3 Screening des deutschen Gesundheitssystems: Strukturen, Stakeholderinnen und
3.3 Ergebnisse der Stakeholderbefragung
Wie in Kapitel 3.1 ("Zielsetzung und Vorgehensweise") dargestellt, wurden im Rahmen des Screenings Interviews zum einen mit Leitungspersonal von (Spitzen-)Verbänden des Gesundheitssystems geführt, zum anderen mit Einzelpersonen, die seit Jahren einschlägig im Themenfeld „Ressourcenschonung und Gesundheit“ tätig sind. Neben der Charakterisierung der eigenen Organisation bzw. der eigenen Tätigkeit erbrachten die Interviews Gesamteinschätzungen zur Stakeholderlandschaft, Hinweise auf einschlägig tätige Stakeholderinnen und Stakeholder sowie Einzelakteurinnen und -akteure, auf Bei-spiele guter Praxis der Ressourcenschonung, sowie auf besonders ressourcenintensive Produkte und Prozesse. Auf Ergebnisse zu den beiden letztgenannten Punkten wird in Kapitel 4 („Analyse prioritärer
49 In Deutschland sind etwa 90 % der Bevölkerung gesetzlich krankenversichert, knapp 10 % privat krankenversichert (Zahlen für das Jahr 2016: Gesamtbevölkerung 82.521.653; davon gesetzlich krankenversichert 71.449.138; vollständig privat krankenversichert 8.772.700. Quelle: Gesundheitsberichterstattung des Bundes, http://www.gbe-bund.de; abge-rufen am 26.2.2018.
79 sektoraler Handlungsfelder des Ressourcenkonsums im Gesundheitssektor“) und Kapitel 5 („Beispiele guter Praxis der Ressourcenschonung im Gesundheitssystem“) näher eingegangen, konkrete Beispiele guter Praxis sind im Anhang (Kapitel 9.1) zu finden.
Charakterisierung der Stakeholderlandschaft - Ebene der (Spitzen-)Verbände
► (Spitzen-)Verbände, die die Stakeholdergruppen der medizinischen Leistungserbringung, der Pharma- und Medizintechnikindustrie repräsentieren, haben einen großen Einfluss innerhalb des Gesundheitssystems.
► Ihre Charakterisierung im Hinblick auf ihre Tätigkeitsschwerpunkte, Themenprofile und Orga-nigramme, in der Regel auf Basis der Internetdarstellung der jeweiligen Organisation, zeigte, dass organisatorische Strukturen, Aktivitäten und Ansprechpersonen mit Bezug zum Thema
„Ressourcenschonung im Gesundheitssystem“ in der Regel nicht ausgewiesen werden. Inter-views wurden mit der jeweiligen Geschäftsführung, mit Vorstandsmitgliedern bzw. mit Perso-nen geführt, in deren Zuständigkeitsbereich das Thema fällt. Die Interviews bestätigten, dass in den (Spitzen-)Verbänden dem Thema der Ressourcenschonung aktuell ein geringer Stellen-wert zugemessen wird (Aussage in einem Interview: „Auf einer Skala zwischen 1 und 5, wobei 5 ganz hohes Interesse und 1 relativ wenig ist, würde ich zwischen 2 und 3 ansiedeln, eher vielleicht auf 2 als auf 3“). Indikatoren hierfür sind Aussagen der Befragten, das häufige Fehlen dezidierter Ansprechpersonen, Gremien oder einschlägiger Aktivitäten, sowie der Vergleich mit der Vergangenheit (siehe unten).
► Alle Befragten auf der Ebene der (Spitzen-)Verbände hatten eine grundsätzlich aufgeschlos-sene, positive Haltung gegenüber dem Thema Ressourcenschonung - möglicherweise allein schon aus Gründen der politischen Korrektheit. Diese positive Einstellung bezog sich allerdings vorrangig auf das Thema allgemein und einen generellen gesellschaftlichen Handlungsbedarf.
Für das Gesundheitssystem bzw. den Bereich ihrer eigenen Organisation war eine positive Ein-stellung gegenüber Maßnahmen zu verzeichnen, die zugleich mit Kosteneinsparungen, höherer Wirtschaftlichkeit oder der Einhaltung regulatorischer Anforderungen einhergehen. Nach Aus-sagen der Befragten gehören entsprechende Aktivitäten jedoch bereits zum „Alltagsgeschäft"
ihrer Mitglieder.
