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1.3 Zur Auswahl der untersuchten Autoren

1.3.1 Günter Eich (1907–1972)

Günter Eichs Gedichte „Inventur“ und „Latrine“ gelten als geradezu programmatische Texte der Kahlschlaglyrik.125 In seinen 1948 erschienenen sogenannten Camp-Gedichten, deren subjektive Perspektive in der Forschung als Zeichen von Authentizität interpretiert wurde, herrscht insgesamt ein lakonischer Ton vor.126 Theoretisch äußert Eich sich mehrfach zu den Funktionen von Sprache überhaupt, zur Gefahr ihres Missbrauchs durch die Mächtigen und entsprechenden Konsequenzen für seine Dichtung. Seine eher sprachkritische Haltung wird ebenso mit den

125 Exemplarisch vgl. hierzu von Bormann: „Frühe Nachkriegslyrik“, S. 77f.; Müller-Hanpft: Lyrik und Rezeption, S. 15 und Hans-Ulrich Treichel: „Kein Neuanfang“. In: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 100 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Achter Band: Von Peter Huchel bis Paul Celan. Frankfurt a. M. 21995, S. 127-129; hier S. 128. Wie bereits angemerkt, ist die Kahlschlaglyrik insgesamt nicht zwingend von Emotionslosigkeit geprägt. Ergänzend zu Kapitel 1.2 vgl. hierzu von Bormann: „Frühe Nachkriegslyrik“, S. 79. Eichs Texte werden im Folgenden nach den 1991 von Axel Vieregg und Karl Karst als revidierte Ausgabe herausgegebenen Gesammelten Werken zitiert. Hiervon sind für die vorliegende Arbeit insbesondere Band I und IV von Bedeutung: Günter Eich: Gesammelte Werke in vier Bänden. Band I:

Die Gedichte. Die Maulwürfe, hrsg. von Axel Vieregg. Rev. Ausgabe Frankfurt a. M. 1991 und Günter Eich: Gesammelte Werke in vier Bänden. Band IV: Vermischte Schriften, hrsg. von Axel Vieregg. Rev. Ausgabe Frankfurt a. M. 1991. Auf die Werkausgabe wird mit der Sigle ‚EW‘ verwiesen, der genaue Band wird in römischen Ziffern, der Seitennachweis in arabischen Ziffern angegeben.

126 Vgl. Korte: Deutschsprachige Lyrik, S. 16.

Forderungen nach Kahlschlag und Neuanfang nach 1945 in Verbindung gebracht wie mit der engagierten Lyrik der 1950er Jahre.127

Noch in den späten 1940er und den 1950er Jahren – auch das ist, wie bereits deutlich wurde, in der Forschung unumstritten – ist Eich jedoch vor allem Naturlyriker.128 In der Forschung wird darauf oftmals Bezug genommen, um auf Kontinuitäten in seinem Werk vor und nach dem Zweiten Weltkrieg hinzuweisen.129 Vor 1939 war Eich Mitglied des sogenannten Kolonne-Kreises und publizierte unter anderem von Oskar Loerke beeinflusste Naturgedichte. Nach 1945 ist diese Prägung weiterhin erkennbar, Eich löst sich jedoch von einer sinnstiftenden Naturlyrik, distanziert sich zunehmend von der Suche nach ‚Antworten‘ oder Geborgenheit in der Natur und macht deutlich, dass eine ungebrochene Beziehung von Mensch und Natur nicht mehr möglich sei.130 Das unterscheidet ihn in der Konsequenz von Vertretern einer eher konventionellen Naturlyrik nach 1945 wie Langgässer und Lehmann und verbindet ihn gleichzeitig mit Dichtern wie Huchel und Krolow, deren Naturlyrik ähnliche Entwicklungen aufweist.131 Knörrich nennt Eich zudem neben Celan und Bachmann, wenn er von dem „hermetische[n] Charakter der modernen Sprachmagie“

spricht, die „stets den Sprachzweifel in sich aufbewahrte“.132 Diese Sprachzweifel in Bezug auf seine eigene Dichtung und die Rolle der Lyrik im Allgemeinen äußert Eich im Laufe der 1950er Jahre zunehmend, worauf in Kapitel 3 noch einmal einzugehen sein wird.

127 Vgl. Karnick: „Krieg und Nachkrieg“, S. 54 und – kritisch in Bezug auf Eichs ‚Engagement‘ – Larry L. Richardson: Commited Aestheticism. The Poetic Theory and Practice of Günter Eich. Bern u. a. 1983, S. 111. Siehe hierzu auch noch einmal Kapitel 3.1.

128 Vgl. beispielsweise Axel Goodbody: Natursprache. Ein dichtungstheoretisches Konzept der Romantik und seine Wiederaufnahme in der modernen Naturlyrik (Novalis – Eichendorff – Lehmann – Eich). Neumünster 1984, S. 253-345; Ree Post-Adams: „Günter Eich“. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Abrufbar unter: „Eich, Günter“ in nachschlage.NET/KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, URL: http://www.nachschlage.NET/document/16000000120 [letzter Zugriff: 06.03.2015] und Christian Kohlroß:

Theorie des modernen Naturgedichts. Oskar Loerke – Günter Eich – Rolf Dieter Brinkmann. Würzburg 2000, S. 148-198.

