4 Analyse prioritärer sektoraler Handlungsfelder des Ressourcenkonsums im
4.5 Lebensmittel- und Getränkeversorgung
4.5.1 Hintergrund und Kontext
Die Lebensmittel- und Getränkeversorgung ist in der quantitativen Analyse (Kap. 2.1.3 "Ergebnisse") als wesentlicher Treiber des Ressourcenkonsums im Gesundheitssektor identifiziert worden: ihr Res-sourcenkonsum belief sich im Jahr 2016 auf 28,5 Mio. t, das ist ein Anteil von 26,6 % am gesamten Ressourcenkonsum des Gesundheitssektors (Abbildung 4). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der
127 Ressourcenkonsum des Gesundheitssektors bei Lebensmitteln und Getränken nicht nur auf dem Kon-sum dieser Produkte selbst beruht - und damit direkt durch Einrichtungen des Gesundheitssektors selbst durch Konsum geringerer Mengen beeinflusst werden könnte. Vielmehr beinhaltet er auch die-jenigen Ressourcen, die für Anbau, Ernte, Verarbeitung, Transport, Lagerung und Handel eben dieser Lebensmittel und Getränke eingesetzt werden. Die letztgenannten Ressourcen werden somit vor allem auf Stufen konsumiert, die außerhalb des Gesundheitssystems liegen (Abbildung 29). Dieser Anteil des Ressourcenkonsums kann durch den Gesundheitssektor meist nur durch Beschaffung von ressourcen-schonend hergestellten Produkten, d. h. durch veränderte Zusammensetzung der beschafften Lebens-mittel und Getränke, beeinflusst werden.
Aus Kostensicht erscheint die Lebensmittel- und Getränkeversorgung im Gesundheitssektor ebenfalls relevant, da die Ausgabenkategorie "Unterkunft und Verpflegung" mit über 27 Mrd. Euro an vierter Stelle der Gesundheitsausgaben steht (Kap. 2.2 "Analyse monetärer Gesundheitskosten und Vergleich mit Rohstoffdaten", Abbildung 11). Eine Aufschlüsselung, welcher Anteil davon auf Verpflegung, wel-cher auf Unterkunft entfällt, ist allein auf Basis der statistischen Daten nicht möglich, so dass zunächst nicht abgeschätzt werden kann, inwieweit sich im Gesundheitssektor durch eine Verringerung des Ressourcenkonsums bei Lebensmitteln und Getränken auch Kosteneinsparungen ergeben könnten.
Die Lebensmittel- und Getränkeversorgung im Gesundheitssektor ist vor allem in stationären Einrich-tungen, d. h. in Krankenhäusern, Rehabilitationseinrichtungen und Heimen als Gemeinschaftsverpfle-gung von Belang. Sie umfasst beispielsweise die StationsverpfleGemeinschaftsverpfle-gung von Patientinnen und Patienten, aber auch von Besuchenden, z. B. in Cafeterien, sowie die Verköstigung des Personals der Einrichtung, z. B. in der Betriebskantine. Diese Verpflegungsleistungen können durch die stationäre Gesundheits-einrichtung selbst erbracht werden, oder aber durch externe Dienstleister. Auch Menübringdienste für die Lebensmittelversorgung beispielsweise von pflegebedürftigen Menschen in häuslicher Umgebung ("Essen auf Rädern") zählen dazu. In Deutschland gab es im Jahr 2017 mehr als 17.500 stationäre Ein-richtungen im Gesundheitssektor, in denen Gemeinschaftsverpflegung angeboten wurde (Tabelle 5).
Tabelle 5: Anzahl der stationären Einrichtungen mit Verpflegungsangebot im Gesundheitssektor in Deutschland im Jahr 2017
Art der Einrichtung Anzahl Belegungs-/Berechnungstage
bzw. belegbare Plätze*
Krankenhäuser 1.942 141.151.861
Vorsorge-und Rehabilitations-einrichtungen
1.142 50.097.686
Pflegeheime 14.480 952.367*
Quelle: Gesundheitsberichterstattung des Bundes, www.gbe-bund.de; abgerufen am 13.3.2020
Die Lebensmittel- und Getränkeversorgung im Gesundheitssektor ist Teil der wirtschaftlich bedeuten-den Außer-Haus-Verpflegung: Für die Ernährungsindustrie stellt sie bedeuten-den zweitwichtigsten Absatzkanal nach dem Lebensmitteleinzelhandel dar. Nach Angaben des Bundesverbandes der Ernährungsindust-rie belief sich der Umsatz im Außer-Haus-Markt im Jahr 2018 auf insgesamt 80,6 Mrd. € (BVE (2019);
es liegen jedoch keine Angaben vor, welcher Anteil davon auf Verpflegungseinrichtungen des Ge-sundheitssektors entfällt.