► Es gab keine Äußerungen von den Verbandsvertreterinnen und -vertretern, die auf eine hohe Bereitschaft schließen lassen, bei den Aktivitäten zur Ressourcenschonung über den aktuellen Status quo hinauszugehen, aber auch keine grundsätzliche Ablehnung. Teilweise war aller-dings eine leicht defensive Haltung zu beobachten, insbesondere, wenn die vom Verband ver-tretenen Einzelakteurinnen und -akteure in der öffentlichen Wahrnehmung ein eher negativ besetztes Image in Bezug auf den Umweltschutz haben. Es ist anzumerken, dass Verbandsver-tretungen üblicherweise zurückhaltend agieren, wenn es um Themen geht, zu denen auf Ver-bandsebene keine Positionen erarbeitet wurden. Dies schließt nicht aus, dass es auf der Ebene der von den Verbänden vertretenen Einzelakteurinnen und -akteure (z. B. einzelne Unterneh-men, Krankenhäuser o. ä.) durchaus Organisationen und Personen gibt, die eine deutlich hö-here oder geringere Bereitschaft zur Ausweitung der Ressourcenschonung zeigen.
► Die Verbände stehen mit ihren Mitgliedern in der Regel nicht oder nur wenig im Austausch speziell zum Thema Ressourcenkonsum und -schonung und sind dementsprechend auch nur mäßig gut über deren Aktivitäten informiert.
► Nach übereinstimmender Einschätzung einer Mehrzahl der Befragten haben Stellenwert und Aktivitäten zu Umweltschutz und Ressourcenschonung seit ihrer „Blütezeit“ in den 1980/90er Jahren in Intensität, Engagement und strategischer Weiterentwicklung abgenommen. Viele der damals eingerichteten Gremien, Arbeitskreise oder Zuständigkeiten gibt es nicht mehr, oder sie bestehen mit veränderter thematischer Ausrichtung fort (höherer Stellenwert von Arbeits-
80 und Gesundheitsschutz im Vergleich zum Umweltschutz), oder sind in ihrem Fortbestand auf-grund von Nachwuchsmangel bedroht, weil die Hauptaktiven (bald) nicht mehr beruflich tätig sind. Für weiterhin für die Thematik zuständige Personen ist Umweltschutz und Ressourcen-schonung häufig nur noch ein Thema unter vielen anderen, die prioritär bearbeitet werden.
► Als Gründe für diesen Rückgang werden genannt: bereits hohes Niveau in Bezug auf Umwelt-schutz und Ressourcenschonung erreicht; andere Herausforderungen im Gesundheitssystem werden demgegenüber als strategisch wichtiger und dringlicher eingestuft; Auslastung durch Arbeitsverdichtung und zusätzliche Aufgaben, die es verhindern, Aktivitäten auch außerhalb der "Pflichttätigkeiten" zu entfalten; anstelle von Möglichkeiten, „über den Tellerrand zu schauen“ und Umweltthemen auf die Agenda zu setzen, liege der Schwerpunkt der aktuellen Arbeiten in den Verbänden und Gremien eher auf Stellungnahmen zu geplanten regulatori-schen Änderungen; Implikationen regulatorischer Änderungen für die bisherige Praxis.
► Von einigen Befragten wurden Zielkonflikte zwischen Ressourcenschonung und Personalkos-ten, Hygieneanforderungen, Verfügbarkeit von Mehrwegprodukten oder der Akzeptanz ent-sprechender Maßnahmen bei den Beschäftigten als Gründe für einen begrenzten Handlungs-spielraum genannt.
► Sofern auf Ebene der befragten Verbände Aktivitäten zur Ressourcenschonung bestehen, han-delt es sich meist um die Koordination von oder Beteiligung an (informellen) Arbeitskreisen zu Umweltschutz im Krankenhaus50 bzw. zum Themenfeld Gesundheit - Sicherheit - Umwelt. Im Themenfeld Arzneimittel werden häufig Aktivitäten im Kontext der Spurenstoffstrategie51 (Arzneimittelrückstände in Wasser und Umwelt) genannt, Maßnahmen zur Begrenzung von Antibiotikaresistenzen, sowie die Eco-Pharmaco-Stewardship Initiative der europäischen Ver-bände der Arzneimittelhersteller52.
Charakterisierung der Stakeholderlandschaft - Ebene der Einzelakteurinnen und Akteure, die spezifisch im Themenfeld Umweltschutz und Ressourcenschonung im Gesundheitssystem aktiv sind
► Die Gruppe der Akteurinnen und Akteure, die spezifisch im Themenfeld Umweltschutz und Ressourcenschonung im Gesundheitssystem aktiv sind, ist klein, besteht aus sehr unterschied-lichen Organisationen und gruppiert sich um einen Kern engagierter Personen, die meist schon seit Jahrzehnten einschlägig tätig und untereinander gut vernetzt sind.
