Teil II: Diskursanalyse
7. Argumentationsanalyse
7.2. KONTRA Narkamaŭka
7.2.5. Ethisch-moralische Argumente
Viele ethisch-moralische Argumente gegen die Narkamaŭka sind eng mit den historisch-politischen verbunden. Im Vergleich mit letzteren liegt der Akzent der Bewertung auf den ethisch-moralischen Aspekten der Handlungen der sowjetischen Führung. Da gesetzliche Anhaltspunkte für eine negative Bewertung der sowjetischen Geschichte in Belarus fehlen (z.B.
durch Delegitimieren der kommunistischen Ideologie auf der Gesetzebene), verlagert sich der Diskurs in Bezug auf die sowjetische Vergangenheit auf die ethisch-moralische Ebene. Einige Diskursteilnehmer verlangen eine Umwertung der sowjetischen Geschichte und betonen dabei, dass die Öffentlichkeit auf einen Gerichtsprozess in Bezug auf die ‘Verbrechen des Kommunismus’ wartet. Die Narkamaŭka stelle dabei ein Beispiel für ‘kommunistische Verbrechen’ dar:
(7.61) На парозе абвяшчэньня незалежнасьці, на мяжы 1980-х і 1990-х гадоў канфлікт двух правапісаў акрэсьліўся як канфлікт, галоўным чынам, этычны. Нельга пісаць паводле рэпрэсіўнага нарматыву. Асабліва калі мы ўсе жывем у чаканьні суду над злачынствамі камунізму.264 (30.08.2007)
‘An der Schwelle der Ankündigung der Souveränität [der Republik Belarus], an der Grenze der 1980er und 1990er Jahre, hat sich der Konflikt zwischen den beiden Rechtschreibungen als ein vor allem ethischer Konflikt abgezeichnet. Man darf nicht nach repressiven Normen schreiben. Insbesondere wenn wir alle darauf warten, dass die Verbrechen des Kommunismus vor Gericht gebracht werden.’
Interessant ist, dass die Narkamaŭka in diesem Zusammenhang nicht als ‘Opfer’, sondern als
‘Täter’, nicht als ‘repressierte’, sondern als ‘repressive’ Sprachvarietät dargestellt wird (vgl.
auch Kapitel 8). Aus diesem Grund bedeutet die Verwendung der Narkamaŭka nicht nur das
‘Vergeben’, sondern auch die nachträgliche ‘Bewilligung’ der Ereignisse jener Zeit:
(7.62) Лёс мовы непасрэдна зьвязаны з лёсам дзяржавы. Дастаткова глянуць на тое, адкуль зьявілася "наркамаўка", каб раскласьці ўсё па сваіх месцах... Ніякае ‘працягваньня рукі’ не магчымае, бо гэта значыць не проста дараваць, але і ухваліць усе гады генацыду, зьняваг і этнацыду.265 (30.08.2007)
‘Das Schicksal der Sprache ist unmittelbar mit dem Schicksal des Staates verbunden. Es genügt, darauf zurückzublicken, wie die Narkamaŭka entstanden ist, damit alles klar wird…
Kein ‘Handreichen’ ist möglich, weil dies nicht nur Vergebung, sondern auch Befürwortung all dieser Jahre des Genozids, der Missachtung und des Ethnozids bedeuten würde.’
Hierfür kann man den ‘Topos der Verzeihung und Billigung der sowjetischen Taten’
formulieren: ‘Weil die Verwendung der Sprachvarietät X Verzeihung und Billigung der sowjetischen Taten impliziert, sollte sie nicht gewählt werden’.
264 S. Dubavec https://nn.by/?c=ar&i=11177#startcomments (02.02.2019).
265 Artes https://m.nn.by/articles/11136/comments/ (02.02.2019).
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Die Narkamaŭka zu verwenden, bedeutet außerdem, die Repressionen an der belarussischen Sprache weiter auszuüben. Ihre Verwendung stellt somit ‘Schande’ und ‘Gewalt’ über die belarussische Sprache dar:
(7.63) Вывучай "тарашкевіцу", бо "наркамаўка" - гэта зьдзек і гвалт. А калі ратуеш за беларушчыну, дык зь якога хрэна вывучаць гэтае сталінісцкае вычварэньне мовы беларускае? Увогуле не разумею прыхільнікаў "наркамаўкі".266 (04.03.2005)
‘Lerne Taraškevica, denn Narkamaŭka bedeutet Schande und Gewalt. Wenn dein Herz für das Belarussische schlägt, warum soll man dann diese stalinsche Perversion der belarussischen Sprache lernen? Ich verstehe die Anhänger der Narkamaŭka überhaupt nicht.’
