gleichen’ ist, sondern das Verstehen im eigentlichen Sinne des Wortes, d.h. die Orientierung im jeweiligen Kontext und der jeweiligen Situation, die Orientierung im Werden, und nicht eine ‘Orientierung’ in einem unbeweglichen Zustand.“ (Vološinov 1975, 124). Die Zeichen der Differenz-Identität haben ihren Ursprung in der Vergangenheit, worin man nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden sucht:

[…] signs of difference are signs received from the past; the present cancels them. That which may unite and differentiate and, therefore, identify is a common past: difference on the basis of religion, language, territorial distribution, origin, genealogy, roots, blood, skin color, etc.

Identity attempts to assert itself in what may constitute difference, whether in the name of

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history or of some ‘natural’ characteristic: witnesses to a cultural past, to tradition, habit, monuments, language and dialect, religion, ethnic group. (Petrilli 2006, 79)

Zeichen der Differenz-Identität tragen zur Entstehung geschlossener Gemeinschaften bei.

Kontrovers ist dabei die Rolle der globalen Kommunikation, die die moderne Welt auszeichnet.

Einerseits übernimmt die globale Kommunikation eine unterstützende Funktion für die Zeichen der Differenz-Identität, indem sie diese (wie auch anderen Symbole) übermittelt (vgl. Petrilli 2006, 89), andererseits versucht sie die Unterschiede zu nivellieren, wodurch sich die Situation verschärft:

Today’s sign universe is characterized by global communication, which tends to level and cancel differences, to deny them. Identity-differences are inevitably frustrated in this process and react by obstinately attempting to assert themselves over other identity-differences, by prevaricating and marking boundaries and separations. Consequently, mutual indifference among differences is quickly transformed into hostility and conflict towards that which is different, alien, the stranger. (Petrilli 2006, 79).

Petrilli stellt einer geschlossenen Identität (closed identity) eine reziprokale Alterität (reciprocal otherness) oder reziprokale Eigenartigkeit (reciprocal strangeness) gegenüber:

That which unites each and every one of us to every other is the otherness of each one of us that cannot be reduced to any form of identity, whether of the individual or of the collectivity, and that cannot be reduced to difference connected to a community of any sort. This condition of not belonging, of reciprocal strangeness is what unites us in the relation of non-indifference toward each other. (Petrilli 2006, 80)

Die Zukunft einer anthroposemiotischen Welt sieht die Autorin in einer offenen Gemeinschaft verschiedener Zeichen:19 „community made of signs that are different, but without signs of difference that make, or mark, difference, without signs of closed identities […].“ (Petrilli 2006, 81).

Da ‘Nationen’ gruppenspezifische Konzepte darstellen, können sie weiterhin auch in Bezug auf den Umgang mit Differenzen innerhalb der Gruppe klassifiziert werden. Petrilli (2006, 81 f.) unterscheidet zwischen zwei Arten der ‘Nation’, die mit den oben angeführten Auffassungen von Gardt (2004) und Geeraerts (2003; 2008) übereinstimmen (vgl. Abschnitt 1.2.3 und 1.2.4):

Nation als ethnisch-sprachliche Gemeinschaft und Nation als politisches Gebilde. Jene fungiert als ‘Differenz-Einheit’ unity) und diese als ‘Differenz-Vielfalt’ (difference-plurality) (vgl. Petrilli 2006, 85 f.). Im ersteren Fall entspricht die Differenz der Indifferenz:

Wirtschaftliche, soziale, kulturelle Unterschiede innerhalb der Einheit-Nation werden ignoriert oder negiert (vgl. Petrilli 2006, 86). Im zweiten Fall sind die Differenzen innerhalb der

‘gemeinsamen’ Sprache, Kultur usw. zueinander nicht indifferent: „National unity is considered as a historical result, rather than as a natural starting point. Insofar as it is based on difference-plurality, common nationality does not imply elimination of economic, cultural, linguistic, or class differences, or of the people who are part of it.” (Petrilli 2006, 86). Die Idee der sprachlichen und nationalen Einheit ist für jene Nationen typisch, die sich als ‘difference-unity’ verstehen (vgl. ebd.). Sprachliche Unifizierung stellt somit ein Programm (social planning, s. Abschnitt 1.3.2) dar, das mit der Auffassung der Nation als ‘difference-unity’

korreliert: „If the Nation is a ‘historical category’, then linguistic unification is a process, a political program and not a fact that has already been accomplished, preexistent to the process.

19 In der Peirce’schen Semiotik stellt auch der Mensch ein Zeichen dar (vgl. Sonnenhauser 2012, 155).

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Moreover, linguistic unification is part of a program subtended by interests that lead to privileging difference-unity over difference-multiplicity.” (Petrilli 2006, 87).

Dies gilt auch für andere Faktoren, die zur Charakterisierung der nationalen Gemeinschaft dienen, wie z.B. ‘gemeinsames Territorium’, ‘gemeinsame Mentalität’, die sich ihrerseits in der

‘gemeinsamen Kultur’, ‘in den gemeinsamen sozial-ökonomischen Interessen’ wiederfinden (vgl. ebd.). Da eine sprachliche, kulturelle usw. Uniformität und Homogenität in der Realität nicht möglich ist, betrachtet Petrilli (2006, 88) eine Nation, die als ‘difference-unity’ verstanden wird, als ideologische Mystifizierung angesichts der tatsächlichen ‘difference-plurality’ (vgl.

Petrilli 2006, 88). Die beiden oben dargestellten Konzeptualisierungstendenzen der Nation lassen sich auch im Diskurs über die Taraškevica und Narkamaŭka beobachten (s. Kapitel 6).