Unterschiedliche Umgangsweisen Eichs mit dem „von der geschichtlichen Erfahrung getroffenen Naturgedicht[]“

nach 1945 benennt knapp Bernhard Fischer: „Günter Eich: Gedicht und Geschichte“. In: Carsten Dutt und Dirk von Petersdorff (Hrsg.): Günter Eichs Metamorphosen. Marbacher Symposium aus Anlass des 100. Geburtstags am 1. Februar 2007. Heidelberg 2009, S. 75-85; hier S. 79f.

129 So zum Beispiel Parker, Davies und Philpotts: Modern Restoration, S. 297-334.

130 Vgl. Horst Ohde: „Die Magie des Heilen. Naturlyrik nach 1945“. In: Ludwig Fischer (Hrsg.): Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967. München, Wien 1986 (=Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16.

Jahrhundert bis zur Gegenwart 10), S. 349-367; hier S. 356 und von Bormann: „Hermetik und Öffentlichkeit“, S. 206: „Daß es anders geht, zeigt Günter Eich. Dessen Erfolg beruht vor allem auf der Verbindung von ‚modernem‘

Tonfall und naturlyrischer Programmatik, wofür der Band Abgelegene Gehöfte (1948) exemplarisch einstand. Neben dem ‚warmen‘ Titelgedicht (‚Rauch steigt wie ein feurig Gedicht‘) steht das ‚kühle‘ ‚Lazarett‘-Gedicht, das zum frühen Benn hinüberlugt. Im Unterschied zu Lehmann gelingen Eich große Texte durch die taktvolle Mittelbarkeit, mit der er die Naturbilder wirksam werden läßt.“ Die Rede von ‚warmen‘ und ‚kalten‘ Gedichten kann als Versuch gelesen werden, die emotionale Wirkung dieser Texte abzubilden. Hier findet sich einmal mehr ein Beispiel für die bisher unzureichende Untersuchung der sprachlichen Emotionsgestaltung in der Nachkriegslyrik.

131 Vgl. hierzu ausführlicher Lampart: Nachkriegsmoderne, zusammenfassend z. B. S. 450, und in Bezug auf Eich Korte:

Deutschsprachige Lyrik, S. 42.

132 Knörrich: „Bundesrepublik Deutschland“, S. 559. Vgl. auch Knörrich: Die deutsche Lyrik, S. 188f. und Gnüg:

Entstehung und Krise, S. 228-233. Darüber hinaus gehen auf die Rezeption von Eichs Lyrik unter dem Etikett des Hermetischen Lamping: Das lyrische Gedicht, S. 237-240 und Sabine Buchheit: Formen und Funktionen literarischer Kommunikation im Werk Günter Eichs. St. Ingbert 2003, S. 12-16 ein. Waldschmidt zeigt auf, inwiefern die Naturlyrik von Eich nach 1945 als hermetisch gelten kann und führt eine Reihe seiner Gedichte als Beispiele hermetischer Lyrik an. Vgl. Walschmidt: „Dunkles zu sagen“, S. 340-349, 362-369, 560-583 u. a. m.

Schließlich wird Eich aber auch als Dichter von Trauer und Melancholie dargestellt.133 Diese Zuschreibungen scheinen zumindest auf den ersten Blick genau in das Zentrum der vorliegenden Untersuchung zu treffen. Vom „Leiden am Dasein“ oder dem „Leiden des Individuums“, das schon in seiner Lyrik vor dem Krieg zum Ausdruck komme, wird in der Forschungsliteratur immer wieder gesprochen, Eich als „Dichter elementarer Verzweiflung“ und

„heiterer Trauer“ bezeichnet.134 Besonders häufig fallen die Begriffe ‚Schwermut‘ und

‚Melancholie‘. Carsten Dutt und Dirk von Petersdorff behaupten beispielsweise, „Eichs Naturlyrik [sei] selbst in Momenten kurzer Erfüllung immer melancholisch grundiert.“135 Und Susanne Schulte geht sogar so weit, die in Eichs Werk dargestellte Melancholie als „Zentrum seiner Welt-Anschauung und Poetik“ zu bezeichnen.136

Die drei bis hierhin angesprochenen Attribute, mit denen Eichs Werk in der Forschungsliteratur charakterisiert wird – Kahlschlag, Natur und Melancholie –, sind keinesfalls miteinander unvereinbar. Sie verweisen vielmehr auf unterschiedliche Aspekte dieses Werkes. Bei der Bezeichnung als ‚Kahlschlaglyriker‘ stehen vor allem Form und Gebrauch der Sprache im Vordergrund, was sich in der sprachskeptischen Haltung in den 1950er Jahren fortsetzt. Der Begriff

‚Naturlyrik‘ bezieht sich vor allem auf die Motive und die Bildhaftigkeit seiner Lyrik. Das Phänomen der Schwermut oder Melancholie in Eichs Werk kann zum einen die Inhalte, zum anderen aber auch die Art der Darstellung betreffen, wenn beispielsweise mithilfe sprachlicher Mittel Verstummen oder Resignation vermittelt wird. In der Regel wird der Inhalt betont, wenn zum Beispiel der Einzelne in seiner gebrochenen Beziehung zur Natur betrachtet wird. Den genannten und weiteren

133 Vgl. z. B. Dieter Bänsch: „Wie lebt man ohne Verzweiflung? Über Günter Eichs Lyrik“. In: Marburger Forum.

Beiträge zur geistigen Situation der Gegenwart 8.6 (2007). Abrufbar im Internet-Archive unter http://web.archive.org/web/20131110194751/http://www.philosophia-online.de/mafo/heft2007-6/Bae_Eich.htm [letzter Zugriff: 06.03.2015]; Horst Ohde: „Von der Aufkündigung des Einverstandenseins. Zur Theodizee im Werk Günter Eichs“. In: Ulrich Wergin und Karol Sauerland (Hrsg.): Literatur und Theologie. Schreibprozesse zwischen biblischer Überlieferung und geschichtlicher Erfahrung. Würzburg 2005, S. 253-273; hier S. 254 oder Buchheit: Formen und Funktionen, S. 92-108.

134 Post-Adams: „Günter Eich“; Bänsch: „Wie lebt man ohne Verzweiflung“ und Susanne Müller-Hanpft:

„Aufforderung Eich zu lesen“. In: Günter Eich. Ein Lesebuch, ausgewählt von Günter Eich. Frankfurt a. M. 1972, S. 307-314; hier S. 314. Vgl. auch Müller-Hanpft: Lyrik und Rezeption, S. 24 und Heinrich Georg Briner: Naturmystik, biologischer Pessimismus, Ketzertum. Günter Eichs Werk im Spannungsfeld der Theodizee. Bonn 1978, S. 11.

135 Carsten Dutt und Dirk von Petersdorff: „Der frühe und der späte Eich. Kontinuitäten in der Werkgeschichte?“

In: Dies. (Hrsg.): Günter Eichs Metamorphosen. Marbacher Symposium aus Anlass des 100. Geburtstags am 1. Februar 2007.

Heidelberg 2009, S. 9-23, hier S. 16. Antje Friedrichs-Telgenbüscher sieht die Melancholie – neben Resignation und Skepsis – als typisch vor allem für die späten Gedichte Eichs an. Vgl. Antje Friedrichs-Telgenbüscher: „‚Nördliche Seufzer‘. Zu einem Gedicht von Günter Eich“. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Günter Eich. 3., rev. und erw. Aufl.

München 1979 (=Text + Kritik 5), S. 33-39; hier S. 36.

136 Susanne Schulte: Standpunkt Ohnmacht. Studien zur Melancholie bei Günter Eich. Man bittet zu läuten – Der Präsident – Air. Münster, Hamburg 1993, S. 12. Noch weiter gehend behauptet Schulte: „Als Eigenschaft des realen Autors stellt sie [d. i. die Melancholie, A. F.] das entscheidende produktionsästhetische Moment dar.“ Ebd., S. 14f. Die hierin zum Ausdruck kommende biografistische Tendenz der Untersuchung führt dazu, dass ihre Ergebnisse im Rahmen des hier verfolgten Ansatzes mit Vorsicht zu betrachten sind. Von Melancholie und Schwermut als „wesenseigenen“

Charakterzügen Eichs spricht auch Roland Berbig, der unlängst eine umfangreiche biografische Studie über das Leben des Dichters im ersten Nachkriegsjahrzehnt vorgelegt hat. Vgl. Roland Berbig: „Am Rande der Welt. Ort des Lebens und Lebensort: Günter Eichs Geisenhausen“. In: Sprache im technischen Zeitalter 189 (2009), S. 91-109; hier S. 102 und Roland Berbig: Am Rande der Welt. Günter Eich in Geisenhausen 1944–1954. Göttingen 2013.

Untersuchungen zur Melancholie, Trauer oder Schwermut im Werk Eichs ist jedoch gemeinsam, dass die für die Gesamtdichtung und auch für einzelne Texte konstatierte Emotionalität nicht durch methodisch reflektierte Textanalysen belegt wird. Wie Trauer in den Gedichten Eichs sprachlich gestaltet und wie sie konzeptualisiert wird, welcher Instanz im Text die Emotion zuzuschreiben ist und was sie auslöst, wurde bisher nicht umfassend analysiert.137 Derartige Fragen werden die vorliegende Beschäftigung mit seinen Nachkriegsgedichten leiten. Die verschiedenen Mechanismen der Emotionsgestaltung in der Nachkriegslyrik Günter Eichs sollen hier differenzierter in den Blick genommen werden. Über den autorphilologischen Gewinn einer derartigen Herangehensweise hinaus sind auf Grundlage von Eichs Repräsentativität für die Nachkriegslyrik insgesamt weiterreichende Erkenntnisse zur Gestaltung von Trauer nach 1945 zu erwarten.138