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4.1 Einführung: Marie Luise Kaschnitz’ Lyrik und Poetologie nach 1945

4.2.4 Neue Gedichte (1957)

Der 1957 wieder im Claassen-Verlag publizierte Band Neue Gedichte versammelt Texte aus dem vergleichsweise langen Zeitraum der Jahre 1951 bis 1957. Große Teile davon wurden zwischen 1951 und 1957 wiederum in Zeitschriften vorab gedruckt.622 Er enthält unter anderem die Zyklen

„Tutzinger Gedichtkreis“ und „Jahreszeiten im Breisgau“, außerdem einige der bekanntesten Gedichte von Marie Luise Kaschnitz wie „Hiroshima“ und „Genazzano“ und ist insgesamt der heterogenste der hier untersuchten Gedichtbände.623 Die Binnenteilung in auch thematisch sehr verschiedene Zyklen unterstreicht diesen Eindruck der Heterogenität.624 Einen großen Teil bilden beispielsweise Gedichte über italienische Orte und Landschaften, die größtenteils unter dem Zyklus

„Sizilischer Herbst“ versammelt sind. Hinzu kommen Texte, die Zeitgeschehen thematisieren wie die oben genannten Zyklen „Tutzinger Gedichtkreis“ und „Jahreszeiten im Breisgau“, aber auch

617 Vgl. hierzu etwas ausführlicher Strack-Richter: Öffentliches und privates Engagement, S. 184 und im Einzelnen auch Østbø: Wirklichkeit als Herausforderung, S. 32f.

618 Vgl. den Kommentarteil in KW V, 759.

619 Von 1925 bis 1932 war Guido Kaschnitz von Weinberg Assistent am Deutschen Archäologischen Institut in Rom, wohin Marie Luise Kaschnitz ihm folgte. Von 1952 bis 1956 hatte die Familie ebenfalls den Wohnsitz in Rom.

Darüber hinaus verbrachte Kaschnitz zahlreiche längere Aufenthalte in der Stadt und starb 1974 dort. Vgl. von Gersdorff: Marie Luise Kaschnitz, S. 52f., 201 und 333-335.

620 Vgl. auch Foot: Phenomenon of Speechlessness, S. 37.

621 Vgl. insbesondere zum Rhythmus Strack-Richter: Öffentliches und privates Engagement, S. 185.

622 Vgl. den Kommentarteil in KW V, 759.

623 Uwe Schweikert führt den „Tutzinger Gedichtkreis“ und „Hiroshima“ als Beispiele für eine „Zuwendung zur Wirklichkeit der Menschen“ in Kaschnitz’ Schreiben an, denn für ihn überwiegt in den frühen Nachkriegszyklen aus Gedichte zur Zeit die „poetisch verklärte Vision der Restauration“. Schweikert: „Das eingekreiste Ich“, S. 65. Foot bezeichnet Neue Gedichte konkreter als Wendepunkt in Kaschnitz’ Entwicklung hin zu einem kritischeren Blick auf die Realität. Vgl. Foot: Phenomenon of Speechlessness, S. 38f.

624 Vgl. hierzu auch Pulver: Marie Luise Kaschnitz, S. 66.

Gedichte aus dem Zyklus „Aus dem Tambourin hat er gegessen“. Daneben steht der Zyklus

„Donauwellen 1956“ mit den wiederum mehrteiligen Gedichten „Spitalshof“, „Castellezlandschaft“

und „Stadtrundfahrt“. Er ist – wie schon die Gedichttitel nahelegen – bereits stark durch das Erleben um die Diagnose und Behandlung der Krankheit von Kaschnitz von Weinberg geprägt.625 Thematisch dominieren Vergänglichkeit und Tod, Vereinzelung und Verlust die Gedichte. Sie stellen somit eine Überleitung zum Gedichtband Dein Schweigen – meine Stimme dar.

