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Wie in Kapitel 1 angekündigt, soll vor der ausführlichen Darstellung der Analyseergebnisse – in diesem und den folgenden zwei Kapiteln 4 (Kaschnitz) und 5 (Sachs) – zunächst kurz auf poetologische Äußerungen des jeweiligen Autors zum Verhältnis von Lyrik und Emotionen und die untersuchten Gedichtbände eingegangen werden. Als Günter Eich 1948 mit Abgelegene Gehöfte seinen ersten Nachkriegsgedichtband publizierte, war er kein junger, unbekannter Autor mehr.

Seit den 1920er Jahren hatte er in Zeitschriften Gedichte veröffentlicht, ein eigener schmaler Band Gedichte erschien 1930. Über seine Lyrik und die Hörspielarbeiten vor und vor allem während der Herrschaft der Nationalsozialisten liegen bereits einige, auch kritische Forschungsarbeiten vor.418 Heutzutage ist Günter Eich jedoch in erster Linie für sein nach Kriegsende entstandenes Werk bekannt. Die vorliegende Studie konzentriert sich gemäß ihrer Anlage auf die Nachkriegsgedichte, ohne dabei die seit den 1930er Jahren festzustellenden Kontinuitäten ignorieren zu wollen.419

Susanne Müller-Hanpft, eine der Herausgeberinnen der ersten Auflage der Werkausgabe, meint in einer frühen Studie zwar, dass „Eich sich in das literarische Gespräch über den Nutzen von Lyrik […] nicht eingeschaltet hat; auch hat er nie den Versuch unternommen, die Frage nach der Möglichkeit von Lyrik in die Gedichte selbst thematisch aufzunehmen“.420 Dem ist, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, in dieser scheinbaren Eindeutigkeit jedoch nicht zuzustimmen. Nachvollziehbarer spricht Gerhard Hay von nur „zwei relevante[n] öffentliche[n]

418 Zu Eichs Publikationen während des Dritten Reichs vgl. zuerst Glenn R. Cuomo: Career at the Cost of Compromise:

Günter Eich’s Life and Work in the years 1933–1945. Amsterdam, Atlanta 1989 und zusammenfassend noch einmal Glenn R. Cuomo: „Opposition or Opportunism? Günter Eich’s Status as Inner Emigrant“. In: Neil H. Donahue und Doris Kirchner (Hrsg.): Flight of Fantasy. New Perspectives on Inner Emigration in German Literature 1933–1945. New York 2003, S. 176-187. Zur Debatte um Eichs Rolle im Dritten Reich vgl. außerdem Axel Vieregg (Hrsg.): „Unsere Sünden sind Maulwürfe“. Die Günter-Eich-Debatte. Amsterdam, Atlanta 1996; Jürgen Joachimsthaler: „Die Pest der Bezeichnung. Günter Eichs Poetik der Verstrickung und der Austauschbarkeit“. In: Carsten Dutt und Dirk von Petersdorff (Hrsg.): Günter Eichs Metamorphosen. Marbacher Symposium aus Anlass des 100. Geburtstags am 1. Februar 2007.

Heidelberg 2009, S. 87-119; hier S. 87-90 sowie Matthew Philpotts: The Margins of Dictatorship. Assent and Dissent in the Work of Günter Eich and Bertolt Brecht. Bern u. a. 2003, S. 169-259 und das Kapitel zu Günter Eich in Parker, Davies und Philpotts: Modern Restoration, insbesondere S. 317-320. Allgemeiner zu Eichs Lyrik vgl. schon sehr früh Egbert Krispyn: „Günter Eichs Lyrik bis 1964“. In: The German Quarterly 40.3 (1967), S. 320-338. Zum „Weltschmerz“ im Band Gedichte vgl. Foot: Phenomenon of Speechlessness, S. 81f. und zu den frühen Naturgedichten Richardson: Committed Aestheticism, S. 34-44; Müller-Hanpft: Lyrik und Rezeption, S. 23-31 sowie wiederum Parker, Davies und Philpotts:

Modern Restoration, S. 321.

