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Forschungslogische Einbettung und Methodologie

5 Methoden und Forschungsprozess

5.2 Forschungslogische Einbettung und Methodologie

Die Untersuchung fokussiert eine reale Handlungssituation und kann der berufswis-senschaftlichen Forschung zugerechnet werden (Rauner, 1998). In Anlehnung an die Studies of Work ist es das Ziel der empirischen Arbeit, einen ausgewählten pflegeri-schen Arbeitskontext zu beobachten und die damit verbundenen Kompetenzanforde-rungen herauszuarbeiten:

"Die Studies of Work zeichnen sich aus durch das Bemühen, über die genaue Er-fassung, Beschreibung und Analyse von realen Arbeitsvollzügen die situativen ver-körperten Praktiken zu bestimmen, in denen sich die für diese Arbeit spezifischen Kenntnisse und Fertigkeiten materialisieren." (Bergmann, 2006, S. 640).

Die Wurzeln dieses Forschungsansatzes liegen in der Ethnomethodologie, einige ihrer zentralen Annahmen werden im Folgenden erläutert. Die Ethnomethodologie ist in den 1960er-Jahren entstanden und eng mit dem Namen Harold Garfinkel verbunden.

Garfinkel setzt sich in seinen Arbeiten vor allem mit der Arbeit von Talcott Parsons20 und Alfred Schütz auseinander21. Parsons Handlungstheorie befasst sich mit dem Problem sozialer Ordnung. Er geht davon aus, dass sich durch in der Sozialisation internalisierte, gemeinsam geteilte kulturelle Werte und Normen eine Übereinstim-mung mit diesen ausbildet. Dieser gemeinsam geteilte und internalisierte kulturelle Kontext ist bei ihm immer schon Bedingung vor jeglicher Interaktion. An dieser Stelle setzt Garfinkels Kritik an, er folgt in seiner Argumentation dabei Schütz, für den die Beschäftigung mit Intersubjektivität, also der Frage danach, wie zwei Menschen in der Interaktion eigentlich zu einer Verständigung kommen, zentral war. Parsons theoreti-sche Vorstellung kommentiert Garfinkel folgendermaßen:

"By ‚cultural’ dope I refer to the man-in-the-sociologist´s-society who produces the stable features of the society by acting in compliance with preestablished and

20 Talcott Parsons war Doktorvater von Garfinkel. Die von Garfinkel vorgetragene Kritik elaborierte er bereits in seiner 1952 vorgelegten Dissertation. Das Forschungsprogramm der Ethnomethodologie entstand erst später und wurde vor allem durch Garfinkels Sammelband von 1967: „Studies in Ethnomethodology“ bekannt (Bergmann, 2005b).

21 Siegfried Lamnek weist in seinem Lehrbuch „Qualitative Sozialforschung“ darauf hin, dass Garfinkels Konzeption neben Schütz auch den Symbolischen Interaktionismus als Basis wählt. Darauf soll hinge-wiesen werden, da ja in der theoretischen Grundlegung dieser Arbeit stärker auf George Herbert Meads Konzeption eingegangen wird (Lamnek, 2006, S. 42).

legittimate alternatives of action that the common culture provides." (Garfinkel, 2003, S. 68).

Garfinkel widerspricht der Vorstellung eines „kulturellen Trottels“, wie er ihn durch die Parsonsche Handlungstheorie generiert sieht. Er versucht durch seine Krisenexperi-mente darzustellen, wie Personen innerhalb der Gesellschaft agieren, um intersubjekti-ve Ordnung herzustellen22. Er versucht also das Problem der sozialen Ordnung zu fassen, indem er untersucht, durch welche Prozeduren Akteure in Alltagshandlungen subjektiven Sinn23 für das Gegenüber verständlich machen können und wie sich dadurch im Handeln Intersubjektivität herausbildet (Schneider, 2005, S. 13ff). Wie schon erwähnt, bilden dabei die Überlegungen von Schütz die maßgebliche Grundlage von Garfinkels Ansatz. Er versucht durch seine Krisenexperimente die zentralen Aussa-gen von Schütz in empirische UntersuchunAussa-gen zu übertraAussa-gen. Dabei bezieht er sich immer wieder auf die Generalthese der wechselseitigen Beziehungen, die durch die folgenden zwei Idealisierungen konstituiert wird: 1. Idealisierung der Vertauschbarkeit der Standorte, 2. Idealisierung der Kongruenz der Relevanzsysteme24. Die Idealisierun-gen dienen Schütz, wie auch Garfinkel, als Basis dafür, wie intersubjektiver Sinn hergestellt werden kann. Ausgangspunkt der Überlegungen ist dabei zunächst die Annahme, dass es in einer Interaktion nie zu einer kompletten Deckungsgleichheit von Erfahrungen und subjektiver Deutung kommt, es den Interaktionsteilnehmern aber dennoch gelingt, sich miteinander zu verständigen. Typischerweise versucht Garfinkel die Strukturen dadurch deutlich zu machen, dass er die antizipierte Ordnung in Interaktionen nicht nur einfach beobachtet, sondern gezielt stört25. Dabei macht er

22 Garfinkel zweifelt nicht an, dass es Normen und Werte (er bezieht sich dabei immer auf seine Auseinan-dersetzung mit Talcott Parsons) gibt und diese sich auch in Handlungen und Interaktion abbilden würden. Vielmehr versucht er zu zeigen, wie dieser Sinn durch das aktive Gestalten der Akteure immer wieder hergestellt wird.

23 Es wird an dieser Stelle der Sprachgebrauch des „subjektiven Sinns“ beibehalten, obwohl es in dieser Arbeit im Schwerpunkt um die Ausbildung gemeinsamer Bedeutungsinhalte geht. Dazu wurden einige Aussagen im Theorieteil gemacht. Hier wird der Sprachgebrauch jedoch beibehalten, da sich Garfinkel und auch alle Sekundärquellen deutlich bei Schütz verorten, der den Begriff der Sinnstrukturen benutzt.

Zu dem damit verbundenen Bewusstseinsproblem siehe die Ausführungen im Kapitel 3.

24 Weitere Anmerkungen zu den Idealisierungen siehe Kapitel 3 die Ausführungen zu Schütz.

25 Er verwendet dafür Situationen wie bspw. das Spielen von Tic Tac Toe, wo ein Mitspieler nicht regelkon-form handelt, indem er das Kreuz bzw. den Kreis ausradiert und sein eigenes Zeichen setzt, wenn er am Zug ist. In anderen Situation gibt Garfinkel Studenten den Auftrag, sich zu Hause wie ein Gast zu benehmen, oder er hinterfragt den Sinn von allgemeinen Aussagen wie „Wie geht es Dir?“ mit der Ge-genfrage des Interaktionspartners, wie sein Gegenüber das denn meine (Garfinkel, 2003).

auf die Indexikalität26 und die Vagheit der Sprache aufmerksam. Mit Indexikalität meint er, dass keine Interaktion eindeutig über Regeln bzw. die Ersetzung indexikaler Ausdrücke durch objektive Beschreibungen erfolgen kann. Jede weitere Umschreibung bezieht immer wieder indexikalische Strukturen mit ein bzw. verweist immer auf vorangegangene Erfahrungen der Interaktionsteilnehmer miteinander. Durch diese Indexikalität ist sprachliche Interaktion immer vage. Jedoch gerade darin sieht Gar-finkel die Möglichkeit der Verständigung. Innerhalb des Gesprächs materialisiert sich Sinn und Verstehen durch die Handlung und reproduziert zugleich in diesen Handlun-gen soziale Ordnung27. Die Konversationsanalyse benutzt diesen Gedanken in der Darstellung von Sequenzen. Eine Sprecheräußerung beinhaltet immer eine Aufforde-rung zur Reaktion, und der Sprecher hat dann wiederum durch sein erneutes Agieren die Möglichkeit, eine gemeinsame Sinnstruktur weiter zu verfestigen oder den von ihm gemeinten Sinn noch einmal anders zu betonen. In Interaktionen werden durch diese Sequenzen Sinnzusammenhänge aufgebaut. Sinn wird also durch eine aktive Leistung beider Parteien hervorgebracht, wobei die Ordnungsstruktur sich durch die gelebte Erfahrung weiter fortsetzt, zumeist jedoch implizit verborgen bleibt. Gerade diese Ordnungsstrukturen versuchen Forschungen aufzudecken, die sich auf die Ethno-methodologie berufen. Garfinkel selbst beschreibt dieses Forschungsprogramm folgen-dermaßen:

"I use the term ‚ethnomethodology’ to refer to the investigation of the rational properties of indexical expressions and other practical actions as contingent on-going accomplishments of organized artful practices of everyday life." (Garfinkel, 2003, S. 11).

Wie bereits ausgeführt, beziehen sich die Studies of Work auf diese Grundannahmen.

Dabei gehen auch sie von einer situationsspezifischen Ordnungsleistung im Handeln aus:

26 Indexikalität sind sprachliche Ausdrücke, die immer auf den Kontext bzw. die Situation verweisen und damit nur durch kontextuelle Zusammenhänge erklärbar sind. Gemeint sind dabei Ausdrücke wie hier, dort (Ort) oder jetzt, dann, morgen (Zeit) oder mein, dein, unser (Person), die in der Sprachwissenschaft als deiktische Ausrücke bezeichnet werden. Garfinkel verallgemeinert die Indexikalität, indem er davon ausgeht, dass Kommunikation nur kontextuell eingebettet stattfinden kann, d.h. die Indexikalität nicht aufhebbar ist (Bergmann, 1988, S.34-43).

27 Diese Dopplung in seinem Gedankengerüst spiegelt sich auch im folgenden Zitat Garfinkels wider:

"Etnomethodololgical studies analyze everyday activities as members´ methods for making those same activities visibly-rational-and-reportable-for-all-practical-purposes, i.e., ‚accountable’, as organizations of commonplace everyday activities."(Garfinkel, 2003, S. VII).

„Trotz gründlicher theoretischer Vorbildung muss jede Arbeit vom Fahren eines Sattelschleppers über das Klavierspielen bis zum Führen eines mathematischen Beweises immer erst als praktische Tätigkeit erlernt werden. Dabei erwirbt sich der Praktiker die Fähigkeit, Kontingenzen zu erkennen und sich auf sie einzustel-len, Entscheidungen über den Verlauf der Arbeit nicht schematisch, sondern von Moment zu Moment zu treffen und im Umgang mit den situativen Unwägbar-keiten und lokalen Konstellationen irgendwie die beobachtbare Adäquanz und Effizienz seines Tuns zu bewerkstelligen." (Bergmann, 2005 a, S. 132).

Die Frage, die sich in den Studies of Work stellt, ist das „Wie“ der Gestaltung von Vollzugswirklichkeit in der Arbeitssituation. Welche Kompetenzen benötigen die Handelnden, um die spezifische Arbeitsleistung zu bewerkstelligen? An diesem Punkt knüpft die empirische Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit an, indem gefragt wird: „Wie gestalten die Pflegekräfte die Interaktion innerhalb des Bewegungshan-delns?“ Die oben vorgestellten Grundannahmen sind wichtig für das Forschungspro-jekt, bei dem davon ausgegangen wird, dass es auch in Bewegungssituationen keine verinnerlichte, erlernte und vorauszusetzende Bedingung für Verständigung gibt, sondern dass der Prozess des „Verstehbarmachens“ in der Bewegungshandlung selbst ein zentrales Handlungsmoment ist. Da es in der spezifischen Untersuchungssituation um Menschen geht, die verbale Sprache nicht verstehen bzw. adäquat artikulieren können (und auf sie nicht adäquat reagieren können), liegen die hauptsächlichen Gestaltungsmöglichkeiten der Bewegungssituation bei den Pflegekräften. Auch hier wird der Vorstellung von Interaktion gefolgt, wie sie oben für verbale Interaktion beschrieben wurde: Indem die Pflegekraft ein Interaktionsangebot einbringt, der zu Pflegende darauf reagiert und dies wiederum von der Pflegekraft aufgenommen wird, kann es zu einem Prozess des Verstehens und Verstehbarmachens kommen, der die Interaktion begleitet und zum Gelingen der Bewegungssituation beiträgt.

Die oben genannten Erläuterungen sollen die Verzahnung der ethnomethodologischen Sichtweise mit der theoretischen Fundierung der vorliegenden Arbeit verdeutlichen. Die Ethnomethodologie selbst hat keinen festen Methodenkanon entworfen. Für die Analyse der Videoaufnahmen ist auf die Video-Interaktions-Analyse von Hubert Knoblauch zurückgegriffen worden, wobei Elemente aus der Grounded Theory mit einbezogen sind. Im Folgenden wird auf Videodaten als Grundlage einer empirischen Untersuchung eingegangen.