Formal überwiegen weiterhin lange Gedichte und Gedichtzyklen, häufiger als in den letzten Gedichtbänden gibt es jedoch auch Gedichte mit nur um die 20 Versen – im Zyklus „Sizilischer Herbst“ beispielsweise – und Gedichte mit auffällig kurzen Versen von nur ein bis drei Worten. Die Texte wirken insgesamt deutlich verknappter und auch was die Bildlichkeit angeht nüchterner als in den letzten Gedichtbänden, bleiben in der Regel ungereimt und strophisch nicht streng geordnet.626

4.2.5 Dein Schweigen – meine Stimme. Gedichte 1958–1961 (1962)

Nach einer erneuten Pause von fünf Jahren erscheint 1962 bei Claassen der Gedichtband Dein Schweigen – meine Stimme. Gedichte 1958–1961. Er ist in enger Verbindung zum Tod von Kaschnitz’

Ehemann im Jahr 1958 zu sehen. In einem Großteil der Gedichte dieses Bandes steht der Verlust eines geliebten Gegenübers im Mittelpunkt.627 Das heißt nicht, dass anhand der Gedichte oder einer Entwicklung innerhalb des Gedichtbandes auf einen psychologischen Entwicklungsprozess der Dichterin selbst geschlossen werden sollte. Wie auch in anderen Gedichten kann davon ausgegangen werden, dass persönliches Erleben der Dichterin in der Form eingeflossen ist, dass sie versucht hat, anstelle des nur persönlichen und vielleicht auch nur persönlich verständlichen Erlebens das Allgemeingültige an der eigenen Situation darzustellen.628

Für die vorliegende Untersuchung ist Dein Schweigen – meine Stimme insofern von großer Bedeutung, als hier mit einer besonderen Relevanz der Darstellung von Trauer zu rechnen ist. Die für den letzten Gedichtband genannten formalen Entwicklungen setzen sich fort. Im Einzelnen sind die Texte kürzer, mehrteilige Gedichte wie in den vorherigen Bänden gibt es kaum noch. Strack zufolge werden die Verse „knapper und spröder“ und näherten „sich einer nüchternen Kunstprosa an“.629 Was die formale Gestaltung angeht, ist diesem Urteil erst einmal zuzustimmen. Hinsichtlich

625 Die Diagnose Hirntumor wurde im Herbst 1956 in Wien gestellt, wo in den Folgemonaten erste Behandlungen vorgenommen wurden. Marie Luise Kaschnitz lebte in dieser Zeit in einem Zimmer in der Castellezgasse. Vgl. von Gersdorff: Marie Luise Kaschnitz, S. 233-237.

626 Zur Verknappung der Gedichte vgl. auch Pulver: Marie Luise Kaschnitz, S. 70; Strack-Richter: Öffentliches und privates Engagement, S. 130f. sowie Ohl: „Peter Huchel als Herausgeber“, S. 137 und 142.

627 Vgl. z. B. Gisela Ecker: „Gender in the Work of Grief and Mourning, Contemporary Requiems in German Literature“. In: Helen Fronius und Anna Linton (Hrsg.): Women and Death. Representations of Female Victims and Perpetrators in German Culture 1500–2000. Rochester 2008, S. 203-219; hier S. 205.

628 Vgl. dazu auch von Gersdorff: Marie Luise Kaschnitz, S. 246.

629 Strack: „Zum lyrischen Werk“, S. 281. Die Veränderung im dichterischen Sprechen setze sich Strack zufolge im Laufe des Spätwerkes noch fort. Vgl. ebd., S. 282. Hans Schwerte beschreibt die späteren Gedichtbände wie folgt:

der Darstellung von Emotionen aber ist zu prüfen, ob und inwiefern dieser gegenüber den frühen Nachkriegsgedichten gewandelte, weniger beschwörend-expressive, sondern zunehmend zurückgenommene, spröde Stil mit einer auch emotionalen Ernüchterung einhergeht.630

4.3 Zur Gestaltung von Trauer: Analyseergebnisse

Die 115 Gedichte des vorliegenden Korpus wurden grob anhand der in Kapitel 2.3 vorgestellten Kategorien analysiert. Anschließend wurden solche Gedichte identifiziert, in denen Trauer auf der Ebene der sprachlichen Oberflächenpräsenz – insbesondere durch explizite Benennungen – oder auf diegetischer Ebene – durch die Darstellung prototypischer Trauersituationen – eine offensichtliche Rolle spielt. Diese wurden genauer in den Blick genommen, um das Zusammenspiel verschiedener Manifestationsformen von Emotionalität und Trauer zu untersuchen. Zudem wurden alle Gedichte mithilfe der Ergebnisse der Grobanalyse im Hinblick auf die einzelnen Analysekategorien verglichen. So konnten insbesondere implizite Emotionalisierungsstrategien und Gestaltungsweisen von Trauer identifiziert werden, die bei der Analyse eines isolierten Einzelgedichts nicht auf den ersten Blick als potenziell emotionalisierend aufgefallen wären.

