3. Das europäische Bedrohungsbewusstsein von 1890 bis 1914
4.1 Entwicklung und Zielsetzung des europäischen Integrationsgedankens
4. Zur Spezifik des europäischen Integrationsgedankens um 1900
Das europäische Bedrohungsbewusstsein lieferte für viele Zeitgenossen die einzig denkbare Voraussetzung für die Errichtung eines europäischen Staatenbundes.393 Im Hinblick auf die sich vertiefende Gefährdung der europäischen Position in der Welt an der Schwelle zum 20.
Jahrhundert infolge der Modernisierung in den USA und Japan sowie einer bestehenden Kriegsgefahr in europa selbst haben selbst einige Skeptiker auf die Möglichkeit der Erschaffung zumindest eines zeitweiligen europäischen Bündnisses hingewiesen.
„Die Macht und der Einfluss Europas würden herrschend sein in der Welt, und Europa könnte für manche Jahrhunderte jeden fremden Angriff abwehren, sei derselbe wirtschaftlicher, sei er kriegerischer Art.“396
Der Erhalt der politischen Vorrangstellung Europas in der Welt und die Sicherung seiner Position als Wirtschaftsmacht gehörten zweifellos zu den wichtigsten Zielen einer Integration des europäischen Kontinents. Auf eine weitere Zielsetzung des europäischen Integrationsgedankens an der Wende zum 20. Jahrhundert stößt man im Rahmen der Debatte über die Bedrohung durch einen Kriegsausbruch in Europa. Es ist kennzeichnend für den Entwicklungsprozess von europäischen Einigungsprojekten, dass sie sehr häufig unmittelbar nach der Beendigung europäischer Kriege verfasst wurden: „Zur gleichen Zeit wie die Nationalstaaten entsteht bei einigen Vordenkern die Idee einer europäischen Föderation und taucht nun bei jedem Krieg und jedem Friedensvertrag wieder auf“397, so der französische Soziologe Edgar Morin. Symptomatisch für die Entwicklung der Idee einer Einigung Europas ist zudem, dass sich die Verfasser von Plänen für einen Zusammenschluss der europäischen Staaten damit immer auch die Sicherung des Friedens in Europa zum Ziel setzten. Das trifft auf die Europa-Pläne von Sully und Saint-Pierre über Max Waechter, Nikolaus von Coudenhover-Kalergi bis hin zu Robert Schumann zu.398 Besonders aufschlussreich für die Verbindung zwischen dem Streben nach einer dauerhaften Sicherung des Friedens auf dem europäischen Kontinent und der Entstehung von Europa-Plänen ist das Aufleben des europäischen Einigungsgedankens in der Zeit unmittelbar nach dem Ausgang des Ersten und Zweiten Weltkrieges. Auch die zwischen 1890 und 1914 entstandenen Europa-Pläne setzten sich die Sicherung des Friedens in Europa zum Ziel. Eine besondere Bedrohung für den europäischen Integrationsgedanken sahen die Autoren dieser Pläne insbesondere in dem hostilen Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland nach der Annexion des Elsasses durch die Deutschen im Jahre 1871.
Von gewisser Bedeutung für die Verbindung zwischen dem Wunsch nach einer dauerhaften Sicherung des Friedens in Europa und dem europäischen Einigungsgedanken war seit dem 19 Jh. die Bezugnahme europäischer Pazifisten auf die Kantsche Idee des „Ewigen Friedens“, die zugleich eine wichtige Konstante der europäischen Einigungsidee bildete. Ein aussagekräftiges Zeitzeugnis für die Popularität dieses Konzepts in Europa um 1900 liefert
396 Waechter, Der Europäische Bund, S. 203.
397 Morin, Europa denken, S. 48.
398 Zu den Europa-Plänen von Sully, Saint-Pierre, Coudenhove-Kalergi und Richard Schumann siehe Derek Heater, Europäische Einheit – Biographie einer Idee, Bochum 2005.
