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4.2 Entwicklungen der Abhängigkeitsbehandlung ab 1968

4.2.2 Evidenzbasierung und Leitlinien: Behandlung durch Wissenschaft

Evidenzbasierte Behandlung als Zukunftsvision

Die Forschung zur Etablierung von Leitlinien und zur Entwicklung von Manualen wird als Richtung weisend und Erfolg versprechend bezeichnet (vgl. Mann 2008). Küfner (2007) sieht dies ähnlich, weist aber auch auf Probleme hin. Er hält die Entwicklung von Leitlinien für einen ersten Schritt zur Evidenzbasierung der Suchttherapie und begrüßt dies. Gleichzeitig gibt es Einflussfaktoren (er benennt z. B. Risiko- und Schutzfaktoren wie ein „soziales Umfeld“), die sich aus einer Vielzahl von Gründen, bis hin zu ethischen Gründen, einer Erforschung im „Goldstandard“ der randomisierten Doppelblindstudie entziehen. Dennoch sieht er einen hohen Bedarf, diese Faktoren, gegebenenfalls in anderer Form, in die Forschung einzubeziehen: „Daraus ergibt sich die Forderung nach Meta-Analysen von Risiko- und Schutzfaktoren, die Forderung nach einer Kategorisierung hinsichtlich der Veränderbarkeit dieser Faktoren und die Diskussion einer Bewertung solcher Risiko- und Schutzfaktoren hinsichtlich der Kausalitätsnähe. Auch bezüglich der Erfolgskriterien einer Evaluationsstudie ergäbe sich eine Erweiterung von den Symptomen der Störung hin zu Risiko- und Schutzfaktoren. Das würde zwar eine Komplexitätserhöhung bedeuten, könnte aber eher Aussagen über Wirkfaktoren und längerfristige Prognosen ermöglichen“ (Küfner 2007, S. 57).

Einerseits wird angenommen, dass die Evidenzbasierung der kommende etablierte Überbau ist, in dessen Rahmen sich die Auseinandersetzung um Versorgung in Zukunft bewegen wird.

Andererseits bestehen eine Reihe von noch nicht gelösten Problemen, wie z. B. den Mangel an fehlenden Studien, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen (vgl. Degkwitz 2008).

Diese liegen fast nur im Bereich der pharmakologischen Therapien (z. B. Substitution) vor.

Hinzu kommt eine fragliche Übertragbarkeit von Ergebnissen, die an ausgewählten Populationen oder in anderen Kulturen erzielt wurden und die mangelnde Implementierung und damit „Praxistestung“ von wissenschaftlichen Erkenntnissen in der Praxis (vgl. Degkwitz

2008). Für den gesamten Bereich der Opioidabhängigen besteht ein Mangel an evidenzbasierten Studien zur Wirksamkeit von Psychotherapie (vgl. Vogel et al. 2010).

Hier stellt sich die Frage, ob dies alles „Versäumnisse“ abbildet, oder nicht auch ein Ausdruck der gänzlich unterschiedlichen Abläufe und Wirkmechanismen in Studien und in der Praxis einer Fachklinik ist. Auch evidenzbasierte Forschung sollte nicht nur interessengeleitet (wie häufig in der Pharmaforschung) durchgeführt werden, sondern sich an den Fragen der Anwender orientieren (vgl. Behrendt 2008). Möglicherweise hat „gute Suchtarbeit“ (vgl.

Uchtenhagen 2008) recht wenig mit dem Setting eines der üblichen Forschungsdesigns zu tun, sondern geht darüber hinaus. Insbesondere betont Uchtenhagen den Einfluss von situativen und individuellen Umweltfaktoren einerseits und hält andererseits fest, dass gerade unter diesen „situativen“ Einflüssen die Evidenzbasis nicht immer hilfreich oder anwendbar ist.

