• Keine Ergebnisse gefunden

Historisch-politische Argumente

Teil II: Diskursanalyse

7. Argumentationsanalyse

7.3. PRO Taraškevica

7.3.4. Historisch-politische Argumente

184

‘Und es ist unmöglich, die Naša Niva in der Narkamaŭka zu lesen: diese pražskija und čėšskija [‘Prager’ und ‘tschechisch’ in der Narkamaŭka-Schreibung und im Pl.] zusammen mit Rasii und Minski [‘Russland’ und ‘Minsk’ in der Narkamaŭka-Schreibung und im Pl.]

zerreißen mir das Ohr. Geehrte Naša-Niver, habt Mitleid mit eurer Elite, die 2000 Leser ausmacht; strengt euch nicht für eine Millionenherde an – das alles ist ihr vollkommen egal!’

Eine gleichzeitige Abwertung der Fremdengruppe und Aufwertung der Eigengruppe findet man auch im Beispiel (7.55) im Abschnitt 7.2.3, indem die unvernünftige Mehrheit (Narkamaŭka-Benutzer) der vernünftigen Minderheit (Taraškevica-Sprecher) gegenüber-gestellt wird.

185

‘Während der 20-jährigen Existenz der nationalorientierten politischen Opposition hat die Taraškevica ihre Position als Symbol des Anti-Sowjetismus und der konsequenten Treue der nationalen Idee gestärkt.’

Die Taraškevica ist nicht nur anti-sowjetisch, sondern auch anti-russisch; sie stellt eine Schranke dar, die die belarussische Sprache vor der ‘östlichen Nachbarin’ schützt (Bsp.

(7.119)). Unter der ‘östlichen Nachbarin’ kann dabei sowohl die russische Sprache als auch Russland verstanden werden:

(7.117) Тарашкевіца – гэта тое, што лучыць “Нашу Ніву” з Купалам, Луцкевічамі й Вільняй, што сымбалізуе рамантычны нацыяналізм, тое, што ёсьць гранічна антысавецкім і немаскальскім. Тарашкевіца – гэта захаваньне магчымасьці для адраджэньня, хай сабе ілюзорнага.327 (22.09.2007)

‘Die Taraškevica ist das, was die Naša Niva mit Kupala, Luckevič und Vil’nja verbindet, das, was den romantischen Nationalismus symbolisiert und das, was im hohen Maße anti-sowjetisch und nicht-russisch ist. Die Taraškevica ist eine Bewahrung der Möglichkeit der Wiedergeburt, auch wenn das eine illusorische Wiedergeburt ist.’

(7.118) Тарашкевіца для мяне — сымбаль вызваленьня з рамак, створаных ня самымі разумнымі людзьмі ў ня самых здаровых умовах, сымбаль вяртаньня назад да чагось першаснага і правільнага. І так, гэта таксама сымбаль пэўнай фронды, пэўнага дэманстратыўнага пратэсту ня толькі супраць русіфікацыі і небеларускамоўнасьці як такой, але і супраць […] мёртвай савецкай беларушчыны […].328 (17.06.2013)

‘Die Taraškevica stellt für mich ein Symbol der Befreiung aus dem Rahmen, der durch nicht sonderlich kluge Leute in nicht sonderlich gesunden Umständen geschaffen wurde; ein Symbol der Rückkehr zu einem Etwas, was althergebracht und richtig ist. Und ja, sie ist ebenfalls ein Symbol bestimmter Grundlagen, eines demonstrativen Protests nicht nur gegen die Russifizierung und Nicht-Belarussischsprachigkeit an sich, sondern gegen das tote sowjetische Belarussische...’

(7.119) Ад расейскай мовы нас ніхто не адгародзіць Кітайскім мурам. Таму ў сёньняшніх умовах існаваньне "тарашкевіцы" ёсьць тым рубяжом, які найбольш надзейна бароніць нашую мову ад усходняе суседкі.329 (31.08.2007)

‘Vor der russischen Sprache wird keiner uns mit einer Chinesischen Mauer schützen.

