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3. Das europäische Bedrohungsbewusstsein von 1890 bis 1914

5.4 Europäischer Imperialismus um 1900 und die Idee einer politischen

5.4 Europäischer Imperialismus um 1900 und die Idee einer politischen Einigung Europas

demgegenüber die pazifistische Absicht Paquets, nämlich „die Wiederherstellung und den Erhalt des Friedens in Europa und der Welt“719. Auf den zugleich progressiven und rückwärtsgewandten Charakter der politischen Reflexion von Alfons Paquet hat Dietrich Kreidt verwiesen. Als fortschrittlich etwa bezeichnet Kreidt die „sozialreformerische Vorstellung“720 Paquets. Das Kriterium der Progressivität erfüllt nach meiner Einschätzung auch sein Drängen auf die Gründung eines supranationalen Rechts in Europa und auf die sozialen Aufgaben der Politik, seine Befürwortung der Einführung einer europäischen Schiedsgerichtsbarkeit und die Betonung der Rolle der Bildung.721

Als eine große Gefahr für den europäischen Kontinent als Folge der europäischen imperialistischen Machtpolitik betrachtete Paquet die unbegrenzte Erweiterung der europäischen Einflusssphären ohne Rückhalt in einer gemeinsamen Idee, was seine Kritik an der imperialistischen Politik europäischer Mächte auslöste. Das kritische Urteil Paquets über den europäischen Imperialismus äußerte sich auch in dessen Bezeichnung als „quantitativer Imperialismus“722, der „in Eifersucht, Misstrauen und Sonderinteressen zerteilte und seiner Glieder nicht mächtige Imperialismus Europas“723, „ein getreues Abbild der Verwirrung in Europa selbst“724 oder „ungehemmter Imperialismus“725. In seinem Essay „Der Kaisergedanke“ wurden von Paquet mehrere Parallelen zwischen der historischen Vergangenheit Europas und seiner Gegenwart gezogen. Einige Analogien ließen sich, so Paquet, in der Entwicklung der imperialen Praxis des Römischen Reiches und des gegenwärtigen europäischen Imperialismus feststellen. Als lehrreich für die Gegenwart betrachtete Paquet namentlich die Ursachen für den Zerfall des Römischen Reiches. Dessen Zugrundegehen resultierte nach Überzeugung des Dichters primär daraus, „daß die Kunst der Zentralverwaltung (im Römischen Reich; M. G.) mit der Kunst der Kolonisation nicht Schritt hielt.“726 Zudem verwies Paquet auf einen Mangel an „Zucht der Größe“727 und einen

„Rausch an der Macht“728 als verantwortlich für den Zerfall des Imperium Romanum. Alle drei Erscheinungen, nämlich die mangelhafte Zentralverwaltung, der „Mangel an Zucht der Größe“ und der „Rausch an der Macht“ waren aus seiner Sicht auch wichtige Charakteristika

719 Koßmann, Führung durch die Ausstellung, S. 19.

720 Kreidt, Augenzeuge von Beruf, S. 9.

721 Paquet, Der Kaisergedanke, S. 57.

722 Ebenda, S. 54.

723 Ebenda, S. 55.

724 Ebenda.

725 Ebenda, S. 56.

726 Ebenda, S. 48.

727 Ebenda.

728 Ebenda.

des modernen europäischen Imperialismus und der Europa-Idee um 1900. Zudem unterstrich Paquet die Analogie in der Entwicklung des zeitgenössischen europäischen Imperialismus und des „Imperialismus der großen Entdecker und Eroberer“729, eine Formulierung, die der Autor in Bezug auf die geographischen Entdeckungen der Europäer in der Neuzeit verwendete. Die Eroberungen der überseeischen Gebiete stärkten die politische und wirtschaftliche Position der beteiligten europäischen Staaten und spielten eine maßgebende Rolle für den Erfolg der nationalen Idee in Europa und die Konsolidierung der europäischen Nationalstaaten, so Paquet. Die territoriale Erweiterung der europäischen Einflusssphäre in der Neuzeit geschah jedoch, wie er unterstrich, ohne Rückhalt in einer gesamteuropäischen Idee, worin der Schriftsteller den Grund für seinen Niedergang sah:

„Während das Reich (das Heilige Römische Reich Deutscher Nation; M. G.) der Selbstzerstörung anheim fiel, segelten die Flotten Venedigs und der Genuesen, der Spanier und Portugiesen, der Holländer, der deutschen Hanse und der Briten über das Weltmeer und erweiterten das europäische Herrschaftsgebiet ins Ungeheure, aber ohne eine starke Rückwirkung auf das europäische Selbstbewusstsein.“730

„Das Imperium zerfiel, der Imperialismus blühte“731, resümierte Paquet. Ein derartiger Zustand war nach seiner Überzeugung auch für das Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts zutreffend.