insbesondere Ludwig Steins „Das Ideal des ‚ewigen Friedens„ und die soziale Frage“.399 Die Studie beinhaltet eine prophetische Aussage über das künftige Schicksal der europäischen Einigungsidee:
„Leider vermag sich der alle Faktoren überschauende Soziologe der Befürchtung nicht zu entschlagen, daß der kriegerische Typus Europas noch in einer letzten Entscheidungsschlacht sein unheimlich in die Ohren gellendes Abschiedslied singen wird, bevor er endgültig dem industriellen Typus den Vorrang einräumt. Und so wie das geeinte Italien erst durch die muthigen Schaaren Garibaldi`s ermöglicht wurde, und das geeinte Deutschland erst auf den Schlachtfeldern die Bluttaufe erhielt, um in Versailles aus der Taufe geboren zu werden, so wird vermuthlich das geeinte Europa erst in einem künftigen Versailles geboren werden.“400
Dass die Integration Europas aus einem europäischen Bruderkrieg hervorgehen würde, hat auch der Schriftsteller Ludwig Fulda antizipiert. Seine Prognose beinhaltet zudem eine hellseherische Äußerung über die Zukunft der Verhältnisse zwischen Europa und den USA:
„Nach jedem großen europäischen Kriege der Zukunft werden auch die Sieger die Besiegten Amerikas sein.
Aber sogar in einem andauernden Frieden, zumal in einem derart waffenbeladenen, werden die einzelnen Nationalstaaten für sich allein mit dem höher und höher emporwachsenden Riesen überm Ozean nicht gleichen Schritt halten können. Dazu sind sie zu klein. Um die Vorherrschaft werden einst Stadt mit Stadt, dann Gau mit Gau, dann Land mit Land, künftig nur noch Kontinent mit Kontinent zu ringen haben, und ein zerstückelter muß einem ungeteilten unterliegen. Soll die alte Welt von der Neuen nicht in den Schatten gestellt, nicht von ihrer Übermacht dermaleinst auch ohne feindlichen Zusammenstoß erdrückt werden, so hat sie nur ein einziges Rettungsmittel. Die Hoffnung aber, daß es rechtzeitig angewendet werden wird, scheint heute utopischer als je.
Es heißt: Die Vereinigten Staaten von Europa.“401
Die Aufrechterhaltung der europäischen Position in der Welt sowie die Sicherung des Friedens in Europa bildeten, wie bereits hervorgehoben, die wichtigsten zwei Zielsetzungen der Pläne an der Wende zum 20. Jahrhundert. Die Mehrheit der Autoren von Europa-Plänen haben beide Zeilsetzungen gleichzeitig verfolgt. Ein wichtiges Beispiel liefert in Bezug darauf der deutsche Schriftsteller Ludwig Fulda, Max Waechter, ein Großkaufmann deutscher Herkunft, und der bereits zitierte Kultursoziologe Ludwig Stein. Der Hauptunterschied zwischen den drei Autoren besteht in der unterschiedlichen Bewertung, die sie einem europäischen Krieg für die Idee einer Integration Europas zugewiesen haben. Stein und Fulda betrachteten eine gewaltsame Auseinandersetzung zwischen den europäischen Staaten als unausweichlich. Die Bildung einer Union europäischer Staaten wurde von ihnen erst als Folge eines europäischen Krieges angenommen. Waechter hingegen sah in der Gründung eines „Europäischen Bundes“ ein Mittel, den Ausbruch einer solchen gewaltsamen Auseinandersetzung in Europa unmöglich zu machen. Alle drei Autoren waren sich dennoch darin einig, dass ein neuer Krieg in Europa der Epoche der Suprematie des europäischen
399 Ludwig Stein, Das Ideal des „ewigen Friedens“ und die soziale Frage, Berlin 1896. Siehe insbesondere S. 26–44.
Die Studie erschien zum hundertsten Jubiläum der Veröffentlichung der Schrift Immanuels Kants „Der ewige Frieden“. Eine zeitgenössische Quelle zur Untersuchung der Idee des „ewigen Friedens“ liefert auch eine Studie von Kückelhaus: Theodor Kückelhaus, Der Ursprung des Planes vom ewigen Frieden in den Memoiren des Herzogs von Sully, Berlin 1892.