Eine Metaanalyse der Forschungsergebnisse aus dem angloamerikanischen Raum seit 1999 erbringt keine Belege für eine Verbesserung der Versorgungspraxis suchtkranker Menschen durch eine stärkere Modularisierung (als Folge evidenzbasierter Methoden) der Behandlung (vgl. Lindenmeyer 2008a). Insgesamt bilanziert Lindenmeyer nur geringe Fortschritte in der Behandlung Suchtkranker durch die in den letzten Jahren gesammelten Erkenntnisse:

„Stagnation der Suchtbehandlung: Keine Fortschritte trotz evidenzbasierter Verfahren. Keine gesicherten Wirkvariablen. Keine gesicherten Indikationskriterien“ (Lindenmeyer 2011, Folie 5).

Diskurs um die Erstellung von Leitlinien

Handlungen und Entscheidungen sollten durch wissenschaftliche Ergebnisse belegt sein. Die Zusammenfassung dieser Ergebnisse in Leitlinien weisen eine Reihe von Vor- und Nachteile auf (vgl. Petermann 2008).

• Eine gelungene Leitlinie dient der Optimierung der klinischen Praxis, der Verbesserung der Kommunikation zwischen Forschung und Praxis und ökonomischerer Behandlung durch Vermeidung von wirkungslosen Therapien.

• Leitlinien sind auch eine Hilfe für den Patienten, da unnötige Maßnahmen vermieden werden. Der Patient erhält eine optimale Behandlung und kann sogar einen Rechtsanspruch auf Anwendung wissenschaftlich gesicherter Verfahren begründen.

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• Leitlinien können eine Hilfe für den Therapeuten sein. So kann er in schwierigen Situationen Unterstützung bei Entscheidungen erfahren. Dadurch wird seine fachliche Kompetenz erhöht. Zudem gewinnt er eine rechtliche Sicherheit wenn er sich an Leitlinien orientiert hat.

• Aus Sicht der Kostenträger stellen Leitlinien ebenfalls eine Hilfe zur optimalen Nutzung der für die Rehabilitation zur Verfügung stehenden Mittel dar. Leitlinien können dabei als Kontrollinstrumente eingesetzt werden.

Es existieren typische Grundprobleme von Rehabilitations-Leitlinien.

• Nur einzelne Therapiemodule sind in ihrer Wirksamkeit empirisch belegt.

• Es gibt Übertragungsprobleme: empirisch abgesicherte Module sind häufig nicht in dem Setting einer Rehabilitationsklinik überprüft worden, sondern z. B. im Rahmen einer Institutsambulanz an einer Universität. Die stationäre Rehabilitation ist eine sehr komplexe Leistung, die nicht einem wissenschaftlichen Design entspricht.

• Die Entwicklung von Leitlinien ist problematisch, die Abgrenzung von Leitlinien zu Standards und Richtlinien ist unscharf.

• Es gibt einen großen Mangel an empirischer Evidenz. Dies führt dazu, dass Leitlinien oft fehlerhaft sind und sich Leitlinien verschiedener Fachgesellschaften zu einem Störungsbild widersprechen können.

• Die Leitlinienerstellung ist sehr aufwendig und teuer. Viele Leitlinien sind auf Grund ihrer langen Entstehungsgeschichte bei Veröffentlichung bereits veraltet und beinhalten nicht neuere, wesentliche Forschungserkenntnisse.

• In der Anwendung von Leitlinien entstehen Probleme durch Einschränkungen der therapeutischen Handlungsfreiheit, denn gerade Sonderfälle und Ausnahmen sind in Leitlinien nicht berücksichtigt. Insbesondere widerspricht eine Standardisierung und Ökonomisierung der Behandlung der notwendigen Individualisierung des Angebotes für eine optimale Rehabilitation.