► Der Kern dieser Akteursgruppe zeichnet sich durch eine hohe intrinsische Motivation zur Res-sourcenschonung aus und die Einstellung, dass es, wie ein Befragter formulierte, „ein morali-scher Widerspruch sei, wenn man den Menschen heile, aber die Umwelt kaputt mache.“ Häufig bleibt jedoch ihr Einfluss auf den jeweiligen unmittelbaren Tätigkeitsbereich (z. B. ein Kran-kenhaus) begrenzt.
50 Nähere Informationen s. Beispiel guter Praxis Nr. 28 im Anhang 9.1 („Beispiele guter Praxis für Ressourcenschonung im Gesundheitssystem“).
51 Die Spurenstoffstrategie ist eine Initiative des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit, in der gemeinsam mit Ländern, Kommunen und Branchenvertreterinnen und Vertretern Lösungsansätze für die Vermei-dung und Verminderung des Eintrags von Spurenstoffen entwickelt werden und umgesetzt werden sollen. Dabei geht es also vorrangig um den Schutz der Umwelt vor Spurenstoffen, nicht um die ressourcenschonende Herstellung und Ver-wendung von Arzneimitteln und anderen chemischen Produkten. Weitere Informationen sind unter https://www.dialog-spurenstoffstrategie.de verfügbar.
52 Mit der Eco-Pharmaco-Stewardship-Initiative (EPS) zielen die europäischen Pharma-Verbände darauf ab, Umweltrisiken von Arzneimittelwirkstoffen zu bewerten, gute Praxis zum Umgang mit Abwässern aus der Arzneimittelherstellung zu-sammenzustellen und das bestehende Verfahren zur Umweltrisikobewertung von Arzneimitteln zu verfeinern, s. z. B.
https://www.efpia.eu.
81
► Dem Kern zuzuordnen sind die Stiftung viamedica53, informelle Arbeitskreise auf Länderebene zu Umweltschutz im Krankenhaus (s. Fußnote 50), die dem Erfahrungsaustausch von Umwelt-, Abfall- und Hygienebeauftragten in Krankenhäusern dienen und deren organisatorische An-bindung, deren Aktivitätsniveau, Zusammensetzung und Themen regional unterschiedlich sind. Häufig sind sie bei den Landeskrankenhausgesellschaften, in einzelnen Fällen auch bei Gesundheits- bzw. Umweltministerien der Bundesländer angesiedelt bzw. entsenden diese ein Mitglied in den Arbeitskreis. Auch der BUND Berlin engagiert sich seit Jahren im Themenfeld Ressourcenschonung im Krankenhaus54.
► Dem Kern zuzuordnen sind darüber hinaus einzelne Krankenhäuser, die sich strategisch in be-sonderem Maße auf Nachhaltigkeit ausgerichtet haben, i. d. R. anspruchsvolle Umweltmanage-mentsysteme (z. B. EMAS-Zertifizierung, s. auch Beispiel guter Praxis Nr. 26 im Anhang 9.1
„Beispiele guter Praxis für Ressourcenschonung im Gesundheitssystem“) und eine Vielzahl von Maßnahmen in allen Bereichen des Krankenhauses (Bau, Energie, Einkauf, Verpflegung, Mobi-lität, etc.) implementiert haben. Sie sind über Datenbanken, „Green-Hospital“-Programme oder -Preise gut auffindbar, stellen aber eine Minderheit innerhalb der Krankenhäuser dar. Einige Bundesländer, beispielsweise Bayern55 und Rheinland-Pfalz56, haben „Green Hospital“-Landes-programme aufgelegt, in denen Krankenhäuser im jeweiligen Bundesland unterstützt und ge-würdigt werden, die nachhaltig, ökologisch und sozial handeln.
► Es bestehen personelle Verflechtungen dieses Kerns zu Fachausschüssen des VDI bzw. VDE, die entsprechende Richtlinien bzw. Anwendungsregeln für Krankenhäuser erarbeiten.
► Darüber hinaus gibt es privatwirtschaftliche Akteurinnen und Akteure, die sich auf Ressour-ceneinsparmaßnahmen im Gesundheitssystem spezialisiert haben und Beratungs-, Ingenieurs-, Projektoptimierungs- und Finanzierungsleistungen anbieten.
► Insgesamt ist die Gruppe der Akteurinnen und Akteure, die spezifisch im Themenfeld Umwelt-schutz und Ressourcenschonung im Gesundheitssystem aktiv sind, vorrangig auf die prakti-sche Implementierung von ressourcenschonenden Maßnahmen ausgerichtet. Hierbei gibt es zahlreiche Initiativen, Einzelkämpferinnen und -kämpfer mit begrenzten personellen, finanzi-ellen Ressourcen und Möglichkeiten der Einflussnahme, sowie verstreut vorliegendes Wissen, das teilweise in Arbeitskreisen und Veranstaltungen zusammengeführt wird. Eine breite Im-plementierung von guter Praxis ginge jedoch über die Ressourcen und den Einfluss dieser Ak-teurinnen und Akteure hinaus.