Deswegen stellt die Existenz der Taraškevica unter den heutigen Umständen die Sperrlinie dar, die unsere Sprache am sichersten vor der östlichen Nachbarin schützt.’

Im Beispiel (7.117) wird das abwertende Adjektiv nemaskal’ski / немаскальскі ‘nicht-russisch’

verwendet, das vom Substantiv maskal’ / маскаль ‘Russe’ abgeleitet wird. Zugleich wird der Begriff ‘Nationalismus’ aufgewertet, indem er im Kontext positiv-konnotierter Wörter wie

‘romantisch’, ‘Wiedergeburt’ verwendet wird. Das abwertende Adjektiv in Bezug auf das Russische weist Züge des Sprachnationalismus auf; dieser wird von Gardt (1999) vom Sprachpatriotismus unterschieden (s. Abschnitt 1.2.3). Einen weiteren Beleg für Sprachnationalismus im Gardt’schen Sinne (1999) bildet das Beispiel (7.120), in dem Russland als ‘vulgäres, grobes, wildes’ Land dargestellt wird. Dabei erfolgt eine Übereinanderblendung des Sprachlichen und des Anthropologischen bzw. des Sozialen: Dem ‘vulgären, groben, wilden’ Russland wird die ‘wohlklingende’ und ‘zarte’ belarussische Sprache gegenübergestellt:

327 kaciarynka https://nasaniva.livejournal.com/10887.html (12.02.2019).

328 Алесь Чайчыц https://nn.by/?c=ar&i=111306#startcomments (03.03.2020).

329 arshanski https://nasaniva.livejournal.com/7110.html (02.03.2020).

186

(7.120) […] Гэтыя тры мовы найбліжэйшыя да нашай роднай беларускай […], а што да мяне, дык хай будзе гарбата, можа й польскае слова, абы ня рускае, нічога расейскага ў жыцці сваім не хачу, бо расея - краіна , па руску скажу - вульгарная, дікая і грубая. А наша беларуская мова як салавейка пявучая ды пяшчотная.330 (18.11.2013)

‘…Diese drei Sprachen [Ukrainisch, Polnisch, Tschechisch] stehen am nächsten zu unseren belarussischen Muttersprache… was mich betrifft, dann lasst es harbata [T: ‘Tee’] sein, vielleicht ist das ein polnisches Wort, Hauptsache – nicht russisches, ich will nichts Russisches in meinem Leben [haben], weil Russland (ich sage das auf Russisch) ein vulgäres, wildes und grobes Land ist. Und unsere belarussische Sprache ist wie eine Nachtigall wohlklingend und zart.’

In Bezug auf die oben dargestellten Beispiele kann man vom ‘Topos des Anti-Sowjetischen / Anti-Russischen’ sprechen: ‘Weil die Sprachvarietät X anti-sowjetisch / anti-russisch ist, sollte sie gewählt werden’.

Die ‘belarussische Nationalidee’ stellt ein weiteres zentrales Argument für die Taraškevica dar (s. Bsp. (7.116) und (7.117)), sie geht oft mit der Idee des Sowjetischen und Anti-Russischen einher. Dabei wird die Taraškevica zugleich als die ‘Form und das Wesen des Belarussischseins’, als eine bestimmte Art und Weise der Existenz in der Welt angesehen:

(7.121) "Тарашкевіца" -- кроў і соль беларускасьці.331 (09.12.2008)

‘Die Taraškevica ist Blut und Salz [= das Wesen] des Belarussischtums.’

(7.122) У большасьці беларусаў алергія не на мяккі знак, але на беларускасьць як форму і сутнасьць існаваньня ў гэтым сьвеце. Алергія на мяккі знак ці, больш агульна, на клясычны правапіс — гэта толькі сымптом, а не прычына немачы.332 (08.12.2008)

‘Die Mehrheit der Belarussen ist nicht gegen das Weichheitszeichen allergisch, sondern gegen das Belarussischtum als Form und Wesen der Existenz auf dieser Welt. Die Allergie gegen das Weichheitszeichen oder allgemeiner: gegen die Taraškevica ist ein Symptom und nicht die Ursache der Krankheit.’