Paquet griff den Impetus des modernen europäischen Imperialismus und die „sinnlos hohe Überhebung“732 der Europäer an, nicht jedoch die koloniale Idee selbst. Es ist mit Nachdruck zu betonen, dass nicht der Kolonialismus an sich, sondern ein „ungehemmter Kolonialismus“733 ohne eine gesamteuropäische Zentralverwaltung von ihm als eine Gefahr für Europa betrachtet wurde. Besonders bedrohlich war er nach seiner Einschätzung für die

„schwächeren“734 europäischen Kolonialstaaten wie etwa Spanien, Portugal und Holland. Um einen Befreiungskrieg der Kolonien zu verhindern, hat Paquet zur Gründung einer

„Arbeitsvereinigung des noch jetzt so unglücklich zerteilten europäischen Imperialismus“735 aufgerufen. Allein durch sie und mit ihr konnten nach seiner Überzeugung die europäischen Interessen in Ostasien auf Dauer gesichert werden:

„Es ist am Ende klar, daß nicht einzelne Nationen allein, sondern, wie es teilweise, ja auch heute schon stillschweigend geschieht, die europäischen Nationen nur zusammen ihre Aufgaben in Asien, insbesondere in China lösen können und einander stützen müssen.“736

729 Ebenda, S. 47.

730 Ebenda, S. 47.

731 Ebenda.

732 Paquet, Die chinesischen Schriftsteller, S. 470.

733 Paquet, Der Kaisergedanke, S. 56.

734 Ebenda.

735 Ebenda, S. 54.

736 Paquet, Asiatische Perspektive, S. 764.

An anderer Stelle verwies Paquet auf die Aufgabe „eines politischen Gesamteuropas“737, die durch die Europäer „in Ostasien […] getrennt geschaffenen Werte vereint zu schützen und anzuwenden.“738 Die Notwendigkeit einer politischen Integration des europäischen Kontinents resultierte für ihn aus der „Gesamtheit der Ziele und Verpflichtungen“739 der europäischen Mächte. Europa muss sich „wenigstens nach außen hin zu einer festeren Einheit zusammenschließen“740, so Paquet. Als wichtigste Aufgabe eines geeinten Europa betrachtete Paquet die Aufrechterhaltung der europäischen Suprematie in der Welt.741 Dieses Bestreben bildete, wie bereits im vorhergehenden Kapitel am Beispiel des Europagedankens von u. a.

Gaston Isambert, Anatole Leroy-Beaulieu und Max Waechter nachgewiesen wurde, die Grundorientierung der Europa-Pläne um 1900. „Heute noch wird der größere Teil der Welt von Europa verwaltet, und doch ein weiterer Teil der Welt steht unter der geistigen Herrschaft Europas.“, so Paquet, „Das Bestreben des europäischen Imperialismus muss es sein, diese Führung aufrechtzuerhalten.“742

Auch andere Vorteile, die Paquet aus der Integration Europas hervorgehen sah, standen im Einklang mit dem Bestreben derjenigen, die für die Idee eines politischen Zusammenschlusses Europas eintraten. Ein künftiges Gesamtreich würde, so Paquet, die europäischen Staaten vor „Gewissenlosigkeit“743 in der Außenpolitik schützen, die Gefahr eines Kriegsausbruchs in Europa verringern und Rüstungsprozesse auf dem europäischen Kontinent verhindern. Sollte es zu einem Zusammenschluss zwischen den europäischen Nationen kommen, prognostizierte er, würde „an die Stelle der Rüstungen […] ein vereinigter Machtaufbau treten.“744 Der „europäische Großstaat“ (Paquet) hatte auch im Bereich der Sozialpolitik eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. In diesem Sinne hat Paquet auf die Notwendigkeit der Bekämpfung der Armut in Europa hingewiesen. Hierfür schlug er eine effizientere Nutzung der Bodenschätze aus bisher unzugänglichen Gebieten und eine neue Regelung des Arbeitsschutzes vor.