400 Stein, Das Ideal des „Ewigen Friedens“, S. 54.
401 Ludwig Fulda, Amerikanische Eindrücke, Stuttgart u. Berlin 1906, S. 215 f.
Kontinents in der Welt ein Ende setzen würde. Zudem sahen sowohl Stein und Fulda als auch Waechter in der Bildung einer Union der europäischen Staaten das optimale Mittel, dem Verlust der europäischen Vorrangstellung in der Welt vorzubeugen. Besonders aussagekräftig für den Zusammenhang zwischen dem drohenden Ausbruch eines europäischen Bruderkrieges und der Gefährdung der europäischen Machtposition ist das folgende Fragment aus Waechters
„Der Europäische Bund“:
„Solch ein Krieg würde den Besiegten völlig zerschmettern, den Sieger derart erschöpft zurücklassen, dass jede fremde Macht leicht dem gesamten Europa ihren Willen aufzwingen könnte. […] Ich behaupte, es gibt nur ein einziges Mittel, welches geeignet ist, bei dieser verwickelten Lage Hilfe zu bringen und für die Dauer Sicherheit zu bieten. Das ist ein ‚Europäischer Bund„.“402
Die verheerenden Folgen, die der Ausbruch eines neuen Krieges in Europa für den Kontinent haben müsste, hat zudem ein weiterer Befürworter der Idee einer Integration Europas hervorgehoben, der unter dem bezeichnenden Pseudonym „Européen“ publizierte. Bei allen vier Autoren, Stein, Fulda, Waechter und „Européen“, handelte es sich primär um die Befürchtungen vor einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Frankreich. In Bezug auf eine derartige Gefahr und ihre künftigen Folgen für den europäischen Kontinent betonte der „Europäer“: „Dans l‟hypothèse d‟une nouvelle guerre entre l‟Allemagne et la France, il est plus que probable […] que la lutte amenerait une conflagration européenne“403.
Unter Bezugnahme auf die Beiträge von Stein, Fulda, Waechter und „Européen“ zur Debatte über eine europäische Einigung lässt sich die These aufstellen, dass einige scharfsinnige Zeitkritiker schon um 1900 die Kausalität zwischen dem Ausbruch eines neuen Krieges in Europa und dem Verlust der globalen Vorrangstellung dieses Kontinents erkannten. Der Hinweis auf negative Auswirkungen eines europäischen Krieges auf die Machtposition Europas bildete ein wichtiges Charakteristikum der europäischen Debatte über eine Integration des Kontinents in den letzten Jahrzehnten vor 1914. Dieser Aspekt liefert zudem ein markantes Zeugnis für das Aufkommen von zwei besonders wichtigen Phänomenen der europäischen Geschichte an der Wende zum 20. Jahrhundert: Zum einen handelt es sich hier um die Entwicklung eines globalen Weltbewusstseins bei den Europäern.
Dieser Prozess stand mit der Notwendigkeit einer neuen Positionierung Europas gegenüber den anderen Kontinenten, besonders des amerikanischen, im Zusammenhang. Zum anderen spielt hier das Bewusstsein des einsetzenden Niederganges der europäischen Hegemonialposition in der Welt bei den Zeitgenossen eine wichtige Rolle. Im Hinblick auf
402 Max Waechter, Der Europäische Bund, in: Die Friedens-Warte, November 1907, H. 11, Jg. 9, S. 202.
403 Européen, Les Etats-Unis d‟Europe, S. 65.
den Gedanken einer Kriegsbedrohung lässt sich zudem festhalten, dass der Ausbruch eines Krieges zwischen den europäischen Nationen jetzt intensiver als bisher als eine internationale Angelegenheit, nicht mehr jedoch als eine nationale bzw. binationale betrachtet wurde.
Von Bedeutung für die Entwicklung der Idee einer Einigung des europäischen Kontinents waren auch die Friedens- und die Weltfriedenskongresse. In der Europa-Forschung wird in diesem Kontext vor allem auf den Verdienst des ersten Friedenskongresses hingewiesen, der im Jahre 1849 in Paris stattfand. Dies hängt mit der berühmten Rede des französischen Schriftstellers Victor Hugo zugunsten der Bildung von „Vereinigten Staaten von Europa“ zusammen, die auf diesem Kongress gehalten wurde.Hingegen wird der Beitrag, den die zwischen 1890 und 1914 veranstalteten Weltfriedenskongresse zum europäischen Integrationsgedanken lieferten, von der Forschung stark vernachlässigt. Die „kapitale Frage eines föderativen Paktes zwischen allen Staaten Europas“404 wurde schon während des I.
