Das unterschiedliche Verhalten der Eltern beeinflusst die Entwicklung der individuellen Bindungssicherheit (Ainsworth et al., 1978, Grossmann et al., 1985) bzw. die Art der Regulati-on (Calkins, 1994, Grolnick & Ryan, 1989, Kuhl, 1994).
Das Verhalten der Bindungspersonen bleibt über die Zeit hinweg nicht gleich, sondern wandelt sich in Abhängigkeit von Umweltbedingungen und aktuellen Anforderungen (Sroufe, 1989). Dabei kann die Qualität des elterlichen Verhaltens erhalten bleiben, oder sich verändern.
So können Eltern bei bestimmten Anforderungen unterstützend sein, bei anderen aber selbst Schwierigkeiten haben. Die Qualität der elterlichen Unterstützung hat dabei sowohl Einfluss auf das aktuelle Verhalten der Kinder, als auch auf ihre weitere Entwicklung. Sroufe (1985) meint, dass die Qualität der Adaptation von Vorschulkindern an aktuelle Anforderungen genauso stark von der momentanen Unterstützung, die sie von ihren Eltern bei der Regulierung ihrer aggressi-ven Impulse und Gefühle erhalten, wie durch die Qualität ihrer frühen Unterstützung beeinflusst wird.
Dabei lässt sich die Unterstützung, die Kinder von ihren Eltern erfahren, anhand verschie-dener Dimensionen beurteilen. Der folgende Abschnitt befasst sich mit der Beurteilung der Qualität des Elternverhaltens. Darauf folgend wird die Beurteilung von unterschiedlichen In-haltsbereichen des elterlichen Verhaltens vorgestellt.
1.6.1. Qualität des Elternverhaltens
Bindungs- und Selbstbestimmungstheorie erforschen den Einfluss der Qualität des elterli-chen Verhaltens. Inhaltlich enthalten die beiden Ansätze im Grundsatz dasselbe. Die Elemente Aufmerksamkeit oder Involviertheit und Angemessenheit sind enthalten. Zunächst werden die beiden Ansätze und Methoden kurz dargestellt.
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Die Bindungstheorie bestimmt Unterschiede im Elternverhalten mit dem umfassenden Konzept der Feinfühligkeit (siehe Kapitel 1.2.3, Ainsworth et al., 1978; Grossmann, 1977).
Diese bezeic hnet „die Fähigkeit der Mutter, die Signale und Kommunikation, die im Verhalten ihres Kindes enthalten sind, richtig wahrzunehmen und zu interpretieren, und wenn dieses Ver-ständnis vorhanden ist, auf sie angemessen und prompt zu reagieren“ (Grossmann, 1977, S.98).
Nach der Selbstbestimmungstheorie sollte die personale und nicht personale Umwelt die Bedürfnisse nach Autonomie, Kompetenz und sozialer Eingebundenheit des Kindes unterstüt-zen (Ryan et al., 1995). Zur Beurteilung des elterlichen Verhaltens wurden danach die Konzepte Autonomieunterstützung, Involviertheit und Struktur (Grolnick & Ryan, 1989) entwickelt.
Dabei bedeutet Autonomieunterstützung das Ausmaß, in dem Eltern selbständiges Problemlö-sen, Wahlmöglichkeiten für das Kind und Teilnahme an Entscheidungen fördern, wertschätzen und ermöglichen. Im Gegensatz dazu steht kontrollierendes Verhalten. Autonomieunterstützen-de Eltern minimieren Kontrolle und Machtausübung. Unter Struktur wird eine Organisation Autonomieunterstützen-der Umwelt verstanden, die ein kohärentes Feld für Operationen schafft. Beschrieben wird hierbei das Ausmaß, in dem Eltern klare und konsistente Erwartungen und Regeln aufstellen, ohne Be-zug zu nehmen auf die Art und Weise, wie sie dies vermitteln. Involviertheit der Eltern bedeu-tet, aufmerksam sein auf das Kind und dem Kind eigene Ressourcen zur Verfügung zu stellen, während es Anforderungen meistert. Es beschreibt das Ausmaß, in dem ein Elternteil sich aktiv am Leben des Kindes beteiligt.
Sowohl bei der Beurteilung der Feinfühligkeit, als auch bei der Beurteilung im Hinblick auf Autonomieunterstützung, Struktur und Involviertheit wird das Verhalten eines Elternteils in Interaktion mit dem Kind beobachtet. Dabei wird beiderseits auf die Angemessenheit des zu beurteilenden Verhaltens Wert gelegt. Angemessen sind Verhaltensweisen dann, wenn sie we-der über die Bedürfnisse des Kindes hinausgehen noch diese nur teilweise erfüllen. Eltern, die sich angemessen verhalten, überfordern ihr Kind nicht und unterfordern es genauso wenig. Sie unterstützen die Autonomie ihres Kindes und reagieren in einer für das Kind voraussehbaren Art und Weise (Struktur). Eben diese Elemente enthält auch das Feinfühligkeitskonzept.