Paquet gehört zu den wenigen Autoren, die sich auf die Suche nach einem Symbol machten, das von identitätsstiftender Bedeutung für die Europäer sein könnte. Diese Funktion hätte nach seiner Einschätzung der kaiserliche Adler übernehmen können, der als „Sinnbild

737 Ebenda.

738 Ebenda.

739 Ebenda.

740 Ebenda, S. 764.

741 Hierzu siehe ebenda, S. 56.

742 Ebenda, S. 54.

743 Paquet, Der Kaisergedanke, S. 58.

744 Ebenda.

verschwundener, ja vielleicht noch nie verwirklichter Größe“745 aus dem Wappen des west- und oströmischen Kaisertums in die Wappen zahlreicher Städte, Länder und Staaten und Europas“746 überging, wie etwa des 1871 gegründeten Deutschen Reiches, Russlands, Griechenlands, Albaniens, Montenegros, Polens und Serbiens.747 „Die Adler des alten Reiches und des neuen Weltreiches, das der Korse erträumte“, so Paquet, „waren das Sinnbild, zu dem Millionen aus den Völkern Europas emporsahen“748. Diese einigende Funktion hätte dieses Symbol auch an der Wende zum 20 Jh. Spielen können. Auch den Wappen der Vereinigten Staaten von Amerika und Chinas, nämlich dem amerikanischen Sternenbanner und dem chinesischen Drachen, hat Paquet eine identitätsschaffende Funktion zugewiesen.

Ausschlaggebend für den Vorschlag Paquets, Europa einer Einigung entgegenzuführen, ist die Verknüpfung dieses Plans mit dem historischen Vorbild des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Entscheidend bestimmt wurde Paquets Integrationsgedanke durch sein Plädoyer für die Gründung eines gesamteuropäischen Kaisertums mit einem deutschen Herrscher an der Spitze.749 Die monarchischen Traditionen Frankreichs oder Österreichs konnten nach Überzeugung Paquets hingegen für ein gesamteuropäisches Kaiserreich nicht als angemessenes Vorbild gelten:

„Seit dem Erlöschen der alten römischen Kaiserwürde im Jahre 1806 gibt es kein wahres Kaisertum mehr in Europa. […] Bis zum Jahre 1806 gab es einen Träger der ursprünglichen Idee, die späteren Kaiser und Könige aber sind im besten Fall nichts weiter als Prätendenten oder Kämmerer dieser Idee des Kaisertums.“750

Den Gedanken des Kaisertums sah Paquet „in seiner Beseeltheit“751 erst mit Karl dem Großen auf europäischem Gebiet neugeboren. Wichtig für die historische Entwicklung der Idee eines gesamteuropäischen Kaisertums waren nach Paquets Ansicht Otto III. und die Kaiser aus der Dynastie der Staufer, nämlich Heinrich III., Friedrich II. und Karl V. Als Kern der Idee des Kaisertums wertete Paquet die Idee der Weltbeherrschung. Gerade in dem Impetus der Weltherrschaftspläne von Otto III. sah er dessen Bedeutung in der europäischen Geschichte.

745 Ebenda, S. 49.

746 Ebenda.

747 Ebenda, S. 50.

748 Ebenda.

749 Mit seinem Plädoyer für die Errichtung eines „gesamteuropäischen Kaisertums“ stellt Paquet, neben den bereits genannten Autoren Max Waechter und Georges Vacher de Lapouge, eine der wenigen Ausnahmen unter den Autoren der Europa-Pläne zu Beginn des 20. Jahrhunderts dar. Zu den Europa-Plänen von Waechter und Vacher de Lapouge siehe Kapitel 4 dieser Arbeit. Der Gedanke der Gründung eines europäischen Kaisertums lieferte dem britischen Schriftsteller Fawkes den Stoff für seinen Roman „Marmaduke, Emperor of Europe“ (1895). Der Roman wurde von der österreichischen Schriftstellerin und Befürworterin der europäischen Einigungsidee Bertha von Suttner ins Deutsche übersetzt.