Weltfriedenskongresses von 1889 zum Gegenstand der Diskussion. Eine gewisse Einwirkung im Hinblick auf die Idee einer Einigung des europäischen Kontinents kommt zudem, wie schon die französische Historikerin Elisabeth Réau nachgewiesen hat, dem im Jahre 1891 in Rom veranstalteten III. Weltfriedenskongress zu:
„C‟est dans le cadre du troisième Congrès internationale de la Paix reuni à Rome en 1891 que plusieurs théoriciens du fédéralisme européen tentaient de relancer le thème des Etats-Unis d‟Europe. Les débats s‟inspiraient de certains travaux récents, notamment les études du professeur Lorimer, universitaire d‟Edimbourg, et ceux de Bluntschli, auteur d‟une étude en allemand sur l‟organisation de l‟Union européenne.“405
Auf ihm hatten der Italiener Ernesto Teodoro Moneta, die österreichische Friedenspropagandistin Baronin Bertha von Suttner und der Engländer S. J. Capper den Antrag gestellt, der den Gedanken eines europäischen Zusammenschlusses implizit formulierte. Der Antrag ist jedoch unter den Kongressteilnehmern auf keine große Zustimmung gestoßen. Hiervon zeugt, dass seine Erörterung auf den IV.
Weltfriedenskongress in Bern vertagt wurde.406 Die Diskussionen um die Idee einer Integration Europas, die 1892 auf dem Weltfriedenskongress in Bern geführt wurden, lassen sich anhand des „Bulletin Officiel du IVe Congrès Universel de la Paix“ gut verfolgen. Als die wichtigsten Ziele eines europäischen Einigungsprozesses nannten seine Teilnehmer die Sicherung des Friedens in Europa und die Förderung der „Geltung der Moral in der
404 Bulletin du Ier Congrès Universel de la Paix Paris 1889, Bern 1901, S. 24 ff., Zit. nach: Wehberg, Die Idee der Vereinigten Staaten von Europa, S. 84.
405 Réau, L‟idée d‟Europe, S. 66.
406 Die Information geht auf den Artikel von Wehberg zurück: Hans Wehberg, Die Idee der Vereinigten Staaten von Europa in den letzten 100 Jahren, in: Die Friedens-Warte, Nr. 2/3, 1941, S. 84.
Politik“407. Hervorgehoben wurde daneben auch der wirtschaftliche Nutzen einer Integration des europäischen Kontinents. Im Hinblick auf das Organisationsmodell eines geeinten Europa ist in der Resolution des Berner Weltfriedenskongresses von einem „auf dem Recht beruhenden europäischen Staate“ die Rede, der „in keiner Weise die Unabhängigkeit der einzelnen Nationen inbezug auf ihre inneren Angelegenheiten, insbesondere inbezug auf die Regierungsform“408 verletzen sollte. Zu betonen ist zudem der propagandistische Wert dieses Kongresses für die Förderung des Gedankens einer Integration Europas.409
Die Sicherung der europäischen Vorrangstellung in der Welt sowie des europäischen Friedens liefern die zwei wichtigsten Gründe für die Entwicklung von europäischen Integrationsplänen im Zeitraum zwischen 1890 und 1914. Die Debatte über eine Einigung der europäischen Staaten erschien den Zeitgenossen jedoch auch aus einigen anderen Gründen als erforderlich. Der französische Historiker Anatole Leroy-Beaulieu hat 1900 auf dem Kongress
„Les Etats-Unis d‟Europe“ auf sechs Faktoren hingewiesen, die aus der Wahrnehmung der tiefgreifenden Wandlung Europas an der Schwelle zum 20. Jahrhundert resultierten und die Notwendigkeit einer weitergeführten Diskussion über die Integration Europas sichtbar machen würden. Bei diesen sechs Faktoren handelt es sich um die technischen Modernisierungsprozesse, die fortschreitende Verbreitung der demokratischen Idee,
„bedrohliche“ Ansprüche der Arbeiterbewegung, die Beschränktheit des europäischen Marktes, die Vergrößerung der politischen Einflusssphäre Europas durch die Kolonialpolitik sowie um den Aufschwung des Militarismus auf dem europäischen Kontinent.410 Weitere Beweggründe für die Entwicklung von europäischen Einigungsprojekten lassen sich dem Beitrag des Soziologen und Kulturphilosophen Ludwig Stein zur Europa-Debatte entnehmen.
Nach seiner Einschätzung würde eine politische Einigung des europäischen Kontinents sowohl eine dauerhafte Lösung der „orientalischen Frage“ bewirken als auch das Problem des demographischen Zuwachses in Europa „vernünftiger“ regeln können:
„Ein europäischer Staatenbund würde die Türkei, einschließlich Egyptens, in einer Weise auftheilen, dass es keine orientalische Frage mehr gäbe, und zudem würden fruchtbare Länderstriche urbar gemacht und der Kultur erschlossen, so dass Europa nicht nötig hätte, mit seinem Menschenüberschuß Amerika zu bevölkern und sich dort einen gewaltigen Conkurrenten auf dem Weltmarkt groß zu ziehen, oder gar in tropische Zonen zu wandern, deren mörderischem Klima der Europäer nur selten gewachsen ist.“411
407 Das Zitat geht auf die bei Wehberg abgedruckte Fassung der Fragmente aus der Resolution des Berner Weltfriedenskongresses von 1892 zurück. Siehe Wehberg, Die Idee der Vereinigten Staaten von Europa, S. 85.