419 Exemplarisch untersuchen z. B. Carsten Dutt und Dirk von Petersdorff Kontinuitäten und Brüche zwischen Früh- und Spätwerk: Carsten Dutt und Dirk von Petersdorff: „Der frühe und der späte Eich. Kontinuitäten in der Werkgeschichte?“. In: Dies. (Hrsg.): Günter Eichs Metamorphosen. Marbacher Symposium aus Anlass des 100. Geburtstags am 1. Februar 2007. Heidelberg 2009, S. 9-23. Auch Parker, Davies und Philpotts weisen in ihrer dem „re-appraisal of these mid-decades of the twentieth century“ (S. 2) gewidmeten Untersuchung deutliche Kontinuitäten hinsichtlich Eichs poetologischer Äußerungen und seiner dichterischen Praxis zwischen 1930 und 1960 nach. Vgl. Parker, Davies und Philpotts: Modern Restoration, S. 297-334.

420 Müller-Hanpft: „Vorbemerkung“, S. 13. Müller-Hanpfts Darstellung ist in dieser Hinsicht selbst nicht konsistent.

So geht sie zum Beispiel zwei Seiten weiter darauf ein, dass Eich in der Büchner-Preis-Rede, die sie aus meiner Sicht verkürzend als „politische Rede“ bezeichnet, „für den kritischen Dichter“ plädiere (ebd., S. 14f.).

Selbstaussagen Günter Eichs über seine Arbeit“.421 Gemeint sind damit die „Rede vor den Kriegsblinden“ aus dem Jahr 1953 und die „Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises“

von 1959. Darüber hinaus liegen in der Werkausgabe weitere verstreute Gespräche, Essays und Artikel vor, in welchen sich Eich zu seiner eigenen Lyrik und der Rolle des Dichters im Allgemeinen geäußert hat.422 Aus diesen Äußerungen lassen sich Entwicklungen in seinem Verständnis von Lyrik und seinem Selbstverständnis als Lyriker ableiten, die sich auch im Werk widerspiegeln. Daraus werden im Folgenden die für das Verhältnis von Emotionen und Lyrik relevanten Tendenzen rekonstruiert, wobei der Fokus parallel zu den in dieser Untersuchung berücksichtigten und im Anschluss kurz vorgestellten Gedichtbänden auf den Äußerungen bis zum Ende der 1950er Jahre liegt.

1930 charakterisiert Günter Eich sich und seine Arbeit noch folgendermaßen: „Ich bin zunächst Lyriker und alles, was ich schreibe, sind mehr oder minder ‚innere Dialoge‘.“423 Die Rede von „innere[n] Dialogen“ legt ein Lyrikverständnis nahe, das Emotionen und Stimmungen als Gegenstand von Lyrik nicht nur akzeptiert, sondern wohl sogar favorisiert.424 Eich spricht in dieser Zeit auch vom „psychologische[n] Ursprung des Gedichtes“ und vom „vereinzelte[n] Ich“

als dessen Hauptinteresse.425 In seiner Anfangszeit als Dichter in den 1930er Jahren ist Lyrik für ihn also Ausdruck subjektiver Erfahrungen und Empfindungen sowie der Isolation des Einzelnen. „Und Verantwortung vor der Zeit? Nicht im geringsten. Nur vor mir selber“, behauptet Eich 1930.426 Die naturmagische Schule nach dem Vorbild Wilhelm Lehmanns und Oskar Loerkes ist für dieses Lyrikverständnis prägend.427

421 Vgl. Gerhard Hay: „Günter Eichs ‚Träume‘ als Einmischung in die Realität“. In: Adrian Hummel und Sigrid Nieberle (Hrsg.): weiter schreiben – wieder schreiben. Deutschsprachige Literatur der fünfziger Jahre. München 2004, S. 321-331;

hier S. 327. Weitere Forschungsarbeiten, in denen poetologische Überlegungen Eichs im Fokus stehen, liegen bereits seit Mitte der 1970er Jahre vor. Vgl. exemplarisch: Livia Z. Wittmann: „Ein Überblick über Eichs literatur- und sprachtheoretische Äußerungen 1930–1971“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 48 (1974), S. 567-578; Oelmann: Deutsche poetologische Lyrik; Richardson: Committed Aestheticism und – wenig erhellend – Klaus Inderthal: „Das Gedicht als Erkenntnis. Zu Günter Eichs Poetik des Gedichts“. In: Joanna Jablowska und Erwin Leibfried (Hrsg.): Fremde und Fremdes in der Literatur. Frankfurt a. M. 1996, S. 202-212.