Die nachfolgende Darstellung der Analyseergebnisse orientiert sich wie bei Eich an den zugrunde liegenden Analysekategorien. Der Umfang des untersuchten Korpus erforderte jedoch eine stärkere Auswahl der darzustellenden Beobachtungen. Die angeführten Beispiele ließen sich daher – wie auch den Fußnoten entnommen werden kann – im Einzelfall durch weitere Belegstellen ergänzen.

4.3.1 Explizite Gestaltung von Trauer

Emotionen werden im Untersuchungskorpus vielfach explizit benannt. Mit Abstand am häufigsten thematisiert Kaschnitz Liebe, gefolgt von Angst und Furcht, erst dann folgt das Emotionslexem ‚Trauer‘. Neben der expliziten Benennung von Trauer werden allerdings zahlreiche verwandte Lexeme wie ‚Leiden‘631, ‚Schmerz‘632, ‚Verzweiflung‘633 und

„Auch in ihnen [den drei folgenden Gedichtbänden, A. F.] bleibt es bei den drei erreichten formalen Mustern (die sich überschneiden): das Zyklische, das immer bereits Momente des Erzählens oder des Reflektierens enthält; die vielstrophisch gereihte Großform, wenn auch (meist) nicht mehr in früherer Langzeile; schließlich die, wenn sprachlich möglich, bis ins Äußerste geknappte Kurz- und Konzentrationsform, ‚Genazzano-Ton‘.“ Hans Schwerte:

„Marie Luise Kaschnitz“. In: Klaus Weissenberger (Hrsg.): Die deutsche Lyrik 1945–1975. Zwischen Botschaft und Spiel.

Düsseldorf 1981, S. 97-109; hier S. 103. Vgl. auch Foot: Phenomenon of Speechlessness, S. 50f. Zur Verknappung in Kaschnitz’ Lyrik vgl. Martini: „Auf der Suche“, S. 63.

630 Vgl. ergänzend die Diskussion des Zyklus „Ich lebte“ (KW V, 342-347) in Østbø: Wirklichkeit als Herausforderung, S. 34-45 und insbesondere den Hinweis auf die dort angewandte „Verfremdungstechnik“ ebd., S. 36.

631 Zu ‚Leiden‘ vgl. z. B. „Angst“ (KW V, 193), „Das Verheißene“ (KW V, 210), „Der Dichter spricht“ (KW V, 217) und „Ahasver“ (KW V, 257).

632 ‚Schmerz‘ findet sich beispielsweise in „Tageszeiten“ (KW V, 301), „Heimat“ (KW V, 206) und „Bedrängnis“

(KW V, 191).

633 Zu ‚Verzweiflung‘ vgl. z. B. den „Tutzinger Gedichtkreis“ (KW V, 252), „Grundwasser“ (KW V, 330) und „Ein Aufhebens machen“ (KW V, 341).

‚Schwermut‘634 inklusive entsprechender Verben und Adjektive verwendet, so dass sich der quantitative Unterschied zu Angst und Furcht relativiert. Dabei werden insbesondere in den ersten beiden Gedichtbänden, Gedichte zur Zeit und Zukunftsmusik, häufig verschiedene Emotionen innerhalb eines Gedichts benannt. Zudem konzentriert sich die explizite Benennung von Emotionen stark auf diese zwei Gedichtbände, lässt dann deutlich nach und nimmt in Dein Schweigen – meine Stimme wieder etwas zu.635 Für das Lexem ‚Trauer‘ korrespondiert die Verteilung über die verschiedenen Gedichtbände mit dieser Distribution von Emotionslexemen insgesamt, die Schwerpunkte liegen hier auf Zukunftsmusik und – allerdings deutlich weniger stark – auf Dein Schweigen – meine Stimme. Aus Gründen der Vollständigkeit werde ich im Folgenden auf alle expliziten Benennungen von Trauer eingehen und die oben genannten Lexeme wie ‚Schwermut‘

oder ‚Verzweiflung‘ demgegenüber vernachlässigen. Der groben Kategorisierung der einzelnen Textstellen dienen die jeweils dargestellten Auslöser von Trauer.

