3. Das europäische Bedrohungsbewusstsein von 1890 bis 1914
3.4 Das Bewusstwerden eines drohenden Krieges in Europa am Beispiel der
3.4.2 Die französische Öffentlichkeit und die revanchistische Idee
Die elsässisch-lothringische Frage hat schon in der Zeit unmittelbar nach der Unterzeichnung des Frankfurter Friedens für Spannungen gesorgt. Besonderes Interesse erweckte sie abermals in der zweiten Hälfte der 1880er-Jahre. Von entscheidender Bedeutung hierfür war die revanchistische Boulongismus-Bewegung358 in Frankreich sowie die Einführung einer Neuregelung der Einreisebestimmungen für Elsass-Lothringen und die Aufenthalte von Franzosen auf dem Gebiet der Reichslande.359 Der revanchistische Gedanke war insbesondere in den führenden politischen Kreisen der französischen Republik vorherrschend. Andererseits wurde in der öffentlichen Debatte, diachron betrachtet, der Gedanke einer gewaltsamen Lösung der elsässischen-lothringischen Streitfrage zunehmend durch Vorschläge für eine pazifistische Lösung ersetzt. Es ist dabei notwendig zu betonen, dass diese Projekte keinesfalls mit einem Verzicht der Franzosen auf den Rückgewinn Lothringens und des Elsass gleichzusetzen wären. Trotz des sinkenden Interesses in der öffentlichen Meinung Frankreichs an einer gewaltsamen Lösung der elsässisch-lothringischen Frage wurde der Rückgewinn des Elsass und Lothringens weiterhin als eine wichtige nationale Angelegenheit betrachtet. Als stellvertretend für die Befürworter einer Lösung der elsässisch-lothringischen Frage auf dem Friedensweg kann die Haltung des Generalsekretärs der ständigen Delegation der französischen Friedensgesellschaften, Edouard Spalikowsky, gelten:
358 Der Begriff „Boulongismus-Bewegung“ wurde von dem Namen ihres Wortführers, George Boulonger, abgeleitet. Der General bekleidete in Frankreich in den Jahren 1886–1887 das Amt des Kriegsministers.
Boulonger war ein Anhänger des republikanischen Nationalismus und Anhänger des Revanchismus.
359 Die Einführung der Reisepässe hatte in ganz Europa eine Protestwelle zur Folge. Hiervon zeugen die Wortmeldungen in Spanien (Emilio Castelar), Großbritannien (Stanhope, Morton, Pilke) und Italien (Cavallotti, Imbriani, Bovio, Canzio, Barzilai, Pantano, Terrari). Hierzu siehe Jean Heimweh, Le régime des passeports en Alsace-Lorraine, Paris 1890, S. 3 ff.
„Es wäre mir sicherlich nichts lieber, als dass Elsass-Lothringen französisch werde, aber ich wünsche mir nur, dass es ohne Hervorrufung neuer Kriege, sogar ohne die Anschauungen und Freiheiten seiner Bewohner zu verletzten, in den Kreis unserer Grenzen eintrete.“360
Die Notwendigkeit einer friedlichen Lösung der deutsch-französischen Streitfrage um die Gebiete des Elsass und Lothringens hat neben Spalikowsky auch Maurice Charnay hervorgehoben: „Reconnaître ce qui est et préparer par les voies pacifiques le retour de l‟Alsace-Lorraine à la France“361, so Charnay etwa zwanzig Jahre nach der Unterzeichnung des Frankfurter Friedens. Auf das zunehmende Interesse der Franzosen an einer gewaltfreien Lösung der elsässisch-lothringischen Frage wurde von europäischen Autoren insbesondere seit den 1890er-Jahren hingewiesen. 1892 beispielsweise konstatierte ein anonymer Autor, der in der „La France veut-elle la guerre?“ betitelten Studie die Bereitschaft der französischen Bürger für einen Krieg mit Deutschland untersuchte: „manifestations chauvines semblent s‟apaiser“362. Das verstärkte Interesse in der französischen Öffentlichkeit an einer friedlichen Regelung der deutsch-französischen Beziehungen hat wenige Jahre später der elsässische Autor Jean Heimweh unterstrichen: „Schließlich ist man also heute viel mehr zum Frieden geneigt.“363 In einem ähnlichen Grundton wie der Elsässer äußerten sich auch zahlreiche Kommentatoren aus anderen europäischen Staaten. Aufschlussreich hierfür ist eine Äußerung des schwedischen Autors Anton Nyström aus dem Jahre 1904: „Jedenfalls ist es indessen ganz sicher, dass die öffentliche Meinung in Frankreich seit langem geneigt ist, Frieden mit Deutschland zu halten und sich jedem Revanchekrieg, um Elsass-Lothringen zurück zu erobern, widersetzt.“364
Auf das intensivierte Interesse der französischen Öffentlichkeit an einer pazifistischen Lösung der elsässisch-lothringischen Frage lassen auf besondere Art die Ergebnisse von drei Umfragen zu den deutsch-französischen Angelegenheiten schließen, die in den Jahren 1895, 1897 und 1904 von der Zeitschrift „Mercure de France“ durchgeführt worden waren. Von maßgebender Bedeutung für die Untersuchung der Stimmung der deutschen und französischen Zeitgenossen im Hinblick auf die elsässisch-lothringische Frage ist insbesondere die 1897 veröffentlichte Befragung über „L‟Alsace-Lorraine et l‟etat actuel des esprits“. Als ein wichtiges Ergebnis dieser Umfrage kann die Auswirkung des Generationswechsels auf die französische Haltung gegenüber der Annexion des elsässischen
360 Edouard Spalikowsky, Ein Franzose über die elsass-lothringische Frage, in: Die Friedens-Warte, August 1905, H.
8, S. 150.