422 Zudem gibt es auch Gedichte, die zumindest in Teilen als poetologisch bezeichnet werden können, beispielsweise

„Fragment“ oder auch „Gespräche mit Clemens“, wie Sandie Attia anhand der Vorfassungen des Gedichts aufzeigt:

Sandie Attia: „Günter Eichs Gedicht Gespräche mit Clemens und seine Vorfassungen. ‚Versuche in Wasserfarben‘ und poetologische Verschlüsselung“. In: Carsten Dutt und Dirk von Petersdorff (Hrsg.): Günter Eichs Metamorphosen.

Marbacher Symposium aus Anlass des 100. Geburtstags am 1. Februar 2007. Heidelberg 2009, S. 33-46; hier S. 40-46.

Gerhard Kaiser führt einige nachvollziehbare Gründe dafür an, auch „Inventur“ als poetologisches Gedicht zu lesen.

Vgl. Kaiser: „Günter Eich: Inventur“, z. B. S. 276.

423 Günter Eich: „Innere Dialoge“ (1930) (EW IV, 457). Vgl. dazu und zu weiteren poetologischen Äußerungen Eichs aus den 1930er Jahren Richardson: Committed Aestheticism, S. 19-33.

424 Lampart geht auf diese „hochgradig subjektivistische Position“ in Eichs Vorkriegspoetik etwas ausführlicher ein und weist darüber hinaus auf Kontinuitäten zur Nachkriegspoetik hin. Vgl. Lampart: Nachkriegsmoderne, S. 136-138 und zu Eichs Programm einer „moderate[n] Assimilation der Moderne“ ebd., S. 141-143.

425 Günter Eich: „Bemerkungen über Lyrik. Eine Antwort an Bernhard Diebold“ (1932) (EW IV, 458-461; hier 458 und 459).

426 Eich: „Innere Dialoge“ (EW IV, 457).

427 Vgl. hierzu auch Lamping: Das lyrische Gedicht, S. 237.

Eichs Verständnis der Gattung ändert sich jedoch nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges. Nach 1945, als die Gedichtbände erscheinen, die ihn berühmt machen sollen, verurteilt er eine nach Innen gerichtete Lyrik als Idylle, die die eigene Zeit ignoriere.428 In der Abkehr von der Wirklichkeit drücke sich eine mangelnde Empfindsamkeit („herzlose[] Idylliker“) für die „Nöte[] der Zeit“ aus:

Man kann sich nicht vorstellen, daß ihr [Eich bezieht sich hier auf das Gedicht „Abendgang im Schnee“ von Emil Alfred Herrmann, A. F.] Verfasser in einer Welt lebt, die von Kriegen, Hunger, Verwüstung und Unsicherheit gepeinigt ist, in einer Welt tiefster sozialer, wirtschaftlicher und politischer Umschichtungen, in der Welt der Maschine, des Flugzeugs und der Atombombe. Diese herzlosen Idylliker, die aus den Nöten der Zeit in die Behaglichkeit ihrer Gefühle flüchten, haben in der Tat nicht die Legitimation, ihre Stimme zu erheben und die Gegenwart zu repräsentieren.429 Eine von der zeitgenössischen Realität isolierte und sich in einer Flucht in die Idylle isolierende Lyrik ist für Eich nicht mehr möglich. Seine Aufgabe bestehe nun vielmehr darin, dem Rezipienten die Gegenwart zu zeigen, ihn gar aus seiner Ruhe ‚aufzustören‘.430 In dem unveröffentlichten Aufsatz „Der Schriftsteller 1947“ formuliert Eich die Aufgabe des Lyrikers in seiner Zeit noch konkreter:

[Er] soll nicht unbedingt die Kollektivschuld in Sonettform abwandeln oder die deutsche Romantik zugunsten des amerikanischen Romans in Fetzen reißen, er muß auch nicht vom Dichter zum Journalisten werden, aber alles, was er schreibt, sollte fern sein jeder unverbindlichen Dekoration, fern aller Verschönerung des Daseins. Im Sonnenuntergang, den […] [er] besingt, geht nicht ein Tag der Gefühle zu Ende, sondern vorerst einmal eine genau meßbare Anzahl von Stunden, in denen Fabriksirenen ertönen, Straßenbahnen kreischen und ein Bagger den Häuserschutt von den Straßen räumt. […] [S]o trockene Dinge können bedeutender sein als die subtilen Gefühle, die der Spaziergänger beim Einatmen des Tannenduftes hat. Ich will nicht sagen, daß es keine Schönheit gibt, aber sie setzt Wahrheit voraus.431

Mit dem Begriff der Wahrheit ist hier wohl ‚Authentizität‘, aber auch ‚Realismus‘ gemeint, denn Dichtung muss sich für Eich nach 1945 an der Realität messen lassen.432 Alles, was dazu dient, die Gegenwart zu verhüllen oder zu ignorieren, seien es Dekorationen oder „die Behaglichkeit [der] Gefühle“, verurteilt er und verpflichtet sich damit nicht zuletzt einer realistischen, sachlichen Ausdrucksweise.

428 Vgl. hierzu auch Parker, Davies und Philpotts: Modern Restoration, S. 299f. und 307-309. Ebenso weisen die Autoren jedoch auch Kontinuitäten in Eichs poetologischen Äußerungen zwischen den 1930er und den späten 1940er Jahren nach. Vgl. ebd., S. 310f.

429 Günter Eich: „Die heutige Situation der Lyrik (I)“ (1947) (EW IV, 471-475; hier 472). Die Verse, auf die er sich hier bezieht, lauten: „Stiller Gang durch weite weiße Ruh./ Windverweht ein Klang – wie ferner Glocken./ Dicht und dichter fallen die milden Flocken,/ decken decken alles leise zu.// Alles: Haus und Hügel, Feld und Bäume,/

alles, auch dein Herz und seine Blütenträume,/ decken alles leise, leise zu./ Stillster Gang – und weite weiße Ruh.“

Emil Alfred Herrmann: Wanderer unter der Wolke. Gesammelte Gedichte. Heidelberg 1946, S. 34. Eich sieht dieses Gedicht aber dezidiert als stellvertretend für viele andere Verse seiner Zeit an. Vgl. EW IV, 472.

430 Vgl. Eich: „Die heutige Situation der Lyrik (I)“ (EW IV, 473).

431 Günter Eich: „Der Schriftsteller 1947“ (1947) (EW IV, 468-470; hier 469f.). Vgl. zu diesem Aufsatz auch Richardson: Committed Aestheticism, S. 53-59 und 90f. sowie Lampart: Nachkriegsmoderne, S. 138-140.

432 Vgl. auch Eich: „Der Schriftsteller 1947“ (EW IV, 470): „Der Zwang zur Wahrheit, das ist die Situation des Schriftstellers.“ Auch Lampart versteht ‚Wahrheit‘ hier als „authentische Reaktion auf die Probleme der eigenen Zeit“. Lampart: Nachkriegsmoderne, S. 140.

Diese Überlegungen sollten jedoch nicht als völlige Abkehr von der Gestaltung von Emotionen verstanden werden, wie auch die Rede von den „herzlosen Idylliker[n]“ in „Die heutige Situation der Lyrik (I)“ nahelegt. Subjektivistische, in den 1930er Jahren – wie eingangs aufgezeigt – auch noch von ihm selbst vertretene, Lyrikkonzeptionen lehnt Eich in diesem Artikel explizit ab.433 Dennoch betont er insgesamt die Vielfalt der lyrischen Gegenstände und Themen: „Jedenfalls ist die Möglichkeit erwiesen, alles, aber auch in der Tat alles, was das menschliche Herz bewegt, ohne Umschreibung lyrisch auszusagen.“434 Es geht also nicht darum, Gefühle als Gegenstand und Darstellungsmittel von Lyrik generell zu verurteilen. Entscheidend ist vielmehr, wie die Wirklichkeit im Gedicht dargestellt wird („ohne Umschreibung“) und welche Gegenstände und Situationen es sind, die „das menschliche Herz [im Gedicht] beweg[en]“. Das können nach 1945 nicht mehr nur idyllische Landschaften oder „vage Trauer“ und „nebelhafte Wehleidigkeit“ sein.435 Doch wird in der Auswahl der im Folgenden alternativ genannten Themen und Gegenstände deutlich, dass emotionalem Erleben, das sich an der Wirklichkeit messen lässt, durchaus Raum zugestanden wird:

Aber der Dichter bittet, ihm zu verzeihen, daß er nicht nur von schönen Landschaften oder vom Zauber des Mondlichts bewegt wird, sondern daß auch der Anblick einer Bahnhofshalle voll verlorener, geschundener, bösartiger, verzweifelter Menschen seine Seele berührt; er bittet zu verzeihen, daß ihm Erschütterung nicht nur im Liede der Nachtigall begegnet, sondern auch vor den Trümmern unserer Städte.436

Interessant an diesem Zitat ist vor allem, dass der emotionalen Berührung des Dichters weiterhin eine große Bedeutung zugemessen wird. Hieran wird deutlich, dass Eich sich trotz aller in „Die heutige Situation der Lyrik (I)“ vorgetragenen Ablehnung nicht vollständig von seinem in den 1930er Jahren vertretenen Lyrikverständnis entfernt hat.437

433 Die dortige Argumentation bezüglich traditioneller Lyrikkonzeptionen rekonstruiert in Teilen Lampart:

Nachkriegsmoderne, S. 140f. In einem Brief an Oda Schaefer schreibt Eich im Oktober 1949: „Gefühl allein scheint mir überhaupt der Verderb des Gedichts zu sein. In deinen neuen Versen sind Auge, Kopf und Herz eins“. Zitiert nach:

Antje Liebau, Christina Manukowa und Nadin Seltsam: „Aus den Briefen von Günter Eich an Oda Schaefer und Horst Lange (1945 bis 1960)“. In: Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens 7 (2005), S. 103-116; hier S. 108.

Entscheidend ist hierbei, dass das Wort ‚allein‘ im Original unterstrichen ist. Eich scheint also auch hier besonderen Wert darauf zu legen, dass Gefühle, sofern sie mit Verstand und (genauer) Wahrnehmung verbunden sind, nicht gänzlich aus der Lyrik verschwinden müssen.

434 Eich: „Die heutige Situation der Lyrik (I)“ (EW IV, 474). Vgl. hierzu auch Thomas Betz: „‚mit fremden Zeichen‘

– Zur Poetologie im Werk Günter Eichs“. In: Gustav Frank, Rachel Palfreyman und Stefan Scherer (Hrsg.): Modern times? German Literature and Arts Beyond Political Chronologies/ Kontinuitäten der Kultur: 1925–1955. Bielefeld 2005, S. 93-114; hier S. 110.

435 Vgl. Günter Eich: „Neue Versbücher (III)“ (1949) (EW IV, 590f.; hier 590).

436 Günter Eich: „Die heutige Situation der Lyrik (II)“ (1947) (EW IV, 476f.; hier 477). Lampart zeigt auf, dass Eich die modernere naturmagische Ausprägung der Naturlyrik – namentlich Oskar Loerke und Wilhelm Lehmann – aus seiner Verurteilung eines konventionellen, als überholt wahrgenommenen Lyrikverständnisses ausspart, was sich nicht zuletzt durch seine eigene dichterische Sozialisierung begründen lässt. Vgl. Lampart: Nachkriegsmoderne, S. 142f.

Den Einfluss von Loerke und Lehmann auf Eichs Poetologie untersucht eingehender Kohlroß: Theorie des modernen Naturgedichts, S. 148f., 159f., 175f. u. a. m. Vgl. außerdem Parker, Davies und Philpotts: Modern Restoration, S. 313.