Trauer wird im Großteil der Fälle expliziter Gestaltungsweisen als Reaktion auf einen Verlust oder auf die Zerstörung von etwas genannt, das für die trauernde Person einen bestimmten Wert hatte. Mehrfach gestaltet Kaschnitz den Verlust einer nahestehenden Person als Auslöser von Trauer. Auffällig ist, dass die Emotion in diesen Fällen eher positiv bewertet wird. In dem Gedicht „London 1959“ aus Dein Schweigen – meine Stimme (KW V, 321f.), in dem die Eindrücke der Sprechinstanz auf einer Reise in die im Titel genannte Stadt mit den Erinnerungen an einen Verstorbenen vermischt werden, wird Trauer explizit als „Zuflucht“ bezeichnet, Einsamkeit als „Nest“ (Vers 15f.). Auf der Insel wird die Sprechinstanz aus diesen Zufluchtsstätten getrieben und mit der Welt konfrontiert (Vers 13). Mit einer gebeugten Haltung, Klagen und Weinen (Vers 44-46) werden hier zudem typische expressive Aspekte des Erlebens von Trauer benannt.636

Auch das Gedicht „Schnee“ (KW V, 347-352) kreist um die Erinnerungen an einen Verstorbenen. Dem weißen Schnee kommt in den Teilgedichten I und II etwas Beruhigendes zu, etwas, das den Austausch von Erfahrungen und Erinnerungen (II, Vers 6-11) und auch Zweisamkeit zulässt.637 Diese ist auch das zentrale Thema des Gedichts, immer wieder wird der vergangenen Zweisamkeit mit einem Gegenüber gedacht, der Alltag erinnert (vgl. vor allem IV) und vor den ständigen Gefahren für das Miteinander gewarnt (VI). In den letzten Versen des Gedichts schließlich benennt die Sprechinstanz ihre „weißgekleidete Trauer“ (XIII, Vers 8). Die auch mit dem Schnee verbundene Farbsymbolik ist hier nicht unwichtig. Mit der Farbe Weiß

634 ‚Schwermut‘ findet sich z. B. in den Gedichten „Schnee“ (KW V, 350), „Villa Massimo“ (KW V, 362), „London 1959“ (KW V, 321) und „Bedrängnis“ (KW V, 191).

635 Die Frage, ob sich für einzelne Emotionen eine Entwicklung beobachten lässt und wie sich die jeweilige Konzentration auf bestimmte Schaffensphasen von Kaschnitz erklären ließe, kann hier nicht umfassend beantwortet werden.

636 Das Gedicht „London 1959“ wird in Kapitel 4.3.4 noch einmal ausführlich behandelt.

637 Zum Schnee-Motiv vgl. auch noch einmal Kapitel 4.3.2.3 dieser Arbeit.

werden – zumindest im europäischen, christlich geprägten Kulturkreis – vor allem Unschuld638, Reinheit und Tugend verbunden.639 Daneben kann die Farbe jedoch auch als Trauerfarbe bezeichnet werden.640 Im vorliegenden Gedicht wird die Farbe Weiß einem eher negativ konnotierten Schwarz (vgl. IX, Vers 10 und XI, Vers 8) entgegengestellt und die tanzende

„weißgekleidete Trauer“ dadurch positiv bewertet. Auf die auffällige Verbindung von Trauer und Tanz wird im Kapitel zur impliziten Gestaltung der Emotion genauer eingegangen (Kapitel 4.3.2.3).641 Neben der tanzenden „weißgekleidete[n]“ Trauer im Gedicht „Schnee“ findet sich eine ähnliche Korrelation auch in „Alles das Neue“, wo die Sprechinstanz ihr Gedicht als

„trauriges Tanzlied“ bezeichnet (KW V, 368, I, Vers 28), und in „Rückkehr nach Frankfurt“ wo es heißt: „Tanzen Trauer und Sühne,/ Totentanz, Lebenstanz,/ Hochzeit –“ (KW V, 146, VI, Vers 26-28).642