Abbildung 38 stellt die Gliederung der Außer-Haus-Verpflegung in die drei Segmente "Individualgast-ronomie", "Gemeinschaftsgastronomie" und "sonstige Lebensmitteldienstleistungen" dar. Die Gemein-schaftsgastronomie wird in Betriebsverpflegung, Gemeinschaftsverpflegung des Gesundheitssektors, Verpflegung in Bildungseinrichtungen sowie in anderen Einrichtungen (z. B. Bundeswehr, Justizvoll-zugsanstalten) unterteilt.
128 Abbildung 38: Segmente des Außer-Haus-Verpflegungsmarktes
Quelle: Göbel et al. (2017), S. 9
In Abbildung 38 sind beispielhaft typische Verpflegungsanbieter in den jeweiligen Segmenten genannt.
Das Spektrum reicht vom Top-Restaurant in der Individualgastronomie über Betriebskantinen in der Gemeinschaftsverpflegung bis hin zum Snack aus dem Automaten bei den sonstigen Lebensmittel-dienstleistungen und illustriert die Heterogenität des Außer-Haus-Verpflegungsmarktes. Es gibt aber segmentübergreifend einheitliche Kontextfaktoren, die die Lebensmittel- und Getränkeversorgung in Organisationen beeinflussen (Abbildung 39): die unternehmerischen Entscheidungen in der jeweiligen Organisation werden in Abhängigkeit von den Rahmenbedingungen gestaltet, die in der internationa-len und nationainternationa-len Politik gesetzt werden, in Abhängigkeit von der jeweiligen Einbindung in Liefer- und Wertschöpfungsketten, der organisationsspezifischen Marktnachfrage sowie von sozio-kulturel-len Aspekten der Ernährung.
Aufgrund der Heterogenität des Außer-Haus-Verpflegungsmarktes und der unternehmens- bzw. orga-nisationsspezifischen Ausprägung der Kontextfaktoren erscheint es plausibel, dass Maßnahmen zum effizienteren Einsatz des lebensmittelbedingten Ressourcenkonsums für die jeweiligen Segmente der Außer-Haus-Verpflegung spezifisch adaptiert sein und für unterschiedliche Unternehmen bzw. Organi-sationen spezifisch ausgestaltet sein müssen.
129 Abbildung 39: Kontextfaktoren, die die Lebensmittelversorgung in Organisationen beeinflussen
Quelle: Goggins (2018) (eigene Übersetzung)
Einrichtungen der Gemeinschaftsverpflegung im Gesundheitssektor zeichnen sich durch folgende Cha-rakteristika und Spezifika aus:
► Die Verpflegung von Patientinnen und Patienten, Bewohnerinnen und Bewohnern sowie von Beschäftigten ist in diesen Einrichtungen i. d. R. eine "Sekundärleistung", die aus der Primär-funktion der Einrichtung (behandeln, rehabilitieren, pflegen) abgeleitet ist. Im Gegensatz zur Individualgastronomie, die ihr Speisenangebot auf Individuen und individuelle Präferenzen ausrichtet, orientiert sich das Speisenangebot der Gemeinschaftsverpflegung im Gesund-heitssektor auf Gruppen bzw. typisierte Einzelpersonen (Göbel et al. 2017, S. 8).
► Aus der "Sekundärleistung" erklärt sich auch, dass Betriebe der Gemeinschaftsgastronomie häufig wohlfahrtsorientiert wirtschaften. D. h., sie befriedigen die Bedarfe und Bedürfnisse der zu Verpflegenden und erzielen ein i. d. R. auf Kostendeckung, nicht aber Gewinn ausgerichtetes Einkommen (Göbel et al. 2017, S. 18).
