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Ethisch-moralische Argumente

Teil II: Diskursanalyse

7. Argumentationsanalyse

7.3. PRO Taraškevica

7.3.5. Ethisch-moralische Argumente

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(7.126) Лепш за ўсіх пра істотную розьніцу паміж наркамаўкай і тарашкевіцай раней у абмеркаваньнях растлумачыў Radykal. А менавіта сэнс у тым, ці мы пагаджаемся, што заходнія словы (Бэрлін) да нас прыйшлі з Захаду, ці мы іх атрымалі праз усход (Берлін) - г.зн. з Масквы... Вось і розьніца ў сьветаўспрыманьні праз правапіс істотная.336 (04.12.2008)

‘Am besten hat Radykal [einer der Diskursteilnehmer] den wesentlichen Unterschied zwischen der Narkamaŭka und der Taraškevica in den vorherigen Diskussionen erklärt. Der Sinn besteht darin, ob wir uns damit einverstanden erklären, dass die westlichen Wörter (Bėrlin [T: ‘Berlin’]) zu uns aus dem Westen gekommen sind; oder wir haben sie durch die Vermittlung des Ostens, d.h. aus Moskau (Berlin [N: ‘Berlin’]), erhalten… Der Unterschied zwischen den [zwei] Weltwahrnehmungen, die durch die Schreibung vermittelt werden, ist somit wesentlich.’

Mit dem Ausdruck ci my pahadžaemsja / ці мы пагаджаемся ‘ob wir uns damit einverstanden erklären’ macht der Sprecher deutlich, dass mit der Übernahme bzw. Akzeptanz einer bestimmten Schreibweise eine neue Konventionsbasis für die Deutung der (Sprach-)Geschichte und Gruppenidentität erzeugt wird (s. auch Bsp. (7.60)),in dem behauptet wird, dass die Reform von 1933 die Spuren der historischen Verbindung der Belarussen mit der Geschichte des Landes vernichtet habe). Die Idee des Sprachdenkens ist im Beispiel (7.126) ebenfalls präsent:

So werden durch unterschiedliche Sprachformen verschiedene Ansichten auf die Geschichte und historischen (Sprach-)Kontakte von Belarus vermittelt.

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letztendlich Rechtschreibung – und wenn wir sie schon angenommen haben, dann müssen wir uns an sie halten.’

Im folgenden Beispiel handelt es sich um eine Reaktion auf die Ankündigung, dass die Naša Niva zur Narkamaŭka wechselt. Die Redaktion rechtfertigt ihre Entscheidung, indem sie versucht, die Taraškevica auf die Orthografie – Mittel zur Wiedergabe der Sprache in der Schrift – zu reduzieren; gleichzeitig stellt die Redaktion der Orthografie die Sprache gegenüber und stuft diese als Heiligtum bzw. Prinzip (Wert) ein: „Наша святыня — мова. Правапісаў два, яна адна.“338 ‘Unser Heiligtum ist die Sprache. Es gibt zwei Rechtschreibungen und eine Sprache.’ Daraufhin schreibt einer der Diskursteilnehmer:

(7.128) Вы пішаце, што мова сьвятая а правапіс не. Але што ж, правапіс ня ёсьць самастойнай, адстоенай і нават выпакутаванай каштоўнасьцю? Хіба не аб'ядноўваў ён сотні творцаў вакол сьветлых ідэяў эўрапейскасьці і элітарнасьці беларушчыны? Так лёгка адкідаючы адну каштоўнасьць вы пераходзіце да банальнай цынічнасьці.339 (05.12.2008)

‘Ihr schreibt, dass die Sprache ein Heiligtum ist und die Rechtschreibung – keines. Ist etwa die Rechtschreibung kein eigenständiger, durchgefochtener und sogar ausgelittener Wert?

Vereinigt sie etwa nicht Hunderte Personen um die hellen Ideen des Europäischtums und des Elitentums des Belarussischen? Indem ihr so einfach einen Wert aufgebt, geht ihr zu einem banalen Zynismus über.’

Die Taraškevica repräsentiert wie die von Lukašėnko abgeschaffte Fahne und das Wappen eine bestimmte Ideologie (hier verstanden als Weltanschauung; s. Abschnitt 1.3.1), ein Set an Ideen in Bezug auf die aus Sicht einer bestimmten Gruppe ‘ideale’ gesellschaftliche Ordnung (das die Ideen des ‘Europäischtums’ und des ‘Elitentums’ des Belarussischen einschließt). Im Gegensatz zu den Pro-Narkamaŭka-Argumenten, die ihre Wertneutralität hervorheben (s.