Neben dem Verlust einer geliebten Person wird auch der Verlust von Sicherheiten, von bestimmten Orten oder früheren Verbindungen zu diesen Orten als Auslöser von Trauer dargestellt. Diese Formen des Verlusts werden in den frühen Nachkriegszyklen aus Gedichte zur Zeit jeweils als Folge von Krieg und Zerstörung dargestellt. So thematisiert die Sprechinstanz in

„Rückkehr nach Frankfurt“ in den letzten Versen des Gedichts ihre Trauer, die „zerr[innt]“, als die zerstörte personifizierte Stadt wieder zu ihr spricht: „Hörtest Du’s als mir der Mund sprach:/

Wie die Trauer zerrann?“ (KW V, 153, XIV, Vers 3f.). In dem Zyklus „Große Wanderschaft“

(KW V, 135-141), der die elende Situation der ziehenden Flüchtlinge und Heimatlosen in der Nachkriegszeit darstellt und diese in eine überzeitliche Form des Übergangs und der Verwandlung einordnet, werden verschiedene Emotionen von Angst und Glück über Trauer bis hin zu Schuld und Hass gestaltet. Neben expliziten Benennungen spielt dabei eine Fülle von impliziten lexikalischen Bezugnahmen auf diese Emotionen eine Rolle, worauf jedoch an anderer

638 Vgl. hierzu auch das Gedicht „Villa Massimo“ aus demselben Band (KW V, 362).

639 Vgl. die im Metzler Lexikon literarischer Symbole genannten Bezüge zur christlichen Symbolik und die in dieser Tradition stehenden literarischen Verwendungsweisen der Farbe Weiß: Daniela Gretz: „Weiß“. In: Günter Butzer und Joachim Jacob (Hrsg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. 2., erw. Aufl. Stuttgart, Weimar 2012, S. 481-483; hier S. 481f. Siehe darüber hinaus auch Manfred Lurker: „Weiß“. In: Ders. (Hrsg.): Wörterbuch der Symbolik. 5., durchges.

und erw. Aufl. Stuttgart 1991, S. 824.

640 Die Bedeutung der Farbe Weiß als Ausdruck von Trauer steht in enger Verbindung mit ihrer Bedeutung als Symbol des Todes. Vgl. dazu Gretz: „Weiß“, S. 482f. und auch Peter Gerlitz: „Trauer I: Religionsgeschichtlich“. In:

Gerhard Müller (Hrsg.): Theologische Realenzyklopädie. Band 34: Trapisten/Trapistinnen – Vernunft II. Berlin 2002, S. 4-8;

hier S. 5. Nicht zuletzt durch die Forschungen ihres Mannes und ihr eigenes Interesse an kunsthistorischen und archäologischen Fragen könnten Kaschnitz diese Bedeutungsdimensionen der Farbe Weiß bekannt gewesen sein.

Vgl. von Gersdoff: Marie Luise Kaschnitz, S. 54f. Siehe auch die Verbindung der Farbe Weiß mit Asche in dem Gedicht „Juni“ (KW V, 370).

641 Zum Tanzmotiv bei Kaschnitz vgl. zudem ausführlich Pulver: „Motiv des Tanzens“. Sie vergleicht die

„unangestrengte[] Prosa“ der Dichterin mit der „scheinbaren Kunstlosigkeit, Beiläufigkeit und Spontaneität“ des Tänzerischen, worin aber „immer auch eine nur auf Augenblicke gebändigte Schwere und Trauer enthalten“ sei (ebd., S. 102). Zu einer hierin erkennbaren Parallele zu Nelly Sachs vgl. ebd., S. 104.

642 In Bezug auf das Tanzmotiv in Wohin denn ich geht Pulver auf das „Selbstporträt“ der Ich-Erzählerin zwischen

„Tänzerin aus dem Geschlechte Jubals“ und Kain, „im Schnittpunkt von Tanz und Schuld stehend“ ein. Vgl. ebd., S. 115.

Stelle eingegangen wird. Das Lexem ‚Trauer‘ wird hier in Verbindung mit den Emotionswörtern

‚Schuld‘ und ‚Weltangst‘ genannt. Diese Emotionen unterscheiden die Menschen „Nur wir. Nur hier“ von den Menschen „Dort übersee“ (KW V, 137f.):

VIII

Der Mensch? Ach nicht der Mensch. Nur wir. Nur hier.

Sieh doch, wie glatt und rasch die Züge rollen Dort übersee. Dort schöpfen aus dem Vollen Noch Glückliche. Enkel der Pioniere

5 Roder des Urwalds, Bändiger der Tiere Und tragen in sich mächtiges Gelingen Von großen Werken, Riesenbauten, Brücken Von tausend hand- und geistgeschaffnen Dingen Und wissen nichts von Weltangst, Schuld und Trauer 10 Von Zwielicht, Dämmerung und Todesschauer

Und sind voll Sicherheit, die trägt und hält.

Schon dort ist’s anders. Wir sind nicht die Welt.

Die Situation der Menschen „hier“ wird durch die Kontrastierung mit dem Leben „[d]ort übersee“

spezifiziert: Die Menschen „hier“ befinden sich nicht in Sicherheit, können nicht Geistiges und Materielles erschaffen und nicht aus dem Vollen schöpfen. Sie sind in ihrer Gestaltungsfreiheit und Eigenständigkeit somit stark eingeschränkt. Explizit wird Trauer mit einer negativ konnotierten Situation der Unsicherheit und Hoffnungslosigkeit verbunden (Vers 9-11). Auch ein Moment des Scheiterns könnte als Auslöser von Trauer angedeutet sein: Im Gegensatz zu den Menschen „hier“

tragen die Menschen „[d]ort übersee“ noch „mächtiges Gelingen“ in sich (Vers 6).643

Werden in den zuletzt zitierten Gedichten vor allem Folgen von Krieg und Zerstörung dargestellt, werden in „Alles das Neue“ (KW V, 369, III) Szenen aus Kriegszeiten gestaltet. Die im Gedicht beschriebenen Erinnerungen an Tote, Panzergräben und Gefangene sind gebunden an „Zeiten der Trauer“. In den Gedichten „Palermo“ und „Bedrängnis“ ist die Emotion Reaktion auf ein vom Krieg unabhängiges alltägliches Leiden der Menschen. Im Fall von

„Palermo“ ist es die Armut, die sich für die Sprechinstanz in der „spitzige[n] Trauer Kindergesicht“ zeigt (KW V, 262, Vers 13). In „Bedrängnis“ ist der „traurige[] Gang ums Geviert“ Ausdruck eines als negativ empfundenen Verlusts der Natur in der bedrängten Stadt:

„Wer die weiten Wege gewohnt war und die Berge und Wälder,/ Tritt vor dem Schlafen den traurigen Gang ums Geviert an“ (KW V, 189, Vers 22f.). Die explizit ausgesprochene Erinnerung an die Berge und Wälder macht den Verlust des Vergangenen hier besonders deutlich. Ähnlich ist es auch in „Europa“: „Doch wenn er [der Traumwanderer, A. F.] heimkehrt traurig und neigt sich wieder/ Und flüstert aufs Neue sein ‚Liebe mich alle die Tage‘“ (KW V, 203, Vers 75f.). In den vorangegangenen Versen wurde der Traumwanderer an Schönheit und Geschichte, aber auch an Krieg und Tod in Europa erinnert (Vers 35-54). Sein Schreien „in die Welt“ (Vers 68)

643 Der letzte Vers kann über den Unterschied zwischen den Menschen „hier“ und denjenigen „[d]ort übersee“

hinaus jedoch auch einen positiven Aspekt darstellen. Hierin könnte eine Form der Erleichterung darüber anklingen, dass es nur den Menschen „hier“ so ergeht und das Leben im Rest der Welt anders ist.

bleibt jedoch unbeantwortet, in seiner traurigen Heimkehr drückt sich vor allem seine Einsamkeit aus. Eine ähnliche Verbindung von Einsamkeit und Trauer findet sich auch im „Tutzinger Gedichtkreis“, wo es heißt „Läßt sie erschauern/ Vor der Einsamkeit der Herbstabende und dem traurigen Brüllen im Kuhstall“ (KW V, 247, Vers 72f.).644

Einsamkeit wird also auch unabhängig vom existenziellen Verlust eines geliebten Gegenübers als Auslöser von Trauer gestaltet. In dem Gedicht „Die Liebenden“ (KW V, 223) wird die Emotion explizit im Zusammenhang mit der Einsamkeit der Mutter nach dem Weggang der Kinder benannt.