750 Paquet, Der Kaisergedanke, S. 46.

751 Ebenda.

Eine wichtige Rolle für die Genesis der Pläne für eine Weltbeherrschung bei Otto III. spielte nach Überzeugung Paquets seine Herkunft als Erbfolger des weströmischen und Enkel des oströmischen Kaisers752. Als „fesselnde“753 Gestalten deutscher Geschichte und Vertreter der Idee eines universellen Weltreiches betrachtete Paquet vornehmlich jedoch die bereits genannten Staufer Heinrich III., Friedrich II. und Karl V. „Das große Wollen der Staufer wird heute als Romantik abgetan“, so Paquet zur Resonanz auf die Idee eines Weltreiches in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts, „aber der Schimmer ihrer Größe ist in den Gemütern unvergänglich geblieben. Nichts zeugt mehr von der dichterischen Wahrheit ihres Wollens.“754 Ausschlaggebend für die Verwirklichung der Idee des Kaisertums in Europa war für Paquet der Konflikt zwischen der geistlichen und der weltlichen Macht. Diese Auseinandersetzung sah Paquet auch im modernen Europa noch nicht „spurlos ausgelöscht.“755 Eine besonders negative Rolle hatte in Paquets Sicht die katholische Kirche in der Vergangenheit für die Idee der europäischen Weltbeherrschung gespielt: „Vor allem auf die Politik der Päpste ist es zurückzuführen, daß dieser alte Gedanke der Weltbeherrschung heute in jeder Weise so zersplittert und entstellt, ja, in seiner ursprünglichen Größe in Vergessenheit geraten ist.“756 In ihr sah Paquet auch den „stärksten Gegner“757 eines erneuerten gesamteuropäischen Kaisertums.

Das von Paquet propagierte Ziel der Gründung eines gesamteuropäischen Kaisertums trägt durchaus auch moderne Züge. Neben seinem Hinweis auf die notwendige Vorrangstellung der weltlichen Macht vor der geistlichen kam der moderne Charakter seiner Idee auch in der Schilderung der Eigenschaften zum Ausdruck, die ein Prätendent für das Kaiseramt erfüllen musste, der über Europa mitsamt seiner Kolonien herrschen sollte. Welche Aspekte aus der Sicht von Paquet bei der Wahl des europäischen Kaisers berücksichtigt werden mussten, wurde von ihm im folgenden Fragment aus „Der Kaisergedanke“

ausgeführt:

„Erst aus einer Synthese zwischen dieser Geburtsaristokratie und jener im ständigen Fluß befindlichen Aristokratie der tatsächlichen Führer des Volkes, die im Geistesleben in den wirtschaftlichen oder den juristischen Regierungen zur Führung aufsteigen, kann jener arbiter mundi hervorgehen, der in dem platonischen Sinne, der zu denken ist, die Eigenschaften des Philosophen und des Staatsmanns in sich vereinigt.“758

752 Die Mutter Ottos III., Theophano, war die Tochter des byzantinischen Kaisers Johannes Tzimiskes.

753 Ebenda, S. 49.

754 Ebenda, S. 49. Die These von einer besonderen Position der Staufer im historischen Bewusstsein der Deutschen untermauerte Paquet mit dem Hinweis auf die Popularität der Volkssagen, in denen der „Glanz“ der Größe der Staufer fortlebe. Hierzu siehe ebenda.

755 Ebenda.

756 Ebenda, S. 48.

757 Ebenda, S. 53.

758 Ebenda, S. 58.

Die Notwendigkeit aristokratischer Herkunft eines europäischen Kaisers war bei Paquet die Folge der Überzeugung, dass nur ein Repräsentant des Geburtsadels, „der im sittlichen Sinne seinen Beruf als des geborenen Vertreters zwischen Volk und Beamten betrachtet“759, sich über nationale und parteiliche Einzelinteressen erheben könnte.

Als ernstes Hindernis für die Bildung einer europäischen „Arbeitsvereinigung“

betrachtete Paquet den einzelstaatlichen Chauvinismus und den sich aus ihm ergebenden Völkerhass. Seine Einstellung zum Nationalismus selbst war jedoch positiv. Er habe den europäischen Staaten „in ihrer politischen und Wirtschaftsentwicklung Nutzen und Wohlfahrt gebracht“760, so Paquet. Gerade das Bewusstsein der Bedeutung des nationalen Gedankens für das Wohlergehen der Staaten hatte sich jedoch nach Einschätzung des Schriftstellers für die europäische Integration negativ ausgewirkt. Von pejorativer Wirkung hierauf schienen Alfons Paquet primär die politischen Folgen der Maßlosigkeit nationaler „Einzigartigkeitsgefühle“, insbesondere bei den kleinen europäischen Völkern761, zu sein sowie der Drang in vielen Staaten nach Erweiterung eigener Territorien. Beide aber bedrohten für Paquet den europäischen Frieden.762

Neben seinen Hinweisen auf die „nationale Selbstsucht der Mächte“763 und die

„heillose Verfilzung der einzelstaatlichen Belange“764 in Europa stößt man jedoch bei Paquet auch auf Äußerungen, die von seiner Hoffnung auf eine Versöhnung und Annäherung der europäischen Staaten als Voraussetzung zur Behauptung der europäischen Machtposition in der Welt künden:

„Was Europa anbetrifft so werden ja bereits in den führenden Vertretern seines auswärtigen Handels, in den philosophischen Köpfen, vielleicht auch da und dort schon in den kolonialen Verwaltungen und bei regierenden Staatsmännern die Notwendigkeiten einer gemeinsamen Einstellung des europäischen Imperialismus lebendig.“765

Für die Zuversicht Alfons Paquets in Bezug auf die künftige Zusammenarbeit der europäischen Staaten in den kolonialen Angelegenheiten spricht noch Folgendes: Die

„Kreuzungen“ innerhalb der Interessen der Einzelstaaten in den europäischen Kolonien waren nach seiner Einschätzung so eindeutig, dass sie kriegerische Auseinandersetzungen zwischen

759 Ebenda.

760 Ebenda, S. 45.

761 Aussagekräftig hierfür ist die folgende Stelle aus „Der Kaisergedanke“: „Gerade der Nationalismus der Kleinen und unverantwortlichen trägt in die gegenwärtige politische Entwicklung neue Unruhe und Befürchtung vor Zusammenstößen.“, in: ebenda, S. 46.

762 Ebenda, S. 55.

763 Ebenda.

764 Ebenda.

765 Ebenda, S. 53.

ihnen infolge „einer kolonialen Zwistigkeit“766 verhindern würden. Ein Krieg zur Verteidigung der Kolonialinteressen eines Einzelstaats würde nämlich, so Paquet, da seine Interessen mit denen der anderen Kolonialmächte in einem hohen Ausmaß miteinander verbunden waren, zugleich den eigenen Interessen dieses Staates zuwiderlaufen.

Die führende Rolle bei der Errichtung eines ganz Europa umfassenden Reiches hat Paquet Deutschland zugewiesen. Durch den Hinweis auf die besondere Bedeutung seiner eigenen Heimat für den europäischen Einigungsgedanken und für die historische und zeitgenössische Entwicklung Europas wurde er, ähnlich Romain Rolland und André Suarès, zum repräsentativen Zeitzeugen seiner Epoche. Wie bereits an anderer Stelle gezeigt wurde, kann dieses Phänomen nämlich als Charakteristikum des Europagedankens um 1900 gelten.

Die Verbundenheit Paquets mit seiner Heimat kam in seinen Beiträgen zur Europa-Debatte auf mehrfache Weise zum Ausdruck. Sichtbar wird sie bereits in der Hervorhebung der vorbildhaften Funktion des deutschen Reiches für eine europäische Integration. In Verbindung damit betrachtete Paquet auch Preußen als besonders geeignet für die politische Zusammenführung Europas.767 Ein anderer Punkt in seiner Argumentation war seine Überzeugung von der besonderen Rolle Deutschlands für das kulturelle und wissenschaftliche Leben in Europa. Diese Befähigung für eine Führungsposition bei der Errichtung eines europäischen Reiches resultierte für Paquet darüber hinaus aus der historischen Rolle der Deutschen als Inhaber der Kaiserwürde im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.

Auch ihre vermeintliche „Beziehung aufs Weltganze“ sah er als einen entscheidenden Faktor:

„Deutschland ist in Europa das Land der Mitte, ja, es verdient diesen Namen in einem ganz allgemeinen Sinne.

In der Geordnetheit seiner Verwaltung, in der ausschweifenden Gewalt seiner Unternehmungen, in der Aufnahme des Fremden und in der Bewahrung des großen Eigenen, in seiner Gedanklichkeit und Musik erlebt es eine Dichtigkeiten, seine Hemmungen, seine Beziehung aufs Weltganze“768.

Die führende Rolle Deutschlands im europäischen Einigungsprozess war, so Paquet, den deutschen Zeitgenossen bewusst. An seiner Berufung, Europa zu einigen, wurde Deutschland jedoch von seinen feindselig gesinnten Nachbarn gehindert, erklärte er weiter. Mit dem Selbstverständnis der Deutschen als künftige Errichter eines gesamteuropäischen Reiches wollte Paquet sogar den enormen Rüstungsaufwand im Wilhelminischen Kaiserreich rechtfertigen: „Wozu seine gewaltige Rüstung, wenn ihre Notwendigkeit nicht durch eine europäische Idee gegeben ist?“769, fragte er.