In diesem Zusammenhang kann man von dem ‘Topos des Nationalen / Belarussischen’

sprechen, der folgenderweise formuliert werden kann: ‘Weil die Sprachvarietät X das Nationale / Belarussische repräsentiert, sollte sie gewählt werden’.

Da Lukašėnka die Politik der ‘Belarussifizierung’, die nach dem Zerfall der Sowjetunion begonnen wurde, durch das Referendum von 1995 (nach dem das Russische als zweite Staatssprache eingeführt wurde und die Staatssymbole ersetzt wurden) einstellte, gilt er und seine Regierung in nationalkonservativen Kreisen als ‘anti-belarussisch’ und ‘anti-national’

(vgl. Kapitel 2). Aus diesem Grund hat sich die Taraškevica auch zum Zeichen der Nicht-Akzeptanz der Politik von Lukašėnka, zu einem Zeichen der Opposition entwickelt:

(7.123) […] «ь» у клясычным правапісе — гэта яшчэ й свайго роду сьцяг, знак нязгоды з афіцыйшчынай, разбурэньнем беларускай культуры і мовы.333 (29.08.2007)

‘… ‘ь’ [Weichheitszeichen] in der klassischen Rechtschreibung ist eine Art Fahne, ein Zeichen des Nicht-Einverständnisses mit dem Offiziellen, mit der Zerstörung der belarussischen Kultur und Sprache.’

330 заходні беларус https://m.nn.by/articles/117758/comments/page/2/ (02.03.2020).

331 Эколяг https://www.svaboda.org/a/1357257.html (28.02.2019).

332 Ja. Maksimjuk https://www.svaboda.org/a/1357257.html (22.02.2019).

333 V. Taras https://m.nn.by/articles/11136/ (22.02.2019).

187

In Bezug auf die außenpolitische Ausrichtung wird die ‘offizielle’ Narkamaŭka entsprechend als ‘pro-russische Variante’ gewertet (s. Unterkapitel 8.1), während die Taraškevica als

‘pro-westliche’ Variante bzw. die Variante, die für die ‘westlichen Werte’ steht, fungiert. Diese Teilung wird zugleich auf die Gesellschaft projiziert:

(7.124) Існаваньне прарасейскага варыянту — “наркамаўкі” і “тарашкевіцы”, арыентаванай на заходнія каштоўнасьці, адлюстроўвае сёньняшні падзел у грамадзтве.334 (25.10.2007)

‘Die Existenz der prorussischen Variante – der Narkamaŭka und der Taraškevica, die sich an den westlichen Werten orientiert, spiegelt die heutige Teilung der Gesellschaft.’

Als Träger der ‘westlichen Werte’ wird vor allem Europa gesehen. Die Taraškevica ist demnach eine sprachliche Varietät, die eine Zukunft in der ‘Familie der entwickelten europäischen Sprachen’ hat:

(7.125) Тарашкевіцаю размаўляюць людзі, для якіх беларуская мова — ня мова зь дзевяці ранку да шасьці вечара, гэта іх родная мова, якой яны ганарацца і за якую гатовы змагацца. У такога правапісу ёсьць будучыня й ёсьць пэрспэктывы не ў падручніках па гісторыі мовазнаўства, а ў сям’і разьвітых эўрапейскіх моў. Таму мой голас — за тарашкевіцу.335 (07.01.2005)

‘Die Taraškevica wird von Menschen gesprochen, die die belarussische Sprache nicht bloß von 9 Uhr morgens bis 18 Uhr abends [= Arbeitstag] verwenden; das ist ihre Muttersprache, auf die sie stolz sind und um die sie zu kämpfen bereit sind. Solch eine Rechtschreibung hat eine Zukunft und Perspektive nicht in den Lehrbüchern zur Sprachgeschichte, sondern in der Familie der entwickelten europäischen Sprachen. Deswegen gehört meine Stimme der Taraškevica.’