Den Topos, aus dem das oben angeführte Argument abgeleitet wird, kann man ‘Topos der Gewalt an der belarussischen Sprache’ nennen: ‘Weil die Verwendung der Varietät X mit Gewalt an der belarussischen Sprache gleichzusetzen ist, sollte die Varietät X nicht gewählt werden’.
Auch die Entscheidung der Zeitung Naša Niva, zur Narkamaŭka zu wechseln, wird aus ethisch-moralischer Sicht negativ bewertet und scharf verurteilt: die Entscheidung der Zeitung wird als
‘schändlicher und unanständiger Schritt’, als ‘Verrat’, als ‘Dolchstoß in den Rücken’ und als
‘Kompromiss mit den Mördern der Nation’ klassifiziert.
(7.64) Ганебны ды непрыстойны крок. І неразумны, па-мойму.267 (05.12.2008)
‘Ein schändlicher und unanständiger Schritt; und ein unvernünftiger, meiner Meinung nach’
(7.65) Клясычны правапіс такі жа сымбаль Беларусі, як і БЧБ з Пагоняй. І дабраахвотная [адмова] ад яго - гэта самая сапраўдная здрада.268 (04.12.2008)
‘Die klassische Rechtschreibung ist genauso ein Symbol von Belarus wie die weiß-rot-weiße Fahne und Pahonja [Wappen]. Und der freiwillige [Verzicht] darauf ist ein wahrer Verrat.’
(7.66) Хтосьці скажа - малайцы, але для агромністай колькасьці людзей гэта як удар у сьпіну.269 (05.12.2008)
‘Jemand wird sagen: gut so! Aber für eine riesige Anzahl der Menschen ist das wie ein Dolchstoß in den Rücken.’
(7.67) Prabljema paljahaje nie u zmienie pravapisu abo navat movy, ale u insasci idealohiji. Tut spatyknucca i pavaljacca prystasavancy. Kampramis z zabojcami nacyji zauzdy zakancvausja trahicna... Zabylisja na 37 hod?.. Vam napomniac.270 (11.12.2008)
‘Das Problem liegt nicht in der Änderung der Rechtschreibung oder Sprache, sondern in der Andersheit der Ideologie. Amphibiennaturen werden hier stolpern und umfallen. Ein Kompromiss mit den Mördern der Nation hatte immer ein tragisches Ende… Habt ihr das Jahr 1937 [das Jahr der Stalin’schen Massenrepressionen in der Sowjetunion] vergessen? Ihr werdet daran erinnert.’
Hier wird ein ethisch-moralisches Argument durch den ‘Geschichtstopos’ gestützt, der in Anlehnung an Wengeler (2003, 300) wie folgt formuliert werden kann: ‘Wenn die Geschichte lehrt, daß bestimmte Entscheidungen bestimmte negative Folgen haben, sollten die anstehenden Entscheidungen nicht getroffen werden’. Der Übergang der Zeitung zur Narkamaŭka wird als
266 slotoviepus https://batury.livejournal.com/9209.html (02.02.2019).
267 Alex https://m.nn.by/articles/22044/comments/page/3/ (02.02.2019).
268 Ilja https://m.nn.by/articles/22044/comments/page/2/ (27.02.2019).
269 Чытач-пісач https://m.nn.by/articles/22044/comments/page/3/ (27.02.2019).
270 Biez iljuzijau https://www.svaboda.org/a/1357257.html (02.02.2019).
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‘Kompromiss’ mit dem Lukašėnka-Regime angesehen; dabei zieht man Parallelen zu den Stalin-Zeiten, in denen viele Personen einen ‘Kompromiss’ mit dem Stalin-Regime eingegangen sind, indem sie für dieses Regime gearbeitet haben. Später wurden viele von ihnen infolge der Stalin’schen Repressionen verhaftet und liquidiert.
In einigen Beispielen wird der Verratsvorwurf explizit begründet; in solchen Fällen tritt der
‘Prinzipientopos’ in den Vordergrund: Durch die Übernahme der Narkamaŭka und das Aufgeben der Taraškevica demonstriere die Zeitung, die ein moralisches Vorbild für die Gesellschaft sein sollte, dass es keine Ideale und Prinzipien gibt, auf die man nicht verzichten könne:
(7.68) ГЭТА ЗДРАДА сп. Дынько і рэдакцыі "НН". Здрада прынцыпаў. […] Справа ў прынцыпах. Людзі-Чалавекі- маюць прынцыпы, іншыя тлумачаць чаму трэба ад іх адмовіцца. Нічога рэдакцыя НН не прыдбае. НН мела шанец ратаваць БЕЛАРУСКУЮ КУЛЬТУРУ... […] "Звязда" таксама друкуецца на "наркамаўцы" і з кожным нумарам там усё больш расейскіх слов. То што гэта паступовы пераход на трасянку, бліжэй да народу? Вось такімі здрадамі хаваюць БЕЛАРУСЬ!271 (04.12.2008)
‘Das ist ein Verrat von Dyn’ko und der Redaktion der Naša Niva. Ein Verrat an den Prinzipien... Es handelt sich um Prinzipien. Leute, Menschen haben Prinzipien, die Anderen erklären, warum man auf sie verzichten muss. Die Redaktion der Naša Niva wird damit nichts gewinnen. Die Naša Niva hatte die Chance, die belarussische Kultur zu retten… Die Zvjazda wird auch in der Narkamaŭka herausgegeben und mit jeder Nummer erhöht sich die Zahl der russischen Wörter darin. Ist das ein allmählicher Übergang zur Trasjanka, [d.h.]
eine Annäherung an das Volk? Durch solchen Verrat begräbt man Belarus!’
(7.69) Ёсьць і яшчэ адзін момант. НН прэтэндуе на статус грамадзкага лідэра, дае ўзор грамадзкіх паводзінаў. Добры ж атрымаўся лідэр, які сваімі паводзінамі цьвердзіць:
няма такіх грамадзкіх прынцыпаў, ад якіх нельга было б адмовіцца!272 (10.12.2008)
‘Es gibt noch einen [wichtigen] Aspekt. Die Naša Niva beansprucht den Status eines bürgerlichen Führers, liefert ein Muster für bürgerliches Verhalten. Was für ein Führer ist das, der mit seinen Handlungen sagt: Es gibt keine bürgerlichen Prinzipien, auf die man nicht verzichten könnte.’
(7.70) Лічу гэты крок вялікай памылкай. Адмаўляючыся (да таго ж без асаблівых на тое прычынаў) нават ад прынцыпаў, мы трацім маральнае права нешта наагул казаць некаму.273 (04.12.2008)
‘Ich halte das für einen großen Fehler. Wenn wir274 (ohne besondere Gründe dafür) auf unsere Prinzipien verzichten, verlieren wir das moralische Recht, überhaupt jemandem etwas zu sagen.’
Der ‘Prinzipientopos’ wird in Spieß (2011, 499) folgenderweise formuliert: ‘Weil eine Handlung einem intrinsisch moralischen Wert bzw. intrinsisch moralischen Prinzipien und Normen widerspricht, sollte die Handlung unterlassen werden’. Die auf dem ‘Prinzipientopos’
basierende Argumentation beruft sich bei der Bewertung einer Handlung auf die Grundwerte oder Leitprinzipien einer Gesellschaft bzw. einer Gruppe: „Herangezogen werden Prinzipientopoi, um die entsprechende Handlung im Hinblick auf einen bestimmten Wert zu beurteilen, zu legitimieren oder zu kritisieren. Prinzipientopoi gehören zu den unbedingten,
271 Вітаўт https://www.svaboda.org/a/1355996.html (02.03.2020).
272 arshanski https://nasaniva.livejournal.com/37200.html?mode (14.02.2019).
273 С-Богдан https://m.nn.by/articles/22044/comments/page/2/ (02.02.2019).
274 Im letzten Beispiel identifiziert sich der Sprecher (S. Bohdan) mit der Zeitung und spricht in der 3. Person Plural, weil die Zeitung ab und zu seine Beiträge publiziert hat.
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kategorischen Argumentationsformen, die den zu legitimierenden Sachverhalt als an sich gut/gerecht bzw. als an sich schlecht/ungerecht betrachten und diesen aus prinzipiellen Gründen befürworten oder ablehnen.“ (Spieß 2011, 499).
Wie das für eine ethisch-moralische Argumentation typisch ist, wird der ‘Prinzipientopos’ erst dann thematisiert, wenn ein moralisches Prinzip verletzt wird. Wie aus den zitierten Beispielen ersichtlich wird, wird die Taraškevica von vielen Diskursteilnehmern als ein moralisches Prinzip, als ein Wert an sich angesehen (s. auch Abschnitt 7.3.5). Folglich bedeutet der Übergang zur Narkamaŭka einen Verzicht auf moralische Prinzipien bzw. Grundwerte. Aus diesem Grund wird die entsprechende Entscheidung der Zeitung, die einst für viele als moralische Autorität fungierte, als Verrat empfunden.