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2. Überblick über die Fallstudien 16

2.1 Fallstudie 1

Typ „Fraglose Übernahme“: Das ist die Quadratur des Kreis Bildung Gesamtschule

29

Der Proband hat das Szenario gelesen. Einleitend erklärt er, einem Angebot wie dem der Zeitung positiv gegenüber zu stehen.

(…)

P: Aber es ist immer sehr mühsam zu wirklich guten Angeboten zu kommen, die auch Ressourcen bereitstellen.

Der einleitend positiven Bewertung des Zeitungsprojekts steht nun das Aber gegen-über. Es ist also zu erwarten, dass die positive Bewertung nun relativiert, einge-schränkt oder sogar dementiert wird. Der Proband nimmt eine Differenzierung zwi-schen wirklich guten Angeboten und implizit nur scheinbar guten Angeboten vor. Die wirklich guten sind diejenigen, mit denen die entsprechenden materiellen Ressourcen bereitgestellt werden. Ein potentieller Projektpartner muss demnach nicht nur über entsprechenden Ressourcen verfügen, er sollte von vornherein die Service-Norm der Bereitstellung erfüllen, was aber nie der Fall ist. Vielmehr ist es immer sehr mühsam, zu jenen Angeboten zu kommen. Das Angebot ist demnach kein Angebot, im Sinne eines Guts, das man angeboten bekommt und dann nur noch annehmen muss. Es ist ein Angebot, zu dem man erst vordringen muss (zu kommen). Die Mühe, die immer damit verbunden ist, könnte darauf verweisen, dass man diese Angebote erst suchen und sich auf sie hinbewegen muss. Oder es ist immer sehr mühsam, die guten von den schlechten Angeboten zu unterscheiden, weil die wirklich guten Angebote nicht auf den ersten Blick zu erkennen sind, die analytische Unterscheidung beider Ange-botskategorien eben jener Mühe bedarf. Die Mühe, die durch ein Angebot entsteht, wird in den weiteren Ausführungen genauer benannt. Sie besteht darin, dass die Be-teiligten …

(…)

29 Das Interview ist im ApaeK unter der Datensatznummer 1279 zu finden.

95 immer erst mal lange Partner suchen müssen, bis wir welche finden, und dann um die Ressourcen kämpfen.

Den Konflikt, den der Proband sieht, ist nicht der des Szenarios zwischen Kollegen und ihren widerstreitenden bildungskonzeptionellen Positionen, sondern der zwi-schen Schule und außerschulizwi-schen Partnern, die in der Regel nur scheinbar gute Angebote machen, weil sie nicht die erforderlichen Ressourcen bereitstellen, um die man dann kämpfen muss. Der pädagogisch motivierte Konflikt des Szenarios wird vom Probanden als ein zu einem Kampf ausgearteten Ressourcenkonflikt verarbeitet.

Aus der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit (dem Bereitstellen der Ressourcen einerseits und dem Kampf um die Ressourcen andererseits) resultiert nicht eine pragmatische Lösung, mit der diese Diskrepanz überwunden werden könn-te. Die Rede des Probanden ist vielmehr als eine Kritik an diesem Zustand zu lesen, ist doch ein Kampf um Ressourcen mehr als nur eine Mühe, er ist eine Zumutung.

Bis es zu diesen Kämpfen kommt, muss man immer und lange einen Partner suchen, der über diese Ressourcen verfügt. Insofern ist also ein zusätzlicher Aufwand zu er-bringen. Insgesamt sind die Mühe, der Aufwand und die Energie so groß, dass die Teilnahme an einem Projekt kaum noch zu rechtfertigen ist. Vor diesem Hintergrund ist auch die Bewertung eines Projekts zwar als eine theoretisch positive, aber eine praktisch negative zu betrachten.