Der solchen Argumentationen zu Grunde liegende ‘Topos des Europäischtums’ wird wie folgt formuliert: ‘Weil die Sprachvarietät X die europäischen Werte repräsentiert, sollte sie gewählt werden’. Bei der Opposition zwischen Taraškevica und Narkamaŭka handelt es sich auch darum, welche der zwei Orientierungen – die ‘pro-westliche’ oder die ‘pro-russische’ – in der Sprache festgehalten wird (z.B. durch die Wiedergabe der Internationalismen / Europäismen nach ‘europäischem’ bzw. ‘russischem’ Muster). Durch die Schreibung der Fremdwörter kann man bestimmte Einstellungen (wie z.B. Anerkennung, Begeisterung oder Distanzierung) gegenüber der fremden Kultur ausdrücken (s. Abschnitt 1.2.2). Dies gilt auch für das Bestreben der Taraškevica-Anhänger, sich bei der Wiedergabe der Internationalismen / Europäismen nach der Originalsprache zu richten: Anerkennung und Begeisterung scheinen auch hier eine Rolle zu spielen. Nach diesem Prinzip richtete sich auch Taraškevič, indem er das Akanne auf die Fremdwörter nicht anwandte (s. Fn. 46). Für die gegenwärtige Taraškevica scheint in diesem Zusammenhang ein weiterer Aspekt von Bedeutung zu sein: Indem man sich bei der Integration der Europäismen in der Taraškevica ‘nach der Originalsprache’ richtet, symbolisiert man direkte Kontakte zwischen den Vorfahren der Belarussen und den ‘Europäern’ und somit Teilhabe an dem Europäischtum. Die sprachlichen Ausprägungen der beiden Orientierungen können ihrerseits später entsprechende Grundlagen für die Konstruktion der Geschichte und der Identität bieten. Davon, dass diese diskursiv-konstruktivistischen Aspekte den Taraškevica-Anhängern bewusst sind, zeugt der folgende Beleg:

334 Z. Saŭka http://www.zautra.by/art.php?sn_nid=105 (14.02.2019).

335 V. Kaljada https://nn.by/?c=ar&i=99270 (28.02.2019).

188

(7.126) Лепш за ўсіх пра істотную розьніцу паміж наркамаўкай і тарашкевіцай раней у абмеркаваньнях растлумачыў Radykal. А менавіта сэнс у тым, ці мы пагаджаемся, што заходнія словы (Бэрлін) да нас прыйшлі з Захаду, ці мы іх атрымалі праз усход (Берлін) - г.зн. з Масквы... Вось і розьніца ў сьветаўспрыманьні праз правапіс істотная.336 (04.12.2008)

‘Am besten hat Radykal [einer der Diskursteilnehmer] den wesentlichen Unterschied zwischen der Narkamaŭka und der Taraškevica in den vorherigen Diskussionen erklärt. Der Sinn besteht darin, ob wir uns damit einverstanden erklären, dass die westlichen Wörter (Bėrlin [T: ‘Berlin’]) zu uns aus dem Westen gekommen sind; oder wir haben sie durch die Vermittlung des Ostens, d.h. aus Moskau (Berlin [N: ‘Berlin’]), erhalten… Der Unterschied zwischen den [zwei] Weltwahrnehmungen, die durch die Schreibung vermittelt werden, ist somit wesentlich.’

Mit dem Ausdruck ci my pahadžaemsja / ці мы пагаджаемся ‘ob wir uns damit einverstanden erklären’ macht der Sprecher deutlich, dass mit der Übernahme bzw. Akzeptanz einer bestimmten Schreibweise eine neue Konventionsbasis für die Deutung der (Sprach-)Geschichte und Gruppenidentität erzeugt wird (s. auch Bsp. (7.60)),in dem behauptet wird, dass die Reform von 1933 die Spuren der historischen Verbindung der Belarussen mit der Geschichte des Landes vernichtet habe). Die Idee des Sprachdenkens ist im Beispiel (7.126) ebenfalls präsent:

So werden durch unterschiedliche Sprachformen verschiedene Ansichten auf die Geschichte und historischen (Sprach-)Kontakte von Belarus vermittelt.