Abschnitt 7.1.4), wird die Taraškevica gerade durch diese Repräsentation bestimmter Ideen zu einem Wert an sich. Daher wird der Verzicht auf die Taraškevica als Verzicht auf Ideale, auf bestimmte Ideen über die anzustrebende soziale Ordnung und im Fall von Naša Niva als

‘Verrat’ (s. auch Abschnitt 7.2.5.), gewertet:

(7.129) Адмова ад "тарашкевіцы" ў сёньняшніх умовах — гэта не адмова ад мовазнаўчых прынцыпаў. Гэта адмова ад прынцыпаў пабудовы грамадзянскай супольнасьці!340 (30.08.2007)

‘Der Verzicht auf die Taraškevica ist unter den heutigen Umständen kein Verzicht auf die sprachlichen Prinzipien. Das ist ein Verzicht auf [bestimmte] Prinzipien in Bezug auf die Organisation der bürgerlichen Gemeinschaft!’

Man erwidert beispielsweise die pragmatischen Pro-Narkamaŭka-Argumente, die aus dem

‘Realitätstopos’ abgeleitet werden (s. Abschnitt 7.1.2), damit, dass man den anderen ohne Taraškevica als moralisches Prinzip nicht ‘bekehren’ bzw. ‘retten’ könne: So könne ein Missionar einem Säufer nicht den Alkohol abgewöhnen, bevor er ihm den wahren Glauben ins Herz pflanzt:

(7.130) Увогуле, Ваша пастаноўка пытаньня з такога шэрагу: "Лепей сініца ў руках..." Гэта як місіянэру, які хоча выратаваць пьяніцу, кажуць: "Што ты яму пра свайго Бога далдоніш? Адвучы яго ад гарэлкі, і тым самым уратуеш чалавека!" Але місіянэр ведае,

338 Redaktion der Zeitung Naša Niva https://m.nn.by/articles/22044/ (28.02.2019).

339 Чытач-пісач https://m.nn.by/articles/22044/comments/page/3/ (28.02.2019).

340 arshanski https://nasaniva.livejournal.com/6807.html?thread=28567 (27.02.2019).

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што бяз Бога ў душы, бязь цьвёрдых маральных асноваў пьяніца той вернецца зноў да гарэлкі.341 (30.07.2007)

‘Und überhaupt, entspricht Ihr Herangehen an die Frage dem Sprichwort: „Besser ein Spatz in der Hand [als eine Taube auf dem Dach]… Das ist, als wenn man einem Missionar, der einen Säufer retten will, sagen würde: „Warum schwätzt du ihm deinen Gott auf? Gewöhne ihn vom Schnaps ab und so rettest du den Menschen!“ Aber der Missionar weiß, dass ohne Gott in der Seele, ohne standhafte moralische Basis der Säufer wieder zum Schnaps zurückkehren wird.’

Hier werden wieder Parallelen zwischen der Taraškevica-Verbreitung und der Missionierung gezogen (s. auch Bsp. (5.33) und (7.112)).

Erwähnenswert ist das Pro-Taraškevica-Argument, das sich speziell an die Zeitung Naša Niva im Zusammenhang mit dem geplanten Übergang zur Narkamaŭka richtet. Der Sprecher appelliert an die Verantwortung der Zeitung vor der Jugend, für die die Taraškevica zu einem

‘gesellschaftlich-politischen’ Identitätsmarker geworden sei: Die Entfernung der Taraškevica aus den ‘traditionellen Taraškevica-Institutionen’ (zu denen auch die Naša Niva gezählt wird) könnte bei den betreffenden Jugendlichen eine ‘schmerzhafte’ und ‘konfliktträchtige’

Identitätskrise auslösen:

(7.131) […] тарашкевіца стала таксама аўтаідэнтыфікацыйным маркерам для шэрагу моладзевых і інтэлігенцкіх субкультураў, унутры якіх фармуюцца палітычныя і культурныя дзеячы, здольныя рэальна падтрымаць беларускае адраджэньне. Пры дапамозе тарашкевіцы яны распазнаюць сябе ў палітычнай і культурнай прасторы Беларусі і адчуваць сябе тыповымі героямі нацыянальнага руху. Забраць у іх тарашкевіцу, альбо прынамсі эвакуаваць яе з традыцыйна «тарашкевічаўскіх»