766 Ebenda, S. 56.

767 Ebenda, S. 60.

768 Ebenda, S. 61.

769 Ebenda, S. 61.

Kennzeichnend für die Weltsicht Paquets ist auch sein wiederholter Hinweis auf die Bedrohung Deutschlands durch seine Nachbarn. Wie Paul Michael Lützeler nachgewiesen hat, litt Alfons Paquet unter Einkreisungsängsten.770 Ähnlich dem Gros seiner Zeitgenossen, darunter Romain Rolland, hat Paquet die Gefahr eines Kriegsausbruchs in Europa infolge der internen Konflikte zwischen den europäischen Staaten frühzeitig zu erkennen geglaubt. Das macht aus ihm einen Vertreter des europäischen Kriegsbedrohungsbewusstseins. Auch wenn dem Schriftsteller die zerstörerische Kraft eines europäischen Bruderkrieges bewusst war, sah er indes aus ihm auch positive Wirkungen für den europäischen Einigungsprozess hervorgehen. Als positive Beispiele für politische Einigungsprozesse, die aus kriegerischen Auseinandersetzungen hervorgingen, nannte Paquet die politische Einigung Italiens, Japans und Deutschlands.771

Ähnlich Ludwig Fulda und Ludwig Stein vertrat auch Paquet die Ansicht, dass aus einem europäischen Krieg ein politisch geeintes Europa hervorgehen könnte.772 Das Bewusstsein für die Gefahr trat daneben auch in seinem Verweis auf die besondere Rolle Frankreichs und Russlands für die europäische Zukunft hervor: „Auch von Frankreich und Russland gehen ja Ansätze aus, die in einer europäischen Idee münden: ihre Vorbedingung ist die Zertrümmerung Deutschlands.“773 An anderer Stelle betonte er, dass „nur durch ein führendes oder ein zertrümmertes Deutschland […] einmal der europäische Gedanke wahr werden“774 könne. Mehr als eine deutsche Niederlage in einem zukünftigen Krieg befürchtete Paquet, dass infolge einer britischen Intervention weder Deutschland noch Frankreich aus dem Krieg als „gänzlich besiegt“775 hervorgehen würden, was eine endgültige Lösung der deutsch-französischen Streitfragen verhindern müsste und damit eine dauerhafte Sicherung des Friedens in Europa unmöglich machen würde. Selbst nach der „politischen Vernichtung“

des deutschen Kaiserreiches würden Deutsche jedoch nach Überzeugung Paquets weiterhin im europäischen Geistesleben eine einflussreiche Rolle spielen: „das bittere Opfer einer vollständigen Niederlage und politischer Vernichtung Deutschlands könnte wohl die äußere

770 Lützeler, Die Schriftsteller und Europa, S. 222.

771 Ebenda.

772 Zur Bedeutung eines europäischen Krieges für die Integrationsidee Fuldas und Steins siehe Kapitel 4.1 der vorliegenden Arbeit.

773 Paquet, Der Kaisergedanke, S. 60.

774 Ebenda, S. 61.

775 Ebenda.

Macht, umso weniger aber den entscheidenden Einfluss auf das geistige Leben Europas rauben“776

Im Hinblick auf den Beitrag Paquets zur Europa-Debatte vor 1914 lässt sich zusammenfassend Folgendes festhalten: Eine maßgebliche Komponente seines Europagedankens ist seine globale Betrachtungsperspektive. Einen aussagekräftigen Beweis hiervon liefert sein Beitrag zur Asien-Debatte vor 1914. Aufschlussreich für den globalen Denkhorizont Paquets sind einmal seine ausgedehnten Reisen in den Nahen und Fernen Osten sowie in die USA. Zudem kann er als repräsentativ für den technischen Fortschrittsoptimismus gelten. Die Sonderstellung Paquets als Vertreter der europäischen Bedrohungsgefühle lag in seinen Ängsten vor einer „Schwarzen Gefahr“. Diese Bedrohung der europäischen Zukunft ergab sich für Alfons Paquet aus den Folgen eines möglichen Befreiungskrieges der Kolonien und dessen Auswirkungen auf die machtpolitische Stellung Europas. Als Zeitzeuge, sowohl für die zeitgenössische Debatte über externe Gefahren wie für die Bestrebungen nach der Einigung Europas, ist Paquet auch durch sein Eintreten für die Sicherung der europäischen Machtposition in der Welt charakterisiert. Eine wichtige Voraussetzung für die Realisierung dieses Ziels sah der Schriftsteller ähnlich der Mehrzahl der Verfasser von Europa-Plänen im Erhalt des europäischen Kolonialbesitzes.

776 Ebenda.