Würde man sich über diesen Mangel hinwegsetzen bzw. den Kampf um Res-sourcen erfolgreich führen, so hätte eine Schule darüber hinaus weitere Leistungen zu erbringen, bevor es zur Realisierung eines Projektangebots käme, weil es an ganz vielen Ecken und Kanten, ja, gängig gemacht werden muss. Der Bearbeitungsmodus erinnert an ein mechanisches Bauteil, an ein Getrieberädchen, dessen Zähne noch Ecken und Kanten haben, die verhindern, dass sich das Rädchen in dem Getriebe drehen kann. Ein Projektangebot ist wie ein unfertiges Bauteil. Es funktioniert nicht ohne eine Nachbearbeitung durch die Schule. Damit also das Projekt umgesetzt wer-den kann, muss nicht die Schule bzw. ihr laufender Betrieb modifiziert werde. Das Projekt (es) muss bearbeitet werden. Diese Voraussetzung ist nicht für manche Pro-jekte zu erfüllen, sie gilt für das Projekt als Unterrichtsform generell. Es ist per se ein dysfunktionaler Fremdkörper von Schule. Das heißt, dass kein außerschulischer Partner ein Projektangebot entwickelt, das mit der Institution Schule kompatibel

wä-96 re. Der Mangel von Projektangeboten ist demnach ein doppelter, er besteht in Bezug auf die Ressourcenausstattung (um die man immer kämpfen muss) wie auch in Be-zug auf die Notwendigkeit ihrer generellen Nachbearbeitung.

Ist ein Projektangebot trotz aller Widrigkeiten in entsprechender Weise modi-fiziert, so muss es vom Management her eingefädelt und begleitet werden. Der ein-zelne Lehrer ist demnach nicht der Adressat, der das Gängigmachen des Projekts zu bewerkstelligen hat. Die Integration eines Projekts in den laufenden Betrieb der Schule vollzieht sich über das Einfädeln und Begleiten. Mit dem Einfädeln ist auf einen spezifischen modus operandi verwiesen. Wie auf einer Beschleunigungsspur im Autoverkehr muss das Projekt erst einmal auf ein Tempo beschleunigt werden, das den Fahrzeugen auf der Hauptspur entspricht. Bevor es zu einem Spurwechsel kommen kann, ist demnach die Synchronisation an die durch den Hauptverkehr vor-gegebene Geschwindigkeit erforderlich. Ist die Synchronisation abgeschlossen, kann der Spurwechsel vollzogen werden, mit dem die Integration in den Hauptverkehr vollzogen ist. Diese Anpassung dient dem Zweck, den Hauptverkehr so geringfügig wie möglich in seinem Fluss zu behindern. Oder: Mit dem einfädeln ist – wie beim Einfädeln des Fadens in das Nadelöhr – eine passgenaue Präparierung eines Fadens gemeint, der befeuchtet und geformt wird, damit man ihn zielgenau durch die Öse führen kann. Mit beiden Lesarten wird die Vorstellung vermittelt, dass es umfangrei-cher Vorarbeiten bedarf, um ein Projekt an die Gegebenheiten anzupassen. Der Fa-den ist formbar, die Öse kann nicht verändert werFa-den.

Anpassung und Integration werden nicht im unmittelbaren Dialog zwischen Lehrern und Projektanbietern vollzogen, sondern seitens der Schulleitung manageri-ell organisiert, weil das der Lehrer manchmal nicht selber kann. Lehrer oder Schüler sind in diesem Regelwerk nicht die Hauptakteure, sondern diejenigen, die das Einfä-deln als übergeordnete Instanz organisieren. Die Anpassung wird durch das Ma-nagement gewährleistet. Darüber hinaus muss ein Projekt begleitet werden. Eine Be-gleitung im Sinne einer Unterstützung ist aus objektiver Perspektive pragmatisch auszuschließen, weil Unterstützung an die Voraussetzung gebunden ist, dass Lehrer dieser Unterstützung bedürfen. Tatsächlich aber verfügen sie unabhängig vom Ma-nagement über die Kenntnisse und das Handwerkszeug, um Projektunterricht durch-zuführen. Begleitung kann deshalb nur bedeuten, mögliche Kollisionen eines

Projek-97 tes mit dem etablierten Schulbetrieb durch Aufsicht und Kontrolle zu verhindern.