Erste Erfahrungen mit bestehenden Leitlinien gibt es z. B. in der Rehabilitation bei koronaren Herzerkrankungen (vgl. Lubenow 2005). Hier zeigen sich für Kliniken, die sich eng an den Leitlinien orientieren, eher schlechtere Behandlungsergebnisse als für Kliniken, die stark von den Leitlinien in ihren Therapien abweichen. Dennoch wird seitens des Rentenversicherungsträgers eine stärkere Standardisierung der Fachkliniken und der Behandlungsinhalte und Abläufe gefordert und angestrebt. Die evidenzbasierten Leitlinien

wurden zwar als Qualitätsmanagementinstrument und nicht als ökonomisches Instrument entwickelt, die Behandlungsbudgets sind aber begrenzt und so wird von der Rentenversicherung davon ausgegangen, dass durch die Leitlinien Umschichtung zu den anerkannten Angeboten stattfinden werden. Die DRV-Bund fordert die Umsetzung von Leitlinien und wünscht sich eine geringere Heterogenität und wesentlich stärkere Standardisierung der Einrichtungen (vgl. Korsukewitz 2008). Dahinter steht die Überlegung, dass zum gleichen Indikationsbereich Rehabilitationseinrichtungen nicht unterschiedlich und dennoch ähnlich erfolgreich vorgehen können. Eine Haltung, die stark an die überwunden geglaubte „Königsweg“ Diskussion der Vergangenheit in Bezug auf Substitutionstherapie (s.

u., Kapitel 4.4.1) oder auch den sogenannten Schulenstreit in der Psychotherapie erinnert.

Die Reduktion der als unplausibel bezeichneten Varianz zwischen den Einrichtungen ist ein wesentliches Ziel der Reha-Qualtitätssicherung der DRV (vgl. Beckmann et al., 2009). Der Erfolg der Behandlungen ist belegt, ein Zusammenhang zwischen Erfolg einer Einrichtung und der mehr oder weniger engen Orientierung an den Reha-Therapiestandards (RTS) oder der Menge der erworbenen „Qualitätspunkte“ einer Einrichtung ist aber weiter nicht nachgewiesen, sondern wird nur postuliert oder vermutet (vgl. Lindow et al., 2011).

Leitlinien für die Entwöhnung von Drogenabhängigen liegen noch nicht vor, in Bezug auf Alkoholkranke existiert eine Pilotversion: Leitlinien für die medizinische Rehabilitation, Reha-Therapiestandards Alkoholabhängigkeit – Pilotversion (Deutsche Rentenversicherung, 2009).

Notwendige philosophische Erweiterung der „Evidenzbasierung“

Die tatsächliche Komplexität der Realität erschwert die empirische Validierung einleuchtender Modelle wie Becks kognitives Modell (vgl. Beck 1976) oder Marlatts sozial-kognitives Rückfallmodell (vgl. Marlatt 1985) und erbringt sogar abweichende Befunde (vgl.

Lindenmeyer 2008b). Die nachfolgenden Modelle wiederum, die diese Befunde integrieren, erschweren mit ihrer Komplexität ihre Anwendung und die Ableitung verifizierbarer Hypothesen. Eine mögliche Haltung, um eine richtige, aber praktisch wertlose Erkenntnis wie ein „Alles-hängt-mit-allem-zusammen“ zu vermeiden könnte die Konzentration auf die wichtigsten und entscheidenden Einflussfaktoren sein unter bewusster Vernachlässigung von Interaktionen und weniger relevanten Faktoren.

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Die Vernachlässigung von Wechselwirkungen ist jedoch kein gangbarer Weg, wenn diese gerade die psychologische Realität abbilden (vgl. Tretter 2009). Die Grenzen der linearen Test-Theorien der Korrelationsstatistiken sind zunehmend deutlich geworden. Die systematische Vernachlässigung z. B. der Konzepte von Grawe (2004) im Sinne einer integrativen psychologischen Theorie führt zu Modellen, die zu kurz greifen. „Die Zentrierung der psychologischen Therapie der Sucht auf Konzepte, die letztlich in Flussdiagrammen und Schaltkreisen dargestellt werden, wie auch auf modulär strukturierte Therapieprogramme, mit der Fokussierung auf das Verhalten, führt zur Vernachlässigung des Patienten als subtil erlebendes Subjekt“ (Tretter 2009, S.57). Tretter zieht den Schluss:

„Sicher scheint mir zu sein, dass es eine wichtige Investition ist, die suchtbezogenen systemtheoretischen Perspektiven weiter auszubauen und parallel dazu die wissenschaftsphilosophische Reflektion zu pflegen“ (Tretter 2009, S. 58). In der Verhaltenstherapie werden ähnliche Positionen vertreten. Unbestritten ist, dass empirisch validierte, störungsspezifisch Ansätze Fortschritte erbrachten. Für einen großen Teil psychischer Störungen liegen überprüfte, manualisierte Behandlungskonzepte vor.

Problematisch sind dabei nicht berücksichtigte Wechselwirkungen (ein Angstpatient mit Borderline-Akzentuierung benötigt wahrscheinlich eine andere Behandlung, als ein Angstpatient mit einer andere komorbiden Erkrankung). Die Berücksichtigung von Wechselwirkungen ist einerseits kaum im erforderlichen Maß praktisch leistbar, andererseits bei psychisch kranken Menscher sehr häufig. Hinzu kommt die Vernachlässigung unspezifischer Wirkfaktoren in der Behandlung bei störungsspezifischen Ansätzen. Die Grenzen der Behandlungsverbesserung durch die Erstellung weiterer manualisierter Behandlungskonzepte scheint erreicht (vgl. Caspar 2011).

Es ist ein Dilemma, dass einerseits der Behandlungsspielraum durch evidenzbasiertes Vorgehen eingeschränkt wird, andererseits aber individualisierte Behandlungsstrategien gefordert werden unter Einbezug der individuellen Lebensbedingungen. Alleiniges evidenzbasiertes Vorgehen greift zu kurz (vgl. Günthner 2008). Als ein Beispiel benennt Günthner die Schwierigkeiten, die bei der Umsetzung von Modellen entstehen, die nicht nur linear eine Methode verfolgen, wie beim CRA (Community Reinforcement Approach): Bei der Behandlung von Abhängigkeiten gibt es weder klare Zuständigkeiten (Krankenkasse, Rentenversicherung, Sozialhilfeträger, Pflegekassen, je nach individueller Fallgestaltung), noch sind wichtige Einflussfaktoren auf die Behandlung (Wohnung, Arbeit – hier ist die Arbeitsverwaltung „zuständig“ für die Vermittlung z. B. in fördernde Maßnahmen) in den

Therapiekonzepten und der Forschung konzeptuell verankert. „Ein Modell psychotherapeutischen Handelns unter Berücksichtigung verfügbarer Evidenz, gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, des Settings und der Biografien der Beteiligten benötigt in der Suchttherapie eine fundierte philosophische Basis, in gemeinsamer Verantwortung mit all denen, die sich gleichfalls um abhängigkeitskranke Menschen kümmern und diesen ihre Hilfe anbieten“ (Günthner 2008, S. 61). Dabei fordert er die achtsame und partnerschaftliche Verständigung der Beteiligten und den Einbezug der Rahmenbedingungen, also die Berücksichtigung der „Wechselwirkungen“, die nicht nur zufällig entstehen, sondern durch die Abstimmung der Beteiligten untereinander kontrolliert und systematisch beeinflusst werden sollten.

Einerseits sollte das therapeutische Vorgehen also wissenschaftlich begründet und möglichst gut erforscht und belegt sein. Andererseits entzieht sich ein komplexes suchttherapeutiches Handeln durch die Vielzahl der möglichen Wirkfaktoren und der Dynamik der Faktoren und durch die Bedeutung der individuellen Therapiebedingungen einer Erforschung, die den herkömmlichen Standards der randomisierten Doppelblindstudie folgt.