Nimmt man die explizit benannte Trauer des Mannes hinzu, kann man hier von Situationen des Abschieds – verbunden mit einschneidenden Umbrüchen im Leben eines Menschen – als Auslöser von Trauer sprechen: „Und Trauer der Lebenswende/ Fällt auf den Mann. Und Einsamkeit, große, und Trauer/ Fällt auf die Frau, wenn die Kinder dem Schoße entwachsen“ (Vers 72-74). Auch in dem Gedicht „Die Kinder dieser Welt“ (KW V, 256) wird Trauer als Reaktion auf das Ende von etwas, auf einen Moment der Enttäuschung oder Resignation645 thematisiert:

Auf dem siebenten Berg war kein Haus Und mein Bruder sagte, steigt aus.

50 Da wurden sie alle traurig Und ließen die Luftballons los.

In zwei Gedichten steht schließlich nicht der Auslöser, sondern der Umgang mit Trauer im Fokus. In „Alle Gewalt“ (KW V, 336) wird Trauer als menschliches Gefühl dargestellt, das von den Zeitgenossen des Träumenden – wie andere Gefühlsregungen auch – mit allen Mitteln abgewehrt wird (Vers 11-19):

Es erwies sich, daß alle Durchsuchten versichert waren Gegen jede Art von Gebrechen, gegen Tod und Feuer, Gegen Unzufriedenheit, Unruhe, unglückliche Liebe.

[…]

Nichts von versteckter Trauer.

In „Zukunftsmusik“ wird die Ungeduld mit und Ablehnung von Trauer durch diejenigen dargestellt, die nur in die Zukunft blicken wollen (KW V, 178):646

75 Und ein Trotz ist in ihnen, der will nicht mehr warten, nicht umgehen Mit den Traurigen,

Mit den Klagenden, Mit den Zweiflern.

Umgehen will er mit denen, die Zukunft bereiten[.]

644 Dem „Brüllen im Kuhstall“ wird in diesem Fall durch die Sprechinstanz die Eigenschaft zugeschrieben, traurig zu sein. Auf ähnliche Weise werden auch das schwarz aufragende Kreuz „voll unendlicher Trauer“ in „Vor den Toren“

(KW V, 200) und der Kreuzweg in „Der Dichter spricht“ (KW V, 218) als Bild des Leidens dargestellt.

645 So deutet auch Roßbach: Kind- und Kindheitsmotivik, S. 254 die Geste. Sie führt das Gedicht als „[i]ntensivsten Ausdruck“ der „Ungeborgenheit“ der Kinder in der von Kaschnitz dargestellten Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts an (ebd., S. 244). Anita Baus spricht von Verrat an den Kindern. Vgl. Baus: Standortbestimmung als Prozeß, S. 12.

646 Zur Gestaltung von Zukunftsvisionen in Kaschnitz’ Werk vgl. Corkhill: „Rückschau“.

In beiden Fällen wird Trauer von einer Gruppe von Menschen als Gefahr oder Einschränkung empfunden, im Kontext des Gedichts von der Sprechinstanz jedoch eher aufgewertet oder zumindest als notwendig anerkannt. Aufwertend wird das Attribut ‚traurig‘ schließlich auch im letzten Beispiel expliziter Benennung von Trauer verwendet. In dem Gedicht „Bräutigam Froschkönig“ (KW V, 278) sind es nur die „Traurigen/ Schönen/ Augen“, die am Schluss des Gedichts etwas Schönes am ansonsten hässlichen und widerwärtigen „Bräutigam“ der „Jungfrau

In beiden Fällen wird Trauer von einer Gruppe von Menschen als Gefahr oder Einschränkung empfunden, im Kontext des Gedichts von der Sprechinstanz jedoch eher aufgewertet oder zumindest als notwendig anerkannt. Aufwertend wird das Attribut ‚traurig‘ schließlich auch im letzten Beispiel expliziter Benennung von Trauer verwendet. In dem Gedicht „Bräutigam Froschkönig“ (KW V, 278) sind es nur die „Traurigen/ Schönen/ Augen“, die am Schluss des Gedichts etwas Schönes am ansonsten hässlichen und widerwärtigen „Bräutigam“ der „Jungfrau