Eichs Nachkriegslyrik traf bei Wilhelm Lehmann umgekehrt jedoch keineswegs auf Zustimmung, wie Sandie Attia anhand von Archivmaterialien detailreich nachzeichnet: Sandie Attia: „Günter Eich/Wilhelm Lehmann: malentendu, désaveu ambivalent et innovation poétique“. In: Sidonie Kellerer u. a. (Hrsg.): Missverständnis. Malentendu. Kultur zwischen Kommunikation und Störung. Würzburg 2008, S. 209-224.

437 Zu diesem Ergebnis kommt auch Lampart: Nachkriegsmoderne, S. 141.

Am deutlichsten werden die Unterschiede zwischen den poetologischen Überlegungen der Vorkriegszeit und nach 1945 in den – zwar spätestens seit dem Expressionismus für die moderne Lyrik bereits etablierten, für die eigene Lyrik von Eich jedoch erst nach 1945 konsequent erschlossenen – Themen und Gegenständen, die seine Forderung nach dem Bezug der Lyrik zur Wirklichkeit erfüllen. Neben dem ‚Was‘ lyrischen Sprechens wird ebenso reflektiert, ‚wie‘ noch gesprochen werden konnte. Auch die gewählte Sprache musste der Realität Rechnung tragen.

Das bedeutet für Eich, wie in „Der Schriftsteller 1947“ dargestellt, zunächst die Abkehr vom nur Schönen, Dekorativen und die Hinwendung zum Hässlichen, Zerstörten, Schmerzhaften, Technischen in der eigenen Zeit.438 Auch angesichts einiger lyrischer Neuerscheinungen betont Eich 1949 die Relevanz der gewählten dichterischen Sprache für die Qualität eines zeitgenössischen Gedichts, ohne damit eine Abkehr von der Darstellung von Gefühlen zu verbinden: „Gefühle, auch echt empfundene, machen noch kein gutes Gedicht. Daß der Vers erst seinen Rang durch die Sprache erhält, scheint weitgehend unbekannt zu sein.“439

In Eichs poetologischen Überlegungen der 1950er Jahre spielen Sprache und die Skepsis an den Möglichkeiten sprachlichen Ausdrucks schließlich die bestimmende Rolle. Zu einem Verstummen oder einer völligen Verweigerung der Kommunikation führt das jedoch nicht.440 Lampart beschreibt Eichs zunehmende Sprachskepsis wie folgt:

Worte und Begriffe werden in „Inventur“ noch eingesetzt, um die wenigen Objekte zu kennzeichnen, die in der apokalyptischen Gefangenenwirklichkeit im Besitz des Einzelnen verblieben sind. Wenige Jahre später thematisiert Eich das Versagen der Sprache als Medium der Annäherung an die Wirklichkeit. Auf dieser Ebene sprachskeptischer Reflexion über die Möglichkeiten literarischer, vor allem aber lyrischer Texte, spielt sich Eichs Anverwandlung der Moderne ab.441

Dichtung ist für Eich in den 1950er Jahren der Versuch, die Wirklichkeit auf der Suche nach einer Ursprache, in der Bezeichnendes und Bezeichnetes eins sind, zu erfassen. In seiner 1956 gehaltenen Rede „Der Schriftsteller vor der Realität“ weitet er seine Skepsis gegenüber der Sprache auf die Wirklichkeit aus.442 Es gibt für ihn nun keine Wirklichkeit mehr, die erfasst werden kann, sondern diese wird gerade erst durch Sprache geschaffen. Gleichzeitig kann aber auch dichterische Sprache immer nur Annäherung sein – beziehungsweise „Übersetzung“ wie er

438 Diese Äußerungen machen auch unabhängig von Gedichten wie „Inventur“ und „Latrine“ deutlich, warum Eich in den unmittelbaren Nachkriegsjahren der Kahlschlaglyrik zugerechnet werden kann.

439 Eich: „Neue Versbücher III“ (EW IV, 590).

440 Foot zufolge komme Eich dem Verstummen in den 1960er Jahren jedoch sehr nahe. Vgl. Foot: Phenomenon of Speechlessness, S. 127-131. Gegen eine solche Sicht auf die vor allem in Eichs Spätwerk Niederschlag findende Sprachskepsis wenden sich in jