3. Das europäische Bedrohungsbewusstsein von 1890 bis 1914
5.1 Europa-Idee und Europa-Begriff von Alfons Paquet
5. „Schwarze Gefahr“ und europäischer Imperialismus bei Alfons Paquet
begonnen hat, Europa zu entdecken“625, postulierte er. Der Hinweis auf den asiatischen Ursprung Europas diente Paquet zur Bekräftigung seiner These, dass Europa als eine Halbinsel des eurasischen Kontinents aufzufassen sei. „Im Grunde empfinden wir es immer deutlicher“, so Paquet, „dass wir in Europa eigentlich nur eine verhältnismäßig kleine, stark gegliederte, von der Gunst eines verhältnismäßig kühlen Klimas beeinflusste Halbinsel der gemeinsamen großen Heimat, der großen asiatischen Landscholle, bewohnen.“626 Aufschlussreich für den genannten Aspekt ist zudem ein Fragment aus seinem Tagebuch, in dem Paquet die Europäer als „einen weißen Stamm“ der Eurasier bezeichnet.627
Die Sicht auf Europa als Teil des asiatischen Kontinents durch Paquet findet in der Fachliteratur keine Erwähnung. Dabei lässt sich gerade hiermit seiner Charakterisierung als Vertreter des europäischen Chauvinismus, wie etwa bei Paul Michael Lützeler628 entgegentreten. Nicht ohne Recht nennt jedoch Lützeler das Plädoyer Paquets für die wirtschaftliche Durchdringung Chinas und damit seine Kolonisierung durch europäische Mächte. Der Hinweis Paquets auf „die asiatische Landscholle“ als die „gemeinsame große Heimat“ der Europäer und der Asiaten629 und seine Überzeugung von ihrer kulturellen Ebenbürtigkeit hinderten ihn andererseits nicht daran, koloniale Interessen der europäischen Mächte in Asien zu befürworten. In diesem Zwiespalt äußert sich die Widersprüchlichkeit der Haltung Paquets gegenüber dem „asiatischen Gesamtproblem“630.
Kennzeichnend für die Zeitdiagnosen Paquets um 1900 ist sein globaler Denkhorizont.
Besonders viel Interesse schenkte der Schriftsteller dem imperialem Impetus der Epoche und den rasanten Modernisierungsprozessen auf dem Gebiet der Technik. Beide Aspekte wurden von Paquet insbesondere im Rahmen seiner Tätigkeit als Journalist und Reiseberichterstatter reflektiert und schriftlich verarbeitet. Dass der Schriftsteller in globalen Zusammenhängen dachte, wird insbesondere anhand seiner Aufmerksamkeit gegenüber der Entwicklung im Nahen und Fernen Osten sichtbar, wie der Bedeutung, die er denen für den Wandel der Machtverhältnisse in der Welt zuerkannt hat. Auch die Analyse seiner Ansichten über den europäischen Imperialismus und seine kolonialen Interessen erweist sich, wie an anderer Stelle gezeigt wird, für die Untersuchung der globalen Überlegungen Paquets ergebnisreich.
Exemplarisch für sein lebhaftes Interesse für technische Modernisierungsprozesse ist seine
625 Paquet, Asiatische Reibungen, S. VI.
626 Alfons Paquet, Asiatische Perspektive, in: Die Hilfe, 27. 11. 1913, Nr. 48, S. 763.
627 Paquet, Tagebücher, 23. XII. 1905, unveröffentlicht, Nachlass Alfons Paquet STUB Frankfurt a. M., A7.
628 Siehe Lützeler, Die Schriftsteller und Europa, S. 221.
629 Beide Zitate aus: Paquet, Asiatische Perspektive, S. 763.
630 Alfons Paquet, Asiatische Perspektive. Eine Rezension., in: Die Hilfe, 27. 11. 1913, Nr. 48, S. 763.
Faszination angesichts des modernen Verkehrswesens. Symptomatisch hierfür ist die Zielsetzung seiner ersten Reise nach Asien, nämlich der Ehrgeiz Paquets, als einer der ersten Europäer über die transsibirische Bahn zu berichten.631 Das ausgeprägte Interesse des Schriftstellers für technische Neuerungen manifestiert sich auch in der Aufmerksamkeit, die er der technischen Infrastruktur in den modernen Metropolen entgegen brachte632. Sein Selbstverständnis war überhaupt das eines modernen Stadtmenschen.633 Über sein besonderes Interesse an den Städten berichtete er retrospektiv in seiner „Skizze zu einem Selbstbild“:
„Alle Städte wollen irgendwie das Unmögliche. Sie sind tragisch. Deshalb lieb ich sie. Ich lernte Städte durchschauen wie Personen. Aus einem Trieb zum Geselligen, der durchaus nicht eine Neigung zur Geselligkeit ist, finde ich das Wesen der Städte am meisten mir gemäß.“634
Die Aufenthalte Paquets in europäischen und außereuropäischen Großstädten haben sein Weltbild wesentlich geprägt. Diese Großstadterlebnisse bekräftigten sein ausgesprochenes Interesse für den modernen Wandel in der Welt. Darüber hinaus liefern sie ein aussagekräftiges Zeugnis von seiner distanzierten Haltung gegenüber der Zivilisationsmüdigkeit der Jahrhundertwende, welche für Literaten und Künstler sonst weitgehend kennzeichnend war.
Die Einwirkungen der modernen technischen Entwicklung auf die Europa-Idee um 1900 lassen sich exemplarisch an der damals verbreiteten Popularität des Ausstellungswesens verdeutlichen. Hierfür kann man auch mit Alfons Paquet argumentieren, wie das folgende Fragment aus seinem publizistischen Spätwerk erkennen lässt:
„Isolierte Ausstellungen, Ausstellungen als Selbstzweck ohne Anschluss an tiefere Strömungen der Zeit verbrauchen die Aufmerksamkeit der Besucher zu rasch; erst die experimentelle Idee, die in die Zukunft weisende Linie bringt ihnen den Zulauf den sie brauchen“635.
Nach seiner Überzeugung sollten die Weltausstellungen nicht nur die technologische Entwicklung in der Welt fördern sondern auch zu einem besseren Verständnis zwischen den Völkern beitragen. Zielstellung auch eine völkerverbindende Funktion übernehmen. Dagegen
631 Die erste Asien-Reise Paquets erfolgte im Jahre 1903, als die sog. „Chinesische Osteisenbahn“, die durch die Mandschurei nach Wladiwostok führte, fertiggestellt wurde.
632 Die technisch hochmoderne Infrastruktur einer europäischen Metropole hat Paquet erstmalig im Alter von 15 Jahren hautnah erleben können, als er aus Anlass seiner Ausbildung als Kaufmann mehrere Monate in London verbrachte.
633 Ein wichtiges Dokument für die Untersuchung der Faszination Paquets für die moderne Stadt liefert: Alfons Paquet, Städte, Landschaften und ewige Bewegungen, Hamburg 1927. Dieses Werk enthält unter anderem einige frühe Aufsätze des Autors, die in dem Band „Li oder im Neuen Osten“ (1912) veröffentlicht wurden.
634 Bibliographie Alfons Paquet, S. 10. Hanns Martin Elster will das besondere Interesse Paquets für die moderne Stadt nicht zuletzt auch mit seiner Familiengeschichte begründen: „Er gehörte mit all seinen Vorfahren, die väterlicherseits Bäckerwirte, Schmiede, Schulmeister in Landstädten, Gerber, Advokaten, Soldaten gewesen waren, zu dem Menschenschlag, dem Städte bleibender, wichtiger als Staaten sind. Von den Eltern her prägte sich sein Städtertum, das bestimmend für sein Leben und Schaffen wurde.“, in: Elster, Alfons Paquet, S. 6.
635 Alfons Paquet, Wandlungen und Entwicklungen im Ausstellungswesen, in: Ausstellung und Messe in Recht und Wirtschaft der Zeit. Veröffentlichungen des Deutschen Ausstellungs- und Messe-Amtes, 1930, H. 6, S. 69.
hat Paquet die Absicht, die Ausstellungen um des „äußeren Effekts“ willen zu veranstalten, wie schon durch Brenner, Cepl-Kaufmann und Thöne nachgewiesen wurde, sein Leben lang scharf kritisiert.636 Den ersten Einblick in die moderne Ausstellungspraxis gewann Paquet im Jahre 1902 als Redakteur des Ausstellungs-Tageblattes der Düsseldorfer Industrie- und Gewerbeausstellung637, was ihm ermöglichte, als Korrespondent der „Frankfurter Zeitung“ zu den Weltausstellungen in Saint Louis und Lüttich entsandt zu werden. Von seinen Kenntnissen auf dem Gebiet der Weltausstellungen und seinem ausgesprochenen Interesse für diese Problematik zeugt neben seiner journalistischen Tätigkeit auch das Thema seiner Doktorarbeit: „Das Ausstellungsproblem in der Volkswirtschaft“.638 Doch ein Verbleiben in der Forschung entsprach nicht seinem Charakter als tatkräftiger Mensch.639
Ein lebhaftes Interesse widmete Paquet auch dem modernen Verkehrswesen. Für sein Renommee als Spezialist auf den beiden Gebieten, nämlich der Ausstellungsproblematik und des modernen Verkehrswesens, spricht die Tatsache, dass ihm am Vorabend des Ersten Weltkrieges die Aufgabe der Planung einer großen Ausstellung über „Weltwirtschaft und Verkehr“ aufgetragen wurde, die in Frankfurt a. M. veranstaltet werden sollte. Das hätte Paquet die empirische Umsetzung seiner theoretischen Überlegungen über das Ausstellungswesen ermöglicht, die er in seiner Dissertation präsentiert hatte. Die Veranstaltung der Frankfurter Ausstellung wurde jedoch durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges verhindert.640 Die zentrale Aufgabe der Frankfurter Ausstellung sah Paquet in
636 „Ich liebe nichts so sehr wie die Städte“, S. 111. Zur Funktion der Weltausstellungen in der Auffassung Paquets siehe Paquet, Das Ausstellungsproblem in der Volkswirtschaft, Jena 1908, S. 241.
637 Zur Geschichte der Düsseldorfer Ausstellung siehe Kretschmer, Geschichte der Weltausstellungen, Frankfurt a.
M. 1999, S. 159. Eine zeitgenössische Studie zum Thema liefert: Conrad Sutter, Die Ausstellung der Darmstädter Künstler-Kolonie im Sommer 1904, in: Frankfurter Zeitung, 16. 7. 1904, Jg. 48, Nr. 196, S. 1.
638Paquet, Das Ausstellungsproblem in der Volkswirtschaft, Jena 1908 (Abhandlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu Jena 5.2.).
639 Aufschlussreich hierfür ist folgendes Fragment aus seiner „Skizze zu einem Selbstbildnis“:
„Es war ein eigentümlicher Reiz und eine eigentümliche Angst in der entsagungsvollen Klausur jener Universitätsjahre; der Reiz, einem Phänomen des Sichtbaren einmal bis in seine letzten Absichten und Verästelungen zu folgen und ein Entdecker vorher noch nicht gesehener Zusammenhänge zu sein, und die Angst, dass diese Gefangenschaft in der ordnenden reinen Verstandesarbeit länger dauern könnte, als mir zuträglich war. Als ich fertig war, brach ich alle Fortsetzungsmöglichkeiten ab.“ Paquet, Skizze zu einem Selbstbildnis (1925), in: Bibliographie Alfons Paquet, Bearb. von Marie-Henriette Paquet, Henriette Klingmüller, Sebastian Paquet, Wilhelmine Woeller-Paquet, Frankfurt a. M. 1958, S. 16.
640 Paquet wollte auf der Frankfurter Ausstellung in erster Linie den pazifistischen und übernationalen Ansatz hervorheben. Ihr Grundsatz sollte also nach Ansicht des Autors ein Ineinandergreifen von wissenschaftlichen, praxisorientierten und humanen Zielsetzungen sein. Hierzu siehe „Ich liebe nichts so sehr wie die Städte“ …, S.
111 f. Nach dem Ausgang des Ersten Weltkrieges setzte Paquet sein Engagement für das moderne Ausstellungswesen, wenn auch nur auf theoretischer Basis, unermüdlich fort. Aussagekräftige Beiträge hierfür liefern: Paquet, Ausstellungen, Frankfurter Zeitung, 9. 3. 1937, Jg. 81, Nr. 124/125, S. 2.; Paquet, Die Stadt als Schaufenster, in: Technik und Betrieb. Blätter der Frankfurter Zeitung, 5. 5. 1937, Jg. XIX, Nr. 13, S. 4; ders., Weltausstellungenin: Technik und Betrieb. Blätter der Frankfurter Zeitung, 5. 5. 1937, Jg. XIX, Nr. 13, S. 24.
Der letztgenannte Artikel erschien unter dem Pseudonym Sebastian Glauburg.
ihrer völkerverbindenden Funktion. Prägnant für sein Konzept war ein Ineinandergreifen von Wissenschaft, Praxis und humanen Zielsetzungen.
Es ist kennzeichnend für Paquets Europagedanken, dass er sich weit intensiver mit den auswärtigen Angelegenheiten Europas beschäftigte als mit seinen internen Zuständen. Seine Aufmerksamkeit galt dabei immer besonders intensiv den Teilen der Welt, die vom politischen und vor allem wirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtet für Europa von zukunftsträchtiger Bedeutung waren. Hierzu zählte Paquet vor allem China, Japan, Russland und Vorderasien. Dabei wies er Ostasien eine weit wichtigere Rolle für die europäische Zukunft zu als den USA. Vor 1914 befürchtete er noch keine ernsthafte ökonomische Bedrohung Europas seitens der USA und auch die Furcht vor einer politischen Gefahr aus den USA, die im Zusammenhang mit dem spanisch-amerikanischen Krieg von 1898 auftrat, war nach seiner Überzeugung unberechtigt. „Amerika, die Karikatur Europas, nur auf ein gröberes, größeres Relief gezeichnet, liegt beiseite, da Asien warm wird“641, meinte er 1909 nach seiner zweiten Asien-Reise. Durch „das Hereintreten der slawischen und orientalischen Welt“642, so Paquet, stand Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts „erst wieder am Anfang eines neuen geistigen Wachstums, von dem Amerika einstweilen nichts ahnen und nichts haben kann“643. Gerade Amerika hat jedoch nach seinem Selbstzeugnis für die Entstehung seines Selbstverständnisses als Europäer eine zentrale Rolle gespielt:
„In Sibirien sah ich, was Fremde ist, In China wurde ich Christ,
In Amerika Europäer“644
- so Paquet retrospektiv in seinem Poem „Kurze Biographie“. Mit Paquet lässt sich also für die These des Sozialhistorikers Alexander Schmidt-Gernig argumentieren, dass die Begegnung mit der „vertrauten Fremde“ für das betrachtende Individuum von besonderer identitätsschaffender Wirkung wäre.645
Paquet kann durch seinen Enthusiasmus für die technischen Modernisierungsprozesse sowie seinen globalen Denkhorizont zu wichtigen Zeitzeugen des modernen Wandels in Europa gelten. Von nicht geringer Bedeutung für sein globales Weltbewusstsein ist nicht
641 Alfons Paquet, Asiatische Reibungen. Politische Studien, München/Leipzig 1909, S. V.
642 Alfons Paquet, Arthur Holitscher. Amerika heute und morgen. Eine Rezension, in: Panther, 31. 12. 1912, S. 386.
643 Ebenda.
644 Alfons Paquet, Kurze Biographie, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 37.
645 Zum Konzept Schmidt-Gernigs siehe Kapitel 3.1 dieser Arbeit.