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zwi-34 schen den Mitgliedern einer Steuerungsgruppe (den Progressiven) und den „Normal-kollegen“ (den Konservativen) ein Dilemma, kaum nachvollziehbar, wo es doch tat-sächlich um Konflikte zwischen verschiedenen Fraktionen geht, die sich mit dem Paritätsmuster verschärfen, die aber nicht deshalb als unlösbarer dargestellt werden können, weil sie unter erschwerten Voraussetzungen gelöst werden müssten. Mit Schröcks Analyse wird ein Bild von Lehrern vermittelt, mit dem ihr Verhalten als Regression bewertet und zugleich entschuldigt wird. Als Regression wird es darge-stellt, indem Lehrer als bornierte Akteure dargestellt werden, die nur innerhalb ihres Paritätsmusters konstruktiv handeln können und deshalb zu Einsicht und höherer Vernunft im Interesse der Sache der Pädagogik nicht in der Lage sind. Entschuldigt wird ihr Verhalten damit, dass der „Normalkollege“, der nicht in der Steuerungs-gruppe mitarbeitet, auf dieses Muster verpflichtet wird. Das von Schröck konstatierte Hierarchiedilemma erfordert aus kritischer Perspektive genauere Aufklärung, weil mit dem Paritätsmuster und dem daraus resultierenden Hierarchiedilemma nicht er-klärt werden kann, warum Lehrer als dem Anspruch nach professionelle Pädagogen sich mit ihrem Verhalten gegen pädagogische Interessen stellen, also gegen das, was im Kern ihr professionelles Selbstverständnis ist oder zumindest sein müsste. Dass sie das Interesse sozialer Parität derart in den Vordergrund stellen, ist an die Voraus-setzung einer Fragmentierung ihrer professionellen Identität gebunden. Darüber auf-zuklären, ob man von einem derartigen Bild der Lehrer implizit ausgehen darf, wird in dieser Studie zu klären sein.

35 An den von Bastian et al. (2000) untersuchten Schulen sei die Schulpro-grammarbeit entscheidend von einer bestimmten Entwicklungslogik geprägt gewe-sen: So unterschiedlich die Schulen auch waren, in beiden Schulen sei die Entwick-lungsaufgabe in entscheidendem Maße von der jeweiligen Schulform ausgegangen.

In der Grund-, Haupt- und Realschule wie auch an dem Gymnasium sei die Entwick-lungsarbeit darauf ausgerichtet gewesen, die jeweilige Schulform in ihrem Status zu bestätigen. Besonders deutlich wurde diese Zielsetzung am Gymnasium. Während an der Grund-, Haupt-, und Realschule konventionelle Vorstellungen von Schule und Unterricht über Bord geworfen werden konnten, sei es an dem Gymnasium offenbar ganz pragmatisch um die Rückgewinnung verlorenen Terrains gegangen:

„Dagegen soll die Veränderungsarbeit am Gymnasium die Voraussetzungen dafür schaffen, die hergebrachten Ansprüche an ein Gymnasium - verkörpert auch in den Anforderungen der Schulbehörde – wieder besser zu erfüllen bzw. die Schüler und Schülerinnen dazu zu bringen, ‚gymnasiale Anforderungen’ zu erfüllen. Es scheint so, als könne hier von einem Paradox einer ‚konservierenden Veränderungsarbeit’ gesprochen werden.“ (Bastian 2000:

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Dass mit diesem Anspruch keine originär pädagogischen Reformen angestrebt wur-den, kann beispielhaft aus einem Ausschnitt eines Interviewtranskriptes erschlossen werden:

„Die Lehrer und Lehrerinnen fragen sich, wie sie besser und effektiver die förderungswür-digen Schüler und Schülerinnen von denjenigen unterscheiden können, die das Ziel Abitur trotz umfänglicher Fördermaßnahmen nicht erreichen werden.“ (Bastian 2000: 111)

Offenkundig beabsichtigen die Lehrer eine genauere Ausdifferenzierung der Selekti-onsmechanismen. Dieses Zitat zeigt deutlich, dass das bestehende Gute bleiben soll, wie es ist, in seiner Adressierung aber differenzierter eingesetzt werden soll. Die Innovation zielt nicht auf eine Reform, sondern auf eine Fokussierung auf die „förde-rungswürdigen“ Schüler. Man will sich offenbar auf seine angestammte Klientel be-schränken. Wer prognostisch kein Abitur machen kann, soll auch nicht gefördert werden. Förderung ist wie eine Investition gebunden an den formalen Zweck inner-halb des Berechtigungswesens. Jenseits dessen besteht nicht die Absicht der Förde-rung. Die Kinder sind ihrer nicht würdig, weil sie prognostisch kein Abitur werden machen können. Die Wiederherstellung des Althergebrachten kann motiviert sein durch eine nostalgische Haltung gegenüber einer (tatsächlichen oder vermeintlichen) Tradition einer bestimmten Schulform. Diese Wiederherstellung der Tradition ver-weist entweder darauf, wie missverständlich das administrative Anliegen der

Schul-36 programmarbeit an die Schule herangetragen wurde. Oder sie ist Ausdruck einer nos-talgischen Umdeutung, damit man wieder zu der Klientel kommt, für die man sich seit ehedem als zuständig erachtet. Jedenfalls ist die Identifikation mit der eigenen Schulform so wirkmächtig, dass mit ihr jede pädagogische Handlungslogik negiert wird. Die Effizienzsteigerung ist insofern antipädagogisch, als dass zweckrational bestimmte Kinder für „förderungsunwürdig“ erklärt werden. Die Prognose unterstellt ein technokratisches Wissen darüber, welche Förderung bei welchem Kind in ausrei-chendem Maße verfangen wird, damit das erwünschte Resultat (Abitur) auch eintritt.

So wird das Kind Gegenstand einer Kalkulation. Es ist dann kein Subjekt eigener Bildsamkeit mehr. Die Identifizierung der Stammkundschaft und ihre Pflege durch Förderung ist Selektionismus. Denn Selektion ist dann nicht nur Funktion der Institu-tion Schule, sondern eine durch die Lehrer zusätzlich forcierte, die womöglich durch ihr eigenes Interesse motiviert ist, sich mit der Schulform zu identifizieren, an der man unterrichtet. Das Motiv der Schulprogrammarbeit wird so kongenial unterlaufen und in sein Gegenteil verkehrt: Es dient nicht der Reform, sondern der institutionel-len Restauration.

Die Identifizierung mit der je eigenen Schulform wird in einer breiter ange-legten quantitativen Studie bestätigt. Ditton (2001) befragte Lehrer in 178 bayrischen Schulen und fand dabei heraus, dass der Anteil derjenigen Lehrer, die ein spezifi-sches Schulprofil für wichtig erachten, von den Hauptschulen über die Realschulen zu den Gymnasien sinkt.

Obwohl also die Ausarbeitung eines Schulprogramms von administerieller Seite als ein flächendeckendes Instrumentarium bewertet wurde, mit dem die Ent-wicklung der Schulen unabhängig von der Schulform angestoßen werden sollte, wird mit Dittons Studie die These gestützt, dass schulformspezifische Differenzen im Umgang mit dem Instrumentarium zu erkennen sind. Ob diese Differenzen nun tat-sächlich auf unterschiedliche Einstellungen der Lehrer zurückzuführen sind, darüber ist in Dittons Studie nichts zu erfahren. Doch wie ist es zu erklären, dass Lehrer die Reformaufgabe antipädagogisch deuten, indem sie die Effizienz der Selektionsme-chanismen steigern? Um genauere Einblicke in die Handlungslogik von Lehrern zu gewinnen, sei hier nochmals auf Dammers Studie verwiesen.

37 Er bezeichnet in seiner bereits oben thematisierten Studie den hier dargestell-ten Zusammenhang mit den Begriffen „Institution versus Innovation?“. In einer der an dem Schulversuch beteiligten Schulen (vgl. Teil A, Kapitel 4.3) ging es um den Austausch von Lehrkräften zwischen zwei Schulen im Umfang von 2 bis 6 Wochen-stunden. Nach anfänglicher Kooperationsbereitschaft machte aber die Berufsschule einen Rückzieher und begründete diese Entscheidung mit dem Zweifel, Sekundarstu-fe-II-Lehrer seien didaktisch und methodisch für einen Unterricht in der Sekundar-stufe I nicht geeignet (vgl. Dammer 1997: 103). Dammer hält dem entgegen, auf-grund der Lehrerausbildung, der herrschenden Praxis und aufauf-grund der Erlasslage sei jeder Lehrer dazu fähig und verpflichtet, auch in anderen Schulformen zu unterrich-ten. Außerdem sei diese Argumentation nicht mit den anerkannten Professionalitäts-kriterien des Lehrerberufs vereinbar, in sich nicht schlüssig und daher auch nicht überzeugend. Man könne nicht die schulformgebundene Tätigkeit zum Professionali-tätsmerkmal erheben (a.a.O.: 111). Dammer kommt daher zu dem Ergebnis, dass diese Argumentation eine prekäre Identifikation mit der eigenen Schulform doku-mentiere, die dem ursprünglich anvisierten Reformprojekt entgegenstehe:

„Professionalität manifestierte sich somit für die Lehrer nicht in der Umsetzung als päda-gogisch sinnvoll angesehenes Ziel, sondern in der Befolgung schulformspezifischer Denk- und Verhaltensmuster. Zwar argumentierten sie vorwiegend unter Rückgriff auf Professio-nalitätskriterien, die Auslegung dieser Kriterien aber hing von der Identität der jeweiligen Schule ab oder umgekehrt: die Professionalität wurde von der Struktur des gegliederten Schulsystems überformt. Die Lehrer gewannen ihr Selbstverständnis primär aus der Ab-grenzung gegen andere Schulformen, die sie daran hinderte, im eingangs definierten Sinne professionell zu handeln.“ (Dammer 1997: 117)

Dammer stellt die Frage, wie dieses Verhalten zu erklären sei, wenn man auf eine moralisierende Verkürzung des Problems verzichten wolle. Er gelangt zu der These, dass es die Schulform selbst sei, die das Wahrnehmungsmuster der Lehrer präge.

Dieses Wahrnehmungsmuster sei wirkmächtig und handlungsleitend, so dass für einen Fortbestand der bestehenden institutionellen Struktur gesorgt werde:

„(…) denn wenn es stimmt, dass das Selbstverständnis der Lehrer hauptsächlich durch die Schulform, also von außen durch die Institution und nicht durch bewusst angeeignete und durchgesetzte Professionalisierungsvorstellungen geprägt war, konnten sie kaum anders handeln.“ Dammer 1997: 117)

Und vor diesem Hintergrund fragt Dammer weiter, worin die bewusstseins- und handlungsprägende Macht der Institution bestehe. In Anlehnung an Ber-ger/Luckmann geht er von der Annahme aus, dass es ein Funktionsmerkmal und im-manentes Interesse von Institutionen sei, für die Stabilität des je eigenen sozialen

38 Gefüges und damit für die Reproduktion ihrer institutionellen Grundlagen zu sorgen.

Diese Beharrungskräfte würden in der Institution Schule noch dadurch verstärkt, dass es für Reformansätze „von unten“ keine Anreize gebe. Und mit der Abgrenzung auch von artverwandten Systemen finde eben zugleich eine Stabilisierung innerhalb der eigenen Grenzen statt. So sei beispielsweise die Befürchtung der Berufsschule zu erklären, die mit einer Kooperation das Monopol der beruflichen Ausbildung und damit die institutionelle Eigenheit der Schulform verloren hätte (ebda.: 120). Das Selbstverständnis der Schule verselbständige sich gleichsam zum institutionellen, aber pädagogisch sinnleeren Selbstzweck und diene letztlich als Bollwerk gegen Re-formen. Konsequenter Weise finde das immanente Beharrungsvermögen der Institu-tion seine Entsprechung im Starrsinn des Personals:

„Die Widerstandkraft der Schulformen gegen die Veränderungen wurde durch das Verhal-ten der einzelnen Lehrer gestärkt, das man im Anschluß an Berger und Luckmann als insti-tutionell verursachte Verdinglichung des eigenen Rollenverständnisses interpretieren könn-te. Nach Berger und Luckmann kann die ‚institutionelle Ordnung […] als Ganzes wie in ihren Teilen verdinglicht aufgefasst werden’ und dazu führen, daß auch die institutionell handelnden Individuen ihre Rolle als eine verdinglichte auffassen, die ihnen in ihrer subjek-tiven Wahrnehmung keine anderen Handlungsmöglichkeiten als eben die von der Instituti-on vorgeschriebenen lässt.“ (Dammer 1997: 120)

Der Erhalt der institutionellen Ordnung aufgrund eines verdinglicht berufsidentifika-torischen Interesses ist offenbar der Grund für die Lehrer, auf die pädagogisch moti-vierte Reform zu verzichten. Mit Dammers Studie kann man demnach nicht nur die These bestätigen, Lehrer selbst hemmten oder verhinderten Reformen; man versteht mit dieser Studie die Handlungslogik, der Lehrer folgen, wenn sie sich gegen den eigenen pädagogischen Anspruch richten. Dammers Studie eröffnet also insofern eine andere Perspektive auf den Akteur Lehrer, als er nicht als ein bornierter Re-formverhinderer zu verstehen ist, sondern als ein rational Handelnder, der sein beruf-liches Identifikationsbedürfnis über die Reform stellt, ja stellen muss, damit jenes nicht dieses sabotiert. Insofern zeigt Dammers Studie – im Unterschied zu den zuvor hier referierten – eine aus der Sicht der Lehrer dilemmatische Interessenkonstellati-on, die sie zugunsten ihres berufsidentifikatorischen Interesses auflösen. Dies freilich um den Preis, dass sie ihre berufsethische Legitimation – als Pädagogen pädagogisch zu handeln – preisgeben.

In Ergänzung zu Dammers Studie ist auf jene von Lilian Fried (2002) hinzu-weisen, mit der die Krise des Berufsstands im Wechselspiel zwischen Akteur und

39 institutioneller Struktur hervorgehoben wird. Im Rahmen der Professionalisierungs-debatte und aus systemtheoretischer Perspektive suchte sie nach einer Erklärung für die Kluft zwischen wissenschaftlicher Theorie und schulischer Praxis von Schulre-formen. Von dieser Frage ausgehend führte sie eine Metastudie durch, in der sie eine Vielzahl empirischer Studien auswertete und zu dem Ergebnis gelangte, dass Lehrer deshalb der Reform von Schule entgegenstünden, weil sie die strukturfunktionale Widersprüchlichkeit nicht hinreichend reflektierten. Auf allen Gebieten schulischer Tätigkeit und der darin vermittelten Normen bestehe ein frappierendes Reflexionsde-fizit der Lehrer. Darin aber, so Fried, sei eine Grundvoraussetzung für jede Reform zu sehen. Stattdessen seien „Invisibilisierungsstrategien“ erkennbar. So werde bei-spielsweise der Widerspruch zwischen der Selektionsfunktion von Schule und ihrem Anspruch der Erziehung ausgeblendet:

„Man mag sich der Leistungsselektion zwar nicht grundsätzlich entziehen, aber man sieht sich auch nicht in der Lage, alle damit einhergehenden Konsequenzen zu verantworten.

Statt sich dem Problem in seiner ganzen Komplexität zu stellen, wird es zerlegt, wie z.B. in seine – gemessen an der Erziehungsfunktion – potentiell negativen und positiven Seiten. So kann man alles, was ‚negativ auslesende Effekte’ hat, ablehnen, ausblenden oder wenigs-tens von sich fern halten. Mit den ‚positiv auslesenden Effekten’ der Selektionsfunktion kann man sich dann leichter arrangieren, z.B. indem man sie als ‚Fördermaßnahme’ umde-finiert, was zweifellos eine Verfälschung oder zumindest Verkürzung möglicher Zusam-menhänge darstellt.“ (Fried 2002: 137)

Würden Lehrer, so Fried weiter, an die Grenzen der Reduktion der Komplexität ge-langen, so sei zu erkennen, dass dann die Ursachen für ausbleibende Reformen ex-ternalisiert würden. Lehrer verwiesen auf äußere Faktoren wie Ressourcenknappheit, eine überbordende Bürokratie etc. Fatal sei an diesem Verhalten zweierlei: Erstens, bestehende pädagogische Freiheiten würden aus dieser Perspektive nicht wahrge-nommen. Zweitens, die Lösung für aktuelle Probleme werde auf die Zukunft ver-schoben, wenn bessere Reformbedingungen herrschen, nämlich weniger Bürokratie und mehr Ressourcen. Die Folge: Lehrer seien in einer zirkulären Wahrnehmungs-struktur gefangen. Denn jene Hoffnung auf eine bessere Zukunft verhindere noch-mals den reflexiven Blick auf bereits bestehende Handlungsoptionen (vgl. Fried 2002: 173 f).

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