Dies korrespondiert mit der Lesart, ein Projekt sei auch als ein präpariertes und an-gepasstes ein Fremdkörper, wie ein getuntes Mofa, das zwar mit der erforderlichen Geschwindigkeit, aber doch wie ein Fremdkörper auf einer Autobahn fährt. Es darf dort nicht fahren, und wenn doch, dann nur unter Aufsicht.

Es zeigt sich, dass der Proband ein Projektangebot wie das der Zeitung zu-nächst ausschließlich als ein defizitäres betrachtet: Mit einem Projektangebot werden keine oder zu wenig Ressourcen bereitgestellt, will man sie dennoch haben, muss man um sie kämpfen. Die Arbeit der Pädagogen zielt nicht auf eine Reform des be-stehenden Schulbetriebs, sondern auf eine umfassende Anpassung eines Projektan-gebots an diesen Betrieb. Im Vordergrund steht offenbar nicht die Perspektive, ein Projektangebot böte die Chance die pädagogische Arbeit zu verbessern, im Vorder-grund steht vielmehr, dass für dessen Realisierung eine Reihe von Problemen be-steht, für deren Lösung ein unzumutbares Maß an Arbeit aufzubringen ist.

Das Problem der Passgenauigkeit zwischen Schule und Projektangebot be-zieht der Proband vor allem auf die Vereinbarkeit curricularer Stofffülle einerseits und dem zusätzlichen Programm eines Projekts andererseits. Ein Lehrer, der die cur-ricularen Verpflichtungen erfüllen und zugleich ein Zeitungsprojekt durchführen will, der wird das nicht können (…) das ist ’ne Quadratur des Kreises. Die Quadra-tur des Kreises ist eine Metapher für einen dilemmatischen Konflikt. Hat man einen Kreis und versucht, aus diesem ein Quadrat zu formen, so zerstört man mit den rech-ten Winkeln des Quadrats die Form des Kreises. Man kann nicht beides in einem Gegenstand haben. Ein Kreis kann nicht zugleich ein Quadrat sein, vice versa.30 Deshalb muss man sich entscheiden – entweder für den Kreis oder das Quadrat. Will man beide Formen habe, so ist man mit einem unlösbaren Konflikt konfrontiert.

Analog zu dieser Metapher kann man demnach die curriculare Pflicht nicht erfüllen und zugleich ein Zeitungsprojekt durchführen. Wer das will, will das Unmögliche.

Diese Unmöglichkeit kann man aber nicht sofort erkennen. Zunächst wird man an-nehmen, dass beide Ziele miteinander vereinbar sind, aber irgendwann im Verlauf der Arbeit wird man sagen, dass alles zusammen nicht geht. Wenn die

30 In der Geometrie stellt die Quadratur des Kreises ein klassisches Problem dar. Es geht dabei um die Unmöglichkeit mit endlich vielen Schritten aus einem Kreis ein Quadrat mit der gleichen Fläche zu konstruieren. Alltagssprachlich ist mit der Quadratur des Kreises ein unlösbares Problem gemeint.

98 keit aber nicht von vornherein, sondern erst irgendwann erkennbar ist, dann ist ein Projektangebot nicht nur ein Dilemma, sondern zugleich eine Falle. Und diese Falle wird auf jeden Fall zuschnappen, weil man automatisch zu der Erkenntnis gelangen wird, dass alles zusammen nicht geht. Mit seiner Prognose zeigt sich der Proband als warnender Aufklärer, der jeden zurechtweist, der das Unmögliche verlangt (so geht’s nicht).

Ein Zeitungsprojekt wird also verstanden als ein Zusatz zum bestehenden Lehrplan, das nicht mit den inhaltlichen Setzungen des Lehrplans synthetisiert wer-den kann. Vor diesem Hintergrund zeigt sich nochmals das Verständnis des Proban-den, dass ein Projektangebot ein Additiv darstellt, das nicht in den Lehrbetrieb inte-griert werden kann und deshalb als ein Fremdkörper zu verstehen ist. Der Grund für diese Unvereinbarkeit sieht der Proband vor allem in der Quantität des Zeitungspro-jekts, das offenbar zu groß dimensioniert ist:

Also, der arme Lehrer, der das in seinem Unterricht macht, jede Woche diese Pro-duktion erfüllen zu müssen, die dort verlangt wird, ähm, der wird Schwierigkeiten mit seinem Unterricht haben, der wird Schwierigkeiten haben, den Stoff zu erfüllen (…).

Zunächst fällt auf, dass der Lehrer als arm bezeichnet wird. Mit dieser näheren Be-stimmung wird normalerweise auf einen materiellen Mangel hingewiesen, der so gravierend ist, dass nicht die fundamentalen menschlichen Bedürfnisse befriedigt werden können. Diese Lesart kann hier aber nicht zutreffen, weil es in dem Interview generell nicht um die materielle Versorgung von Lehrern geht. Deshalb gilt die Les-art, dass der Proband in Form einer ironischen Distanz sein Mitleid gegenüber jenem Lehrer ausspricht. Einerseits hat er ein Mitgefühl gegenüber jenem imaginierten Leh-rer, der sich mit der Teilnahme an dem Projekt in eine missliche Situation gebracht hat. Andererseits steht dieses Mitgefühl im Widerspruch zur ironischen Distanz ge-genüber dem Kollegen, der unüberlegt und leichtsinnig sich auf ein Zeitungsprojekt eingelassen hat und nun Probleme lösen muss, die er sich mit der Teilnahme am Zei-tungsprojekt selbst eingehandelt hat. Das Problem, um das es konkret geht, ist das Produktionsvolumen des Projektes. Dieses wird als ein durch die Zeitung gesetztes und unveränderbares aufgefasst, zu dem sich ein Lehrer verpflichtet, wenn er an dem Projekt teilnimmt. Die Projektskizze der Zeitung wird nicht verstanden als eine

Opti-99 on, sondern als eine Setzung. Bemitleidenswert ist derjenige, der sich diesem Zwang und Druck aussetzt: Der arme Lehrer, (…) der das macht. Der ist nicht zu betrachten als derjenige, dem eine Chance geboten wird, sondern als einer, der durch seine ei-gene Unüberlegtheit Opfer des Angebots wird, das sich im Verlauf der Arbeit als eine Falle herausstellt (s.o.). Die Maßgabe, die der Proband zu Beginn des Interviews nennt, ein Projekt müsse an allen Ecken und Kanten bearbeitet werden, um es gän-gig zu machen, wird im konkreten Fall – hier: die quantitative Vereinbarkeit von Projekt und Curriculum – nicht wieder aufgegriffen. Daraus ist der Schluss zu ziehen ist, dass die Realisierungsbedingungen für ein Projekt, die der Proband zunächst nannte, als Hinderungsgründe zu verstehen sind. Es gibt in der Tat keine Möglich-keit, die Quadratur des Kreises pragmatisch aufzulösen.

Neben jener Unvereinbarkeit zwischen Projekt und Curriculum sieht der Pro-band einen weiteren Konflikt zwischen der curricularen Stofffülle einerseits und der gründlichen Erschließung der Sache andererseits. Auf diesen Konflikt kann man entweder nur auf die kaum realisierbare Art und Weise reagieren, man verlängerte die Schulzeit oder man ergreift die einzige realisierbare Option lebensbezogener Pro-jektthemen. Damit grenzt sich der Proband von Wassums Forderung der vertieften Bearbeitung des Stoffes ab. Das Vertiefen bezeichnet der Proband als einen fürchter-lichen Modus der Bearbeitung des schulischen Stoffes: Abgründe alltäglicher Didak-tik tun sich auf, wenn man sich für eine Vertiefung der Inhalte entscheidet. Wassums Position wird demnach als Horrorszenario dargestellt. Dass man es vermeiden sollte, muss mit der massiven ästhetisch-emotionalen Abwertung (fürchterlich) gar nicht mehr begründet werden. Wassums Anspruch ist angesichts der Stofffülle nicht zu bewältigen (man schafft das alles gar nicht). Diese Behauptung wird nicht argumen-tativ rationalisiert, sondern im Tonfall der Empörung als eine Zumutung deklariert (was will man bitte alles vertiefen). Hier macht der Proband insofern eine bemer-kenswerte Position deutlich, als dass er wider den Sinn schulischer Lehre angeht, der ja erst dadurch gegeben ist, dass man sich in der Schule der tiefgründigen Bearbei-tung der Sache verpflichtet sieht. Denn wo man auf die Tiefe verzichtet, herrscht Oberflächlichkeit. Die aber widerspricht grundlegend jeder Konzeption von Bildung, die als eine oberflächliche sich selbst verleugnet. Was der Proband zur Disposition stellt, ist ein Konstituens schulischer Lehre.

100 Der zweite Einwand gegen Wassums Position zielt auf den Nutzwert von Bildung.

Man kann den Schüler in der Befriedigung seines spezifischen Bildungsinteresses nicht lange warten lassen. Denn er

(…)

lernt ja nicht für irgendwas, was nach seinem Leben als Schüler kommt, wo er es dann anwenden kann, sondern er muss es gleichzeitig, während seiner Schulzeit läuft auch schon Leben ab und zwar ein röhrendes Leben.

Man lernt eben nicht für die Schule, sondern im utilitaristischen Sinne (wo er es dann anwenden kann) für das Leben – und zwar für das gegenwärtige Leben. Dieses Ar-gument richtet sich affektiv gegen Triebverzicht und rational gegen eine Vorstellung zweckfreier Bildung, die ihre Legitimität aus sich selbst bezieht. Bildung der Bildung wegen ist für den Probanden keine Legitimation für schulisches Lernen. Dieses Kon-kurrenzverhältnis zwischen utilitaristischer und emphatischer Bildung ist aber nicht sein Thema. Vielmehr geht es ihm um ein utilitaristisches Lernen für die jugendkul-turell motivierte Lebensführung in der Gegenwart anstelle eines Utilitarismus des für das Erwerbsleben Anwendbaren.

Das Gelernte muss der Schüler anwenden und umsetzen können, damit es dem Zweck des röhrenden Lebens dient. Zumindest annäherungsweise ist zu be-stimmen, was der Proband mit dem Begriff des röhrenden Lebens meinen könnte. In Anlehnung an die roaring twenties könnte dies eine metaphorische Steigerung des pulsierenden Lebens, also ein Ausdruck für eine intensive, triebgeleitete und aus-schweifende Lebensführung sein, die sich an dem Konsum kulturindustrieller Waren erfreut. Zu einer ähnlichen Lesart gelangt man, wenn man das röhrende Leben mit einem röhrenden, weil fortpflanzungswilligen Hirsch assoziiert, der kraftvoll und triebhaft nach der Befriedigung seiner sexuellen Lust strebt. Beiden Lesarten ist ge-meinsam, dass es in dieser Metaphorik um eine besondere Intensität einer affektiv und hedonistisch motivierten Lebensführung geht. Und diese steht offenbar im Wi-derspruch zu Wassums Anspruch einer gründlichen Bearbeitung klassischer Bil-dungsinhalte. Denn ist der Zweck nicht erfüllt, das Lernen müsse dem röhrenden Leben dienen, dann ist es auch mit der Lernerei und dem Vertiefen ein Problem. Mit diesem Bildungskonzept dementiert der Proband die Bereitschaft zum unmittelbaren