інстытуцыяў, як радыё «Свабода» ці «Наша Ніва», азначае прымусіць многіх энтузіястаў адраджэньня пераасэнсоўваць сваю грамадзка-палітычную тоеснасьць, а гэта можа быць балючы і канфліктагенны працэс.342 (25.07.2008)

‘… die Taraškevica ist zu einem autoidentifizierenden Marker für eine Reihe von Jugend- und Intelligenz-Subkulturen geworden, innerhalb deren sich politisch- und kulturtätige Persönlichkeiten formen, die fähig sind, die belarussische Wiedergeburt zu unterstützen. Mit Hilfe der Taraškevica erkennen sie einander im politischen und kulturellen Raum von Belarus und fühlen sich wie typische Helden der Nationalbewegung. Wenn man ihnen die Taraškevica wegnimmt bzw. sie aus den traditionellen Taraškevica-Institutionen ‘evakuiert’

[eliminiert], werden viele Enthusiasten der Wiedergeburt gezwungen sein, ihre gesellschaftlich-politische Identität zu überdenken, und das kann ein schmerzhafter und konfliktträchtiger Prozess sein.’

Solche Argumente können sich in erster Linie an (potenzielle oder ehemalige) Autoritäten richten, von denen erwartet wird, dass sie in jeder Situation die moralischen Prinzipien einhalten und Verantwortung für diejenigen übernehmen, die ihnen folgen. In dem betreffenden Beispiel wird zugleich die identitätsstiftende Funktion der Taraškevica hervorgehoben.

Mit der Erhebung der Taraškevica zu einem Wert erfolgt zugleich eine Aufwertung bestimmter moralischer Eigenschaften, die die Taraškevica bei ihren Trägern fördert: ‘Standhaftigkeit’

(ustojlivas’c’ / устойлівасьць), ‘Kraft des Zwangs’ (sila prymusu / сіла прымусу) und

‘Nicht-Bedächtigkeit’ (nepamjarkoŭnas’c’ / непамяркоўнасьць).

341 Ігар https://m.nn.by/articles/10500/comments/ (13.02.2019).

342 P. Rudkoŭski https://nn.by/?c=ar&i=18631 (11.02.2019).

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(7.132) На карысьць культываваньня тарашкевіцы […] можна было б дадаткова высунуць яшчэ прынамсі два аргумэнты. Па-першае, тарашкевіца […] характарызуецца адноснай устойлівасьцю і нават «сілай прымусу». […] А нават больш, тарашкевіца стала інструмэнтам дэканструкцыі стэрэатыпу пра беларускую «памяркоўнасьць-інэрцыйнасьць», схільнасьць упісвацца ў зададзеныя істэблішмэнтам рамкі.

Тарашкевіца – гэта якбы сымбаль беларускай непамяркоўнасьці.343 (25.07.2008)

‘Für eine Kultivierung der Taraškevica könnte man zusätzlich noch zwei Argumente anführen: Erstens, die Taraškevica zeichnet sich durch eine relative Standhaftigkeit und sogar durch eine ‘Kraft des Zwangs’ aus… Mehr sogar: die Taraškevica wurde zu einem Instrument der Dekonstruktion des Stereotyps über die belarussische ‘Bedächtigkeit-Trägheit’, die Neigung dazu, sich dem durch das Establishment vorgegebenen Rahmen anzupassen. Die Taraškevica ist eine Art Symbol der belarussischen Nicht-Toleranz.’

Die Sprache wird hier als eine eigenständige ‘Hypostase’ dargestellt, die bestimmte Charaktereigenschaften (wie ‘Standhaftigkeit’ und ‘Kraft des Zwangs’) aufweist und diese bei ihren Sprechern erzeugt (vgl. Abschnitt 1.8.1). Die Argumentation in (7.132) stellt demnach eine Ausprägung der Idee des Sprachdenkens, die der Periode der Romantik eigen war (s.

Abschnitt 1.2.3 und 1.2.4). Interessant ist in diesem Zusammenhang die negative Konnotation des Begriffs pamajrkoŭnasc’ / памяркоўнасць, der mit ‘Trägheit’ gleichgesetzt wird. Dieser Begriff stellt ein (Auto-)Stereotyp über die Belarussen dar und kann auch positiv konnotiert werden, verstanden als ‘Toleranz’, ‘Bedächtigkeit’, ‘Milde’, ‘Kompromissfähigkeit’ (s. Bsp.

(6.35)) im Unterkapitel 6.2., das von einem Anhänger des ‘Mehrere-Standardvarietäten-Modells’ produziert wird und in dem pamajrkoŭnasc’ die Bedeutung ‘Toleranz’ aufweist).