Die gängigen diagnostischen Kriterien, wie die Unterscheidung der Patienten nach Ihrer

„Hauptdroge“, z. B. zwischen cannabisabhängigen und opiatabhängigen Menschen, die in klassischen Forschungsdesigns klare Unterschiede ergibt, verwischen sich in der Alltagspraxis der Einrichtungen. In einer Evaluationsstudie unter Praxisbedingungen konnte beispielsweise gezeigt werden, dass zumindest in Bezug auf sogenannte Partydrogen und Cannabis die Substanzen keine unterschiedlichen Behandlungsangebote nahelegen: „Es ergeben sich zu beiden Messzeitpunkten keinerlei signifikante Gruppenunterschiede bei den substanzbezogenen und psychischen Merkmalen. Angst und interpersonale Probleme stellen die größten Belastungsfaktoren dar. Insgesamt ergeben sich für allgemeine psychische Faktoren höhere Belastungen als für substanzbezogene. Beide Gruppen profitieren in hohem Ausmaß von der stationären Behandlung“ (Dau et al. 2009, S. 339). Die Menschen in stationären Einrichtungen scheinen einer Vielzahl von Einflüssen zu unterliegen, wobei Faktoren, die in direktem Zusammenhang mit dem Suchtmittel stehen, auch von geringerer Bedeutung als z. B. interpersonelle Schwierigkeiten sein können.

Vor allem durch die vom Bundesministerium geförderten Suchtforschungsverbünde hat seit

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verbunden ist die Hoffnung, dass sich in Zukunft Therapien und Prävention stärker an belastbaren Daten, die wissenschaftliche Suchtmodelle unterstützen, orientieren. Die Erwartung wird formuliert, dass sich die Wechselwirkung zwischen „genetischer Matrix“, individueller Lerngeschichte und Umwelteinflüssen besser klären lässt und hieraus individuellere Behandlungsansätze entstehen (vgl. Mann 2010). Gerade Wechselwirkungen werden aber in den klassischen Designs eher nicht erforscht.

Es besteht die Notwendigkeit, eine sinnvolle Synthese zwischen der Orientierung an empirischen Veröffentlichungen einerseits und einer notwendigen Orientierung an der Beziehung zwischen Patient und Behandler andererseits zu finden. Erfolgreiche Therapie ist mehr als die Addition von Maßnahmen. „Grundlage für jede gelingende Therapie ist eine Beziehung zwischen Patient und Therapeut, die dem Patienten die Kraft gibt, auch schwere Aufgaben zu wagen. Für eine Beziehung braucht man ganze Menschen, die sich begegnen.

Beziehung ist insofern der Gegenpol zu fragmentierter Behandlung. Wir wollen versuchen, das Spannungsfeld zwischen empirisch belegten Techniken und persönlicher Beziehung auszuloten“ (Beutel 2011, S. 3).

Die Hoffnung, allein mit Forschung, die den herkömmlichen Standards der randomisierten Doppelblindstudie folgt, ausreichend Erkenntnisgewinn für eine allgemeingültige, fundierte Suchttherapie zu erzielen, hat sich bisher nicht erfüllt. Weiterführend könnte die Einbettung der vorhandenen Erkenntnisse in ein allgemeingültiges, konsensuales System oder Modell sein, das sowohl nicht erforschte, aber gleichwohl relevante Faktoren wie „das soziale Setting“ oder die „konkrete Umgebung“ des Patienten erfasst, und so die sinnvoll Anwendung evidenzbasierter Methoden erlaubt, als auch Wechselwirkungen zwischen Faktoren zu beschreiben versucht. Ein solches Modell könnte die ICF darstellen.

4.3 ICF

Die „internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)“ versucht, die Begrenzung zu überwinden, die sich aus dem Widerspruch ergibt, entweder individuelle Bedingungen der Erkrankung und der Behinderung anzunehmen, oder die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als wesentlichen Faktor für die Entstehung einer Behinderung zu benennen. Das biopsychosoziale Modell der ICF wird nicht nur additiv verstanden, d.h. zu biologischen und medizinischen Problemen kommen soziale oder

psychische Schwierigkeiten hinzu, sondern es wird eine „komplexe Beziehung zwischen den Gesundheitsproblemen eines Menschen und seinen personenbezogenen Faktoren einerseits und den externen Faktoren, welche die Umstände repräsentieren, unter denen das Individuum lebt andererseits“ (ICF 2005, S. 20/ pdf S. 22) angenommen.