101 und affektiven Triebverzicht bzw. Möglichkeit intrinsischer Motivation zur Triebsublimierung im Interesse eigener Bildung. So vermittelt der Proband ein Bild vom Schüler, der den bildenden Gehalt herkömmlichen Unterrichts nicht erkennt oder zumindest nicht anerkennt. Was aus dessen Perspektive keinen Anwendungsbe-zug zum röhrenden Leben aufweist, hat keinen Wert und mit dieser utilitaristischen Wertlosigkeit kann es auch keine Tiefe geben. Tiefe ohne einen Gebrauchswert ist dann nur eine Pseudo-Tiefe. Deshalb sind lebensbezogene Projekte nicht einfach nur als eine Lösung, sondern als ultima ratio zu verstehen. Die Flucht in den Lebensbe-zug des Projekts lässt sich auch verstehen als ein Ausdruck von Antiintellektualis-mus, da die Auswahl des Bildungsgegenstands durch die affektive Lebenspraxis der Schüler limitiert ist. Lernt der Schüler nicht für das röhrende Leben, dann will er nicht für etwas Unbestimmtes (irgendetwas) lernen, also für einen ihm unbekannten Zweck. Was unter den Voraussetzungen des Probanden noch zu vermitteln ist, sind bestenfalls instrumentelle Fertigkeiten. Lebensbezogener Projektunterricht ist zu verstehen als ein diffuses Versprechen, es ließe sich damit ein Bildungsideal realisie-ren, an dem man bisher scheiterte. Doch bleibt dieses Versprechen ausschließlich rein formaler Natur. Material gesehen ist es gehaltlos, weil es sich unspezifisch und ohne inhaltliche Setzungen an dem Lebensbezug der Schüler orientiert.

Ohne einen Lebensbezug ist das Vertiefen vielleicht auch nur oberflächlich.

Das Argumentationsmuster des Probanden entspricht der Schülerfrage „Wofür kann ich das denn gebrauchen?“, mit der der Schüler den bildenden Gehalt des Unterrichts nicht erkennen kann, weil die Sache bei ihm nicht verfängt und der deshalb eintönig und mit Distanz zur Sache nach ihrem Gebrauchswert fragt. Was keinen Anwen-dungsbezug aufweist, hat keinen Wert und mit dieser utilitaristischen Wertlosigkeit kann man auch keine Tiefe generieren. Deshalb ist es mit der Lernerei und dem Ver-tiefen ein Problem. In der Umkehrung legt diese Kritik am verVer-tiefenden Unterricht den Schluss nahe, der Proband sähe in den lebensbezogenen Projektthemen eine Möglichkeit, mit der man dem Anspruch „echter Tiefe“ gerecht werden könnte.

P: Ähm und deswegen denke ich (…), wenn ich ein motivierendes Projekt habe, in dem ich halt Kenntnisse zu Shakespeare brauche, weil ich den Film interpretieren muss, werde ich mich vielleicht eher hinsetzen und Hintergrundinformationen mir einholen über Shakespeare, als wenn ich diese Motivation nicht habe, sondern

ge-102 zwungenermaßen anhand des Lehrers geführt, von Unterricht zu Unterricht vertiefe.

Ob das dann wirklich ankommt, wie sich der Lehrer das einbildet, das ist ein großes Fragezeichen.

Die Motivation wird durch das Projekt hervorgerufen (wenn ich ein motivie-rendes Projekt habe). Motivation ist demnach an die Form des Unterrichts gebunden, nicht an den Inhalt. Der Proband legt seine Imagination (wenn ich … habe) in Form eines inneren Monologs dar. Damit zeigt er, die Präferenzen der Schüler bestens zu kennen, so gut, dass zwischen seiner Rede und der der Schüler keine Differenz mehr besteht. Die innere Rede des Probanden ist also Ausdruck seines Vermögens, sich in die Perspektive seiner Schüler voll und ganz hineinversetzen zu können. Die Vorstel-lung, Schüler brauchten Kenntnisse zu Shakespeare, ist nicht auf ein intrinsisch mo-tiviertes Bedürfnis zurückzuführen, sondern auf eine Konzession gegenüber den An-forderungen des Lehrers und seinem didaktischen Programm (halt). Der Proband imaginiert also nicht den an Bildung interessierten Schüler, sondern denjenigen, der durch Erziehung gelernt hat, dass er auch ohne ein originäres Interesse an der Sache seinen Job als Schüler zu erledigen hat. So folgt der Schüler mit der Interpretation des Filmes der Einsicht, die ihm abverlangten Aufgaben abzuarbeiten (weil ich den Film interpretieren muss). Die Motivierung der Schüler wirkt unmittelbar auf ihre Bereitschaft zur Selbstdisziplinierung (werde ich mich vielleicht eher hinsetzen und Hintergrundinformationen mir einholen über Shakespeare).

Es wird an diesen Ausführungen deutlich, dass der Proband die Motivation und den Zwang einander nicht ausschließt. Es waltet der Zwang im Hinblick auf die Aneignung der Inhalte. Das Lernen selbst ist und bleibt das unumgehbare Übel. Die Motivierung geht von der Form des Unterrichts aus, dem Projekt. Dieses ist die mo-tivationale Bedingung für jenes. Damit die Schüler überhaupt die Sache bearbeiten, müssen sie mit der Form geködert werden. Gleichwohl wird mit diesen Überlegun-gen des Probanden der Zwang der Wassum’schen Konzeption des vertiefenden Un-terrichts nicht aufgehoben, sondern durch die Form nur abgedämpft. Eine Vorstel-lung, nach der sich die Schüler vom Zwang emanzipieren, indem sie ein souveränes Interesse zur Sache aufbauen, vermittelt der Proband nicht. Offenbar ist ein Schüler, der sich derart zur Sache des Unterrichts verhält, dem Probanden fremd. Dieser Zu-stand ist kein Anlass zu Kritik, sondern dazu, sich an den dem Schüler unterstellten

103 Antiintellektualismus anzupassen. So erzieht der Lehrer nicht den Schüler, sondern der Schüler den Lehrer. Dabei bleibt offen, in welcher Weise die Überlegungen des Probanden auf ein Projekt verweisen, doch geht er wohl davon aus, dass der Einsatz des Mediums Film dem schulischen Lernen eine projektartige Form verleiht und mit diesem Medium die Schüler zur Mitarbeit motiviert werden. Die Gemeinsamkeit zwischen dieser Projektskizze und dem Leben der Schüler, mit dem er den Anspruch lebensbezogener Projektthemen einlöst, ist das Schauen eines Films, also die didakti-sche Einbeziehung eines Mediums, das aus seiner Perspektive im Lebensalltag der Kinder eine hohe Attraktivität haben könnte. Damit ist dann wohl das Kriterium des Lebensbezugs erfüllt und die Frage der Motivierung der Schüler beantwortet. Der Anspruch, Unterricht müsse den Zwecken des röhrenden Lebens dienen, wird mit einer Variante eines bekannten Spektrums didaktischer Arrangements eingelöst, in der das Medium Film eine exponierte Stellung einnimmt. Die Motivierung durch dieses Medium ruft bei den Schülern eine Bereitschaft hervor, dem Unvermeidbaren, der Aneignung von Kenntnissen, halt gerecht zu werden. Das Medium Film ist der Motivator, dessentwegen die Schüler das tun, was für sie einen Zwang darstellt, näm-lich sich Sachkenntnisse zum Film anzueignen. So geht die pädagogische Perspekti-ve in einer psychologischen auf, mit der der Proband auf die Motivation zum Han-deln statt auf die Bildung der Schüler zielt.

Schulisches Lernen im Rahmen eines motivierenden Projektes wird mit dem Einholen von Hintergrundinformationen realisiert. Das zielt pragmatisch auf die Be-antwortung von Fragen wie: Wann und wo hat Shakespeare gelebt? Welches Leitmo-tiv hatte das Buch, nach dem der Film gedreht wurde? Das Einholen von Hinter-grundinformationen verweist auf einen Modus, in dem es um die schnelle und un-komplizierte Besorgung von instrumentellen Informationen oder Fakten geht. Die Vorstellung eines im Vergleich zur „Vertiefungsdidaktik“ besseren Unterrichts macht der Proband an einer Alternative fest, die in ihrer Konkretisierung de facto eine Spielart des Bekannten ist, und damit zugleich auf inhaltliche Tiefe verzichtet.

Hintergrundinformationen einholen erinnert an eine operative Leistung wie das schnelle Anklicken, Ausdrucken und Memorieren eines Wikipedia-Eintrags. Das lebensbezogene Projekt dient einerseits der Legitimation dafür, der tiefgründigen Lektüre Kants eine Absage zu erteilen, andererseits erweist sich das lebensbezogene Projekt als eine Form der Beschäftigung der Schüler mit der Sache, mit der die