► In Krankenhäusern beliefen sich die Kosten pro Beköstigungstag, d. h. für die Vollverpflegung einer Person, im Jahr 2019 im Mittel auf 14,02 €, wovon 12,78 € auf Lebensmittel- und Perso-nalkosten entfielen. Die PersoPerso-nalkosten beliefen sich auf 7,64 €, die Lebensmittelkosten auf 5,14 €. Preisbereinigt sind die Kosten im Zeitraum 2006-2019 um über 9 % pro Beköstigungs-tag gesunken, was die ökonomische Effizienzsteigerung der Verpflegungssysteme zeigt (Lehmann et al. 2020). Das Budget, das den Küchenleitungen pro Beköstigungstag zur Verfü-gung steht, unterscheidet sich nach Art der Einrichtung. Generell gilt: je längerfristig derselbe Kundenkreis verköstigt wird, umso eher haben die Aspekte der Nachhaltigkeit und der Ver-meidung von Lebensmittelverschwendung einen höheren Stellenwert. Die Reihung ergibt sich entsprechend von geringem zu hohen Stellenwert so: Akutkliniken, Schulen, Kurkliniken und Seniorenheime, Krankenhäuser mit hohem Anteil an Privatpatientinnen und -patienten, z. B.
plastische Chirurgie (hier teilweise Hotelstandard).
Internationale und nationale Politik
• Handelsabkommen, staatliche Subventionen, etc.
• Ernährungsempfehlungen, Ernährungs- und Agrarpolitiken
• Lebensmittelgesetzgebung (z. B.
Gesundheits- und Sicherheitsbestimmungen)
• Umweltstandards (z. B.
ISO 14000)
Konsum
• Kundennachfrage
(z. B. nach tierischen Produkten)
• Gesellschaftliche Normen (z. B.
Einstellungen, Erwartungen)
• Kulturelle Aspekte
(z. B. Überzeugungen, Werte)
• Zahlungsbereitschaft
• Ausmaß des Engagements
• Bewusstsein und Kenntnisstand zu nachhaltigen Lebensmitteln Produktion & Handel
• Art der Produkte
• Produktionsmaßstab
• Art der Produktion (z. B. ökolog-ische vs. konventionelle Landwirtschaft)
• Ethische Aspekte (z. B. fair gehandelt)
• Entfernung von den Märkten (z. B. lokal vs. global)
• Handels- und Liefernetzwerke (z. B.
Direktvermark-tung/internationaler Handel)
Organisation der Lebens-mittelversorgung
• Entscheidungsträger
• Organisationskultur
• Verfügbare Infrastruktur und Ressourcen
• Catering-Verträge und Dienstleister (z. B. im eigenen Unternehmen/extern zugekauft)
• Kenntnisstand zu Nachhaltigkeit
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► Zu Kosteneinsparungen pro Beköstigungstag trugen in den letzten Jahren zahlreiche Trends bei, darunter ein Trend zu einem höheren Anteil gering qualifizierten Personals sowie ein Trend zu einem höheren Anteil von Convenienceprodukten, durch die i. d. R. Arbeitsschritte vereinfacht, beschleunigt und qualifiziertes Personal eingespart werden kann (Göbel et al.
2017, S. 16). Auch Trends zur Realisierung von Skaleneffekten und einer besseren Auslastung der Kapazitäten, indem zusätzlich andere Einrichtungen mit Essen beliefert werden, sowie ei-ner Änderung des Produktionssystems für die Speisenzubereitung trugen zur Kostensenkung bei (Lehmann et al. 2020).
► Die Qualität des Essens beeinflusst maßgeblich das Urteil von Patientinnen und Patienten über die Zufriedenheit mit dem Krankenhausaufenthalt insgesamt (Eiff 2012) und kann daher zur guten Positionierung einer stationären Einrichtung im Wettbewerb sowohl um Patientinnen und Patienten, um zu Pflegende als auch um Fachpersonal einen wesentlichen Beitrag leisten.
► Ernährungsexpertinnen und -experten bemängeln (Anonym 2018), dass die Verpflegung in Einrichtungen des Gesundheitssektors häufig nicht die Qualitätsstandards erfüllten, die die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE)70 für die Verpflegung in Krankenhäusern, Rehabili-tationskliniken, stationären Senioreneinrichtungen und Essen auf Rädern entwickelt hat (siehe z. B. DGE 2014).
Innerhalb des Gesundheitssektors liegen durch Befragungen der K & P Consulting GmbH und des Deutschen Krankenhausinstituts, die seit 2006 im 3-4-jährlichem Abstand durchgeführt werden, de-tailliertere Informationen und Zeitreihen über die Verpflegung in Krankenhäusern vor. Im Folgenden werden Ergebnisse der Befragung 2019 vorgestellt, an der sich 378 Krankenhäuser mit mehr als 80 Betten beteiligt hatten (Lehmann et al. 2020):
► Ergänzend zur Patientenverpflegung bieten ca. 80 % der teilnehmenden Krankenhäuser zu-sätzlich eine Cafeteria, 51 % außerdem eine separate Cafeteria bzw. Kantine für Beschäftigte an.