► Während der Schwerpunkt auf der praktischen Implementierung liegt, erscheint die strategi-sche Ausrichtung und wirksame Vernetzung mit einflussreicheren Stakeholderinnen und Sta-keholdern, z. B. in Verbänden und Politik, gering.
53 Die Stiftung via medica wurde 2002 vom Preisträger des Deutschen Umweltpreises, Prof. Dr. Franz Daschner gegründet.
Der Zweck der Stiftung ist die Förderung von Wissenschaft und Forschung im interdisziplinären Bereich von Umweltme-dizin, Krankenhausökologie, Krankenhaus- und Umwelthygiene, Naturheilkunde, nachhaltige Pharmazie und nachhaltige Chemie. Nähere Informationen unter https://www.viamedica-stiftung.de sowie im Beispiel guter Praxis Nr. 22, s. An-hang 9.1 („Beispiele guter Praxis für Ressourcenschonung im Gesundheitssystem“).
54 Der BUND Berlin führt seit Jahren Projekte zur Energie- und Ressourceneinsparung sowie der Verringerung von Klima-gasemissionen in Krankenhäusern durch. Dazu gehören beispielsweise das BUND-Siegel „Energie sparendes Kranken-haus“, s. https://energiesparendes-krankenhaus.de/, sowie das Projekt Klimamanager für Kliniken KliK Green (Good Practice-Beispiel Nr. 21).
55 https://www.stmgp.bayern.de/gesundheitsversorgung/krankenhaeuser/green-hospital-bayern-das-umweltbewusste-bayerische-krankenhaus/.
56 https://mueef.rlp.de/de/themen/klima-und-ressourcenschutz/ressourceneffizienz/green-hospital/.
82 Charakterisierung der Stakeholderlandschaft - Ebene der Implementierung konkreter Maßnahmen zur Ressourcenschonung
Geht es nicht um Ressourcenschonung im Gesundheitssystem generell, sondern um die Initiierung und Implementierung konkreter Maßnahmen in einer konkreten Einrichtung, ergeben sich in der Hierar-chie der jeweiligen Organisation weitere Stakeholdergruppen, die spezifisch einzubinden bzw. zu ad-ressieren sind. Abbildung 13 gibt eine Übersicht über diese Stakeholdergruppen, ihre jeweilige Moti-vation zur Implementierung von Maßnahmen zur Ressourcenschonung und ihren jeweiligen Einfluss in der Einrichtung. Dies wird im Folgenden beschrieben.
► Eine besondere strategische Ausrichtung auf Nachhaltigkeit gelingt in der Regel erst bzw. nur, wenn das Leitungspersonal der Einrichtung (z. B. des Krankenhauses) entsprechende Maßnah-men ausdrücklich strategisch und operativ unterstützt.
► In Bezug auf die Aufgeschlossenheit gegenüber Ressourceneinsparungsmaßnahmen kann all-gemein davon ausgegangen werden, dass eine hohe intrinsische Motivation bei den zuständi-gen Umwelt- und Abfallbeauftragten sowie beim Pflegepersonal besteht. Zu beachten ist aller-dings, dass viele Maßnahmen mit veränderten Arbeitsabläufen, Routinen, Zuständigkeiten und Tätigkeitsprofilen einhergehen, die Ursache für Widerstände sein können. Diese ambivalente Haltung ist auf der Ebene der technischen Leitungen ausgeprägt, während auf der Ebene des ärztlichen Personals Vorbehalte überwiegen. Eine große Aufgeschlossenheit ist bei der kauf-männischen Leitung zu verzeichnen, sofern die Maßnahmen mit Kosteneinsparungen (insbe-sondere bei kurzen Amortisationszeiträumen) einhergehen und die Finanzierung gewährleis-tet ist.
► Erfahrungsberichte aus Einrichtungen, die sich strategisch besonders auf Nachhaltigkeit ausge-richtet haben, weisen auf die hohe Bedeutung besonders motivierter und engagierter Einzel-personen hin. Diese brauchen zwingend den strategischen und operativen Rückhalt durch die Leitung der Einrichtung sowie die intensive Vernetzung und Kommunikation zwischen ver-schiedenen Organisationseinheiten und Zuständigkeiten (z. B. Einkauf, Hygiene etc.), die Ein-bindung, Information, Qualifikation und Schulung der von der Maßnahmen Betroffenen, sowie ein Nachhalten und eine Erfolgskontrolle der implementierten Maßnahmen.
83 Abbildung 13: Motivation und Einfluss zum Ergreifen von Maßnahmen zur Ressourcenschonung bei
Stakeholdergruppen in Einrichtungen des Gesundheitssystems
Quelle: Eigene Darstellung von Informationen aus Interviews