408 Ebenda.
409 Ebenda.
410 Leroy-Beaulieu, Les Etats-Unis d‟Europe, S. 5.
411 Stein, Das Ideal des „ewigen Friedens“, S. 54.
Eine „europäische Zollunion“ würde nach seinem Urteil auch „die brennende Agrarfrage“ mit Erfolg lösen können.412 „Die Vortheile eines europäischen Staatenbundes […] springen so sehr in die Augen“, resümierte Stein, „daß dieser sich auf die Dauer unbedingt wird durchsetzen müssen. Er ist die nothwendige Resultante aus den augenblicklich gegebenen soziologischen Prämissen.“413 Zahlreiche Vorteile, wie etwa die Sicherung des Friedens in Europa und die Stärkung seiner ökonomischen Position, versprach sich von einer Einigung Europas auch der bereits angeführte Großkaufmann Max Waechter:
„Ein europäischer Krieg würde tatsächlich unmöglich sein […] Europa würde jährlich 200 000 000 £ an Rüstungen sparen, […] diese ungeheuren Ersparnisse […] würden eine gehobene Lebensführung hervorrufen, neue Bedürfnisse und Ansprüche schaffen, welche wiederum die Produktion und Industrie heben und vereint mit Freihandel und freiem Verkehr eine unerhörte Prosperität herbeiführen würden […] Die Arbeitsgelegenheit würde in hohem Masse vermehrt werden […] Die Auswanderung würde aufhören oder könnte wenigstens, wenn sie nicht gänzlich beseitigt würde, in die europäischen Kolonien geleitet werden, […] die Umsturzideen würden allmählich verschwinden, Rassenvorurteile würden aufhören, […] wirtschaftlich würde Europa allmählich zu gleicher Höhe emporsteigen wie Amerika und würde mit letzterem zu annähernd gleichen Bedingungen in fremden Ländern wetteifern.“414
Als den erfolgversprechendsten Weg zur Sicherung des europäischen Friedens sowie zur Beschleunigung der Prosperität der europäischen Staaten und demzufolge des Wohlstands der Bevölkerung hat auch der Friedenspublizist Alfred Fried die politische Einigung des Kontinents betrachtet.415 Die Etablierung einer Union europäischer Staaten sollte einen Abbau des Rüstungswettlaufes bewirken, so der Autor, und dadurch eine Verminderung staatlicher Verschuldung. Der französische Anthropologe Georges Vacher de Lapouge sah mit einer Einigung Europas auch noch eine andere Gelegenheit gegeben, nämlich „échapper […] à la russification de l‟Europe entière“416. Betont wurde im Rahmen der Einigungsdebatte auch die Bedeutung einer europäischen Union als Garant nationaler Unabhängigkeit für alle europäischen Staaten, darunter besonders für die „christlichen Kleinstaaten“, die aus dem Zerfall des türkischen Reiches hervorgingen.417 Auch die „elsässische Frage“ und das Streben der Polen nach Wiedererlangung ihrer nationalen Unabhängigkeit hätten durch die Gründung eines europäischen Staatenbundes eine dauerhafte Lösung finden können.418 Von einer Einigung erhoffte man sich zudem einen Abbau der sozialen Unterschiede, eine Angleichung des Lebensstandards in den europäischen Ländern und eine Hebung der allgemeinen Moral
412 Ebenda.
413 Ebenda, S. 55.
414 Waechter, Der Europäische Bund, S. 203. Unter „Umsturzideen“ verstand Waechter den Sozialismus und den Internationalismus.
415 Fried, Handbuch der Friedensbewegung, S. 90.
416 La question d‟Alsace-Lorraine: un article de M. Robert Stein, S. 6.
417 Leroy-Beaulieu, Les Etats-Unis d‟Europe, S. 13.
418 Ebenda, S. 7; L‟avenir de la Pologne, in: La science sociale, Jg. 15, Bd. XXIX, S. 193. Zur Auswirkung der elsässisch-lothringischen Debatte auf den europäischen Einigungsgedanken siehe Kapitel 4.8 dieser Arbeit.