Auch die Methoden, d.h. die Beobachtung und Beurteilung entsprechender Verhaltens-weisen sind sehr ähnlich. Die Skalen werden Alter und Situation entsprechend angepasst und sind jeweils bipolar. Feinfühligkeit ist eine eindimensionale Skala, während Autonomie unter-stützung, Involviertheit und Struktur jeweils eigenständige Skalen sind. Die beiden Extreme von sehr hoher und niedriger Unterstützung, werden in Bindungstheorie und Selbstbestimmungsthe-orie gleich definiert. Die Abstufungen dazwischen unterscheiden sich.
Eine Aufsplittung in drei Dimensionen, wie dies in der Selbstbestimmungstheorie stattfin-det, bietet den Vorteil, dass man den Einfluss der drei Dimensionen unabhängig voneinander
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untersuchen und so feststellen kann, welche Muster und Konsequenzen auftreten (siehe Grol-nick & Ryan, 1989). Bei komplexen Fragestellungen und einer beschränkten Anzahl von Ver-suchspersonen kann diese Betrachtungsweise allerdings nicht immer berücksichtigt werden. Um den Einfluss von hoher, mittlerer oder niedriger Unterstützung zu untersuchen reicht ein eindi-mensionaler Ansatz, wie das Feinfühligkeitskonzept.
Auch die Hypothesen, die Kuhl (1994; Kuhl & Kraska, 1989) über die Entstehung von Unterschieden in der Regulation hat, sind ähnlich denen der Bindungstheorie und Selbstbe-stimmungstheorie. Kuhl zufolge sind Sozialisationsbedingungen wie das Fordern von Mehrleis-tung, ÜberbehüMehrleis-tung, chronische Frustration kindlicher Bedürfnisse und Vernachlässigung ver-antwortlich für Unterschiede in der Handlungskontrolle. Solches Elternverhalten ist auch wenig feinfühlig, bzw. nicht autonomieunterstützend, sondern kontrollierend oder wenig aufmerksam gegenüber den Bedürfnissen der Kinder.
Insgesamt lassen sich aus Bindungs- Handlungs- und Selbstbestimmungstheorie dieselben Schlüsse ziehen: Kinder, deren Eltern wenig feinfühlig sind (also kontrollierend, nicht struktu-rierend und nicht involviert) sollten weniger intrinsische Motivation und Internalisation zeigen, bzw. weniger effizientes und angemessenes Verhalten, als Kinder, die hohe Unterstützung er-fahren.
1.6.2. Emotionale und handlungsstrukturierende Unterstützung
Nach der Theorie Sroufes (1989) wird erwartet, dass Eltern ihren Kindern im Vorschula l-ter klare Rollen, Werte und flexible Selbstkontrolle vermitteln. Im Grundschulall-ter sollten sie den Aufbau kompetenten Verhaltens unterstützen, ihre Kinder anerkennen und ein angemesse-nes Rollenverständnis vermitteln.
Da sechsjährige Kinder sich im Übergang von der Vorschulzeit zum Grundschulalter be-finden, sollten sie Entwicklungsthemen des Vorschulalters weitgehend bewältigt haben; dage-gen stellen die Aufgaben des Grundschulalters nun eine Anforderung für sie dar.
In Problemlösesituationen stellen sich so zwei Anforderungen an die Eltern. Einmal ist das die Unterstützung im Hinblick auf emotionale, selbstregulative Fähigkeiten der Kinder, der Umgang mit Erfolg, Schwierigkeiten und Misserfolg. Zum anderen sollten sie ihre Kinder beim Aufbau kompetenten Verhaltens unterstützen, ihnen die Möglichkeit bieten, in kognitiver Hin-sicht dazu zu lernen.
Grossmann und Grossmann (1986, 2000) schlagen ab dem Kleinkindalter eine Differen-zierung in Bindungs- und Spielfeinfühligkeit vor. Für das Vorschulalter bietet sich eine Unter-teilung in emotionale und handlungsstrukturierende Unterstützung an. Für den Bereich der e mo-tionalen Unterstützung gelten die gleichen Prinzipien wie sie Ainsworth (1978) in ihrem
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fühligkeitskonzept formuliert hat. Die Angemessenheit des Verhaltens wird allerdings auf die aktuelle Situation und die Bedürfnisse des Vorschulkindes adaptie rt (Schildbach, Loher & Rie-dinger, 1999; Schildbach, 1992; RieRie-dinger, 1998). Dabei wird die Qualität der motivationalen Unterstützung als ein Teilbereich der emotionalen Unterstützung der Kinder betrachtet. Hier kann beobachtet werden, wie Eltern ihre Kinder bei der Anwendung volitionaler Kontrollstrate-gien, z.B. Aufmerksamkeitskontrolle und Motivationskontrolle (siehe Kapitel, 1.3.2.3, Kuhl, 1994), unterstützen. Die emotionale Unterstützung beeinflusste das Leistungsverhalten der Kin-der, unabhängig von der Intelligenz von Mutter und Kind (Loher, 1988; Schildbach 1992).
Für den Bereich der handlungsstrukturierenden Unterstützung sollten vergleichbare Qualitätskriterien gelten, mit dem Fokus auf kognitiven Lösungsstrategien. Die kognitive Un-terstützung ist entscheidend in Problemlösesituationen, in denen das Kind an die Grenze seiner Fähigkeiten stößt und Hilfe benötigt.
Auch in der Forschung und Theorienbildung zur kognitiven Entwicklung gibt es Vorste l-lungen, welches Unterstützungsverhalten am meisten zur Entwicklung beiträgt. Nach Vygotski (1978) lernt ein Kind am besten in der Zone proximaler Entwicklung. Diese ist abhängig vom momentanen Entwicklungsstand des Kindes und beschreibt die nächst höhere Entwicklungsstu-fe. Das heißt, optimale Unterstützung bietet dem Kind die Möglichkeit, sich in der Zone der proximalen Entwicklung selbständig zu entfalten. Dies kann sowohl durch eine angemessene Gestaltung der Situation geschehen, als auch durch Instruktionen und Hilfestellungen. Hierbei sind unspezifische Hilfestellungen (d.h. indirekte Hinweise, die dem Kind Lern- und Lösungs-möglichkeiten lassen) besser als spezifische, direkte Hilfe (Heckhausen & Oswald, 1969). Um die Qualität der kognitiven Unterstützung zu beurteilen, kann also ebenso die Aufmerksamkeit der Mutter in Bezug auf das Bedürfnis nach kognitiver Unterstützung des Kindes und die An-gemessenheit berücksichtigt werden. Für die AnAn-gemessenheit ist die Zone proximaler Entwic k-lung und die Unspezifität der Hinweise entscheidend. Dabei können Aspekte der Handk-lungsthe- Handlungsthe-orie von Kuhl (Kuhl & Kraska, 1989) aber auch Aspekte der Handlungsplanung (Volpert, 1983) einbezogen werden, um die einzelnen Schritte, die in einer Problemlösesituation zu einer Auf-gabenlösung führen, genauer zu spezifizieren. So kann beurteilt werden, inwiefern eine Mutter den Prozess der Problemlösung unterstützt.
In Studien, in denen eine Trennung von emotionaler und handlungsstrukturierender, bzw.
kognitiver (oder sachorientierter) Unterstützung (Riedinger, 1998; Stadler, 1989; Stephan, 1999) versucht wurde, findet sich meist ein sehr hoher Zusammenhang zwischen den Skalen.
Allerdings finden sich auch immer wieder einige Mütter, die in einem Bereich hoch unterstüt-zendes und in dem anderen wenig unterstütunterstüt-zendes Verhalten zeigen (Grossmann & Grossmann,
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2000; Riedinger, 1998; Stephan, 1999). Die beiden Bereiche spielen dabei Grossmann und Grossmann (2000) zufolge eine unterschiedliche Rolle für die Entwicklung.
1.6.3. Anwesenheit der Bindungsperson
Aus Bindungstheorie und Handlungstheorie geht hervor, dass sich Unterschiede im Ver-halten zwischen den Kindern vor allem in schwierigen Situationen zeigen sollten. Unklar bleibt aber, was sich jeweils am Verhalten der Kinder ändert, je nachdem ob ihre Bindungsperson anwesend ist oder nicht.
Cassidy (1994) geht davon aus, dass die beschriebenen Verhaltens- und Regulationsmus-ter die Funktion der Beziehungserhaltung zur Bindungsperson erfüllen. Dies geschieht durch die allgemeine Emotionsregulation als Reaktion auf das Verhalten mit der Fürsorgeperson. Gleic h-zeitig bestehen verschiedene „display rules“, also Regeln, welcher Emotionsausdruck in einer Situation gezeigt werden darf. Das Kind signalisiert dem Elternteil durch die Einhaltung dieser Regeln, dass es kooperiert, sein Verhalten gefährdet und verändert so auch das Innere Arbeitsmodell des Erwachsenen nicht.
In Interaktion mit anderen, bei denen die Bindungsperson nicht anwesend ist, muss diese Funktion der Beziehungserhaltung nicht erfüllt werden. Nach Calkins (1994) kommt der Inter-aktion mit Gleichaltrigen eine besondere Bedeutung zu, da die Kinder hier ihre Regulationsstile ausprobieren können und direktes Feedback erhalten. Die Kinder haben Gelegenheit, ihre Emo-tionsregulationsstrategie zu testen und andere Erfahrungen zu machen.
Da Kinder mit sechs Jahren eine innere Repräsentation ihrer Beziehung, ein Internal Wor-king Model (vgl. Kapitel 1.2.1, Bretherton & Munholland, 1999) entwickelt haben, das ihr Ver-halten steuert, sollte ihre emotionale Regulation im Wesentlichen gleich bleiben, egal ob sie mit ihrer Bindungsperson selbst, einem anderen Erwachsenen oder Gleichaltrigen interagieren. Da die Erfahrungen mit diesen Personen aber sehr unterschiedlich sind, könnte es trotzdem sein, dass sich Unterschiede im Verhalten der Kinder gegenüber diesen verschiedenen Personen zei-gen.