361 Maurice Charnay, L‟Alsace-Lorraine vingt ans après, Paris 1892, S. 54.
362 La France veut-elle la guerre?, Paris 1892, S. 26. Die Studie erschien anonym.
363 Heimweh, Lösung der Elsässisch-Lothringischen Frage, S. VII.
364 Nyström, Elsass-Lothringen, S. 17.
und lothringischen Gebiets gelten. Als weitere Schlussfolgerung dieser Befragung ergibt sich, dass sich vor allem junge Literaten für eine friedliche Lösung der elsässisch-lothringischen Frage ausgesprochen haben. Auf den letztgenannten Aspekt wurde schon in der Dezember-Ausgabe der „Revue des Revues“ aus dem Jahre 1897 hingewiesen, in der die Ergebnisse dieser Umfrage nachgedruckt wurden: „Les hommes de lettres de la jeune génération sont presque tous enclins à considérer la guerre de 1870 comme un évènement purement historique.“365 Das sinkende Interesse der französischen Öffentlichkeit an einem Revanchekrieg mit Deutschland lässt sich mit mehreren Beispielen dieser Befragung belegen.
G. Montorgueil betonte etwa: „La guerre pour la reprise de l‟Alsace et de la Lorraine, quelques fous peuvent la souhaiter, de plus nombreux hypocrites la demander: le peuple n‟en veut pas.“366 Einige Teilnehmer an der Befragung haben die besondere Rolle der französischen Presse bei der Förderung des revanchistischen Gedankens hervorgehoben.367
Die verstärkt wahrnehmbare Abwendung von einer revanchistischen Lösung der elsässisch-lothringischen Frage in der französischen Öffentlichkeit ist vornehmlich als Folge zweier Faktoren anzusehen: Zum einen hat sich der bereits erwähnte Zeitfaktor zugunsten der Deutschen ausgewirkt. Im Verlauf der Zeit wurde die elsässisch-lothringische Frage, insbesondere von jungen französischen Bürgern, als eine historische Angelegenheit betrachtet. Zum anderen ist dieses Faktum als Folge der Rezeption des verstärkten deutschen Einflusses in den annektierten Gebieten zu verstehen. Der letztgenannte Aspekt lässt sich exemplarisch durch den Beitrag des französischen Rassetheoretikers Georges Vacher de Lapouge zur Elsass-Debatte nachweisen: „Il y a beaucoup trop d‟immigrants et d‟intérêts allemands en Alsace-Lorraine et même à Metz pour que l‟on puisse maintenant songer à rattacher à la France une partie des territoires annexés.“368 Auch das Interesse der elsässischen und lothringischen Bevölkerung an einer Rückgabe des Reichslands an Frankreich, diachron betrachtet, verminderte sich ständig. Der elsässische Dichter Otto Flake schilderte diesen Prozess wie folgt:
„Das Jahrzehnt von 1890 und 1900 brachte eine verhältnismäßige Ruhe. Die Macht der Zeit und der Verhältnisse begann zu wirken. Die Generation, die selbst nicht mehr an den Schlachten teilgenommen hatte, wuchs heran, bereits in deutschen Schulen erzogen und im täglichen Leben mit deutschen Einrichtungen vertraut.“369
365 La France et l‟Alsace-Lorraine, in: Revue des Revues, 15. 12. 1897, Bd. XXIII, Jg. 8, S. 536–542.
366 Ebenda, S. 539. Gegen die Verbreitung des Revanchismus spricht auch die Stellungnahme des französischen Schriftstellers aus der jungen Generation, Françis Jammes: ebenda.
367 Hierzu siehe die Äusserungen von Françis Jammes und Rémy de Gourmont, in: ebenda, S. 540.
368 La question d‟Alsace-Lorraine: un article de M. Robert Stein, S. 6.
369 Otto Flake, Rund um die elsässische Frage, Karlsruhe/Leipzig 1911, S. 66.
Besonders zutreffend beschreibt der deutsche Botschafter in Paris, Wilhelm Eduard von Schoen, in seinem Brief an Bethmann Hollweg vom 5. Januar 1911 das sinkende Interesse in der französischen Öffentlichkeit an einer gewaltsamen Lösung der elsässisch-lothringischen Frage:
„Freilich, Elsaß-Lothringen spielt immer eine bedeutende Rolle im Gefühlsleben der Franzosen, die Wunde von 1870/71 ist nicht vernarbt, aber an Wiedergewinnung der provinces perdues mit Blut und Eisen denken nur noch wenige.“370