Die ICF, die 2001 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verabschiedet und zur Anwendung empfohlen wurde, definiert den Begriff der „funktionalen Gesundheit“ als Ergebnis der Wechselwirkung zwischen den Gesundheitsproblemen einer Person, Umweltfaktoren und personenbezogenen Faktoren. Sie geht damit über die ICD (Internationale Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) hinaus.

Die ICD ermöglicht die eindeutige Kommunikation über Krankheiten innerhalb und zwischen Professionen und Institutionen. Sie findet aber dort ihre Grenzen, wo nicht nur über die Krankheit, sondern über die mit ihnen einhergehenden funktionalen Probleme kommuniziert werden soll. Durch die zunehmende Lebenserwartung und Prävalenz chronischer Erkrankungen ergibt sich die Notwendigkeit, auch für funktionale Probleme eine einheitliche Sprache zu entwickeln, die von allen professionellen Gruppen im sozialen Sicherungssystem verstanden wird. Die ICF versucht, eine solche Sprache zur Verfügung zu stellen. Dies ist insoweit gelungen, dass das SGB IX wesentlich auf die Begrifflichkeit der ICF zurückgreift (vgl. Schuntermann 2003).

Dabei handelt es sich nicht um eine Erweiterung der ICD, sondern um einen Paradigmenwechsel. Eine Diagnose nach ICD ist für die medizinische Rehabilitation eine handlungsleitende Voraussetzung. Im Sinne der ICD ist eine Krankheit jedoch dem Individuum zugeordnet und Kontextfaktoren haben bestenfalls eine nachrangige Bedeutung.

„Die bisher dominante lineare Symptom- und Defizitorientierte Perspektive von Krankheit, repräsentiert durch die ICD und die sich hieraus entwickelnden Therapien als Ausdruck einer zum Teil jahrhundertealten Tradition von Diagnose und Therapie, werden durch die ICF zugunsten einer ganzheitlich biopsychosozialen Beachtung des Menschen in seinem gesamten Kontext verändert. Krankheiten [...] stehen nicht mehr als isolierter, dysfunktionaler Teil des Menschen im Vordergrund von Diagnose und Therapie, sondern werden vielmehr als Teil des Lebens, des Menschen und seines Kontextes verstanden“ (Stachowske 2008, S.60). D. h., ob und wie intensiv eine Behandlung durchgeführt wird, hängt überwiegend von der Interaktion von Krankheit und Kontextfaktoren ab.

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In der ICF selbst ist hierzu aufgeführt: „Das medizinische Modell betrachtet ‚Behinderung’

als ein Problem einer Person, welches unmittelbar von einer Krankheit [...] verursacht wird [...]. Das Management von Behinderung zielt auf Heilung, Anpassung oder Verhaltensänderung des Menschen ab. [...] Das soziale Modell von Behinderung hingegen betrachtet Behinderung hauptsächlich als ein gesellschaftlich verursachtes Problem und im Wesentlichen als eine Frage der vollen Integration Betroffener in die Gesellschaft, hierbei ist

‚Behinderung’ kein Merkmal einer Person, sondern ein komplexes Geflecht von Bedingungen, von denen viele vom gesellschaftlichen Umfeld geschaffen werden. Daher erfordert die Handhabung dieses Problems soziales Handeln und es gehört zu der gemeinschaftlichen Verantwortung der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit, die Umwelt so zu gestalten, wie es für eine volle Partizipation (Teilhabe) der Patienten mit Behinderung in allen Bereichen des sozialen Lebens erforderlich ist“ (ICF 2005, pdf S. 24f). Damit ist ein hoher Anspruch formuliert.