► Bei der Bewirtschaftungsform gibt es seit Jahren einen Trend dahingehend, die Krankenhaus-küchen seltener in Eigenregie zu bewirtschaften (2019: 53 %), sondern sie als eine eigene Ser-vice-GmbH ohne (31 %) oder mit Beteiligung Dritter (2 %) zu betreiben, einen Dienstleister mit Vollcatering zu beauftragen (9 %) oder die Küche in Eigenregie, aber mit externem Ma-nagementvertrag zu führen (4 %).
► Die meisten Krankenhäuser arbeiten im klassischen Cook-and-Serve-Verfahren71 (65 %). Aller-dings zeigt sich ein deutlicher Trend, auf andere Verpflegungs- und Produktionssysteme umzu-steigen: Zum einen werden die klassischen Küchenleistungen auf externe Zulieferer verlagert, zum anderen werden bestehende Küchen in ihrer Leistung vergrößert, um zusätzlich andere Einrichtungen (z. B. andere Kliniken, Kindergärten, Schulen, Pflegeeinrichtungen, Essen auf Rä-dern, externe Betriebe) mit Essen zu beliefern. Durch die Versorgung Dritter können Produkti-onskapazitäten ausgelastet, höhere Erlöse erzielt und die Küche wirtschaftlich betrieben wer-den. Diese Zentralisierung der Speisenzubereitung sowie die Schließung kleinerer Kranken-häuser spiegelt sich im Anstieg der Beköstigungstage pro Küche wider: Die Versorgungsleis-tung der Küchen belief sich 2019 im Median auf 285 Beköstigungstage je Krankenhausküche, was einen Anstieg um ca. 26 % seit 2005 (226 Beköstigungstage) bedeutet. Zum anderen geht dies mit einem Wandel bei den Produktionssystemen einher.
70 Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. ist eine wissenschaftliche Fachgesellschaft, Sie verfolgt die Ziele, ernäh-rungswissenschaftliche Forschung zu fördern, auszuwerten und zu veröffentlichen sowie Ernährungsberatung und -auf-klärung im Dienste der Gesundheit der Bevölkerung zu erbringen. https://www.dge.de/.
71 Warmverpflegung, bei der die Speisen nach der Zubereitung sofort serviert oder bis zum Verzehr warmgehalten werden.
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► Produktionssysteme, die gegenüber dem klassischen Cook-and-Serve bzw. Cook-and-Hold-Verfahren an Bedeutung gewinnen, sind sog. entkoppelte Produktionssysteme, bei denen das Kochen der Speisen und ihre Ausgabe zum Verzehr zeitlich und räumlich auseinanderfallen können, da die Speisen gekühlt bzw. gefroren werden (Kreutz 2012;Tabelle 8). Hierzu zählen z. B. Cook and Freeze (Tiefkühlkost), Cook and Chill72 sowie die Cook and Chill-Variante Sous vide. Entkoppelte Produktionssysteme ziehen zunehmend in die Krankenhausverpflegung ein.
2019 belief sich der Anteil von Cook-and-Serve in den befragten Krankenhäusern auf 65 %, von Cook-and-Chill (Eigenproduktion) auf 16 %, Cook-and-Chill (Fremdproduktion) auf 7 %, Cook-and-Freeze auf 6 %, Sous vide und sonstige Produktionssysteme auf 5 %.
► Befragt danach, wie wichtig zukünftig folgende Aspekte seien, wurden Hygiene sowie die Ser-vicequalität als sehr wichtig eingeschätzt. Ökologische Verantwortung, zu der wohl auch der Ressourcenkonsum zu zählen sein dürfte, wurde etwa gleichauf mit Fachkräftemangel und In-vestitionsstau von den Befragungsteilnehmenden als "wichtig" angegeben (Tabelle 6).
Tabelle 6: Antwort auf die Frage "Wie wichtig sind zukünftig folgende Aspekte?" in der Care-Studie Verpflegungsdienstleistungen im Krankenhaus 2019
Item Mittelwert (4 = sehr wichtig, 3 = wichtig, 2 =
we-niger wichtig, 1 = unwichtig)
Hygiene 3,7
Servicequalität 3,6
Qualitätssicherung 3,5
Fachkräftemangel 3,3
Ökologische Verantwortung 3,1
Investitionsstau 3,0
Quelle: Lehmann et al. (2020)
4.5.2 Ansatzpunkte für die Verringerung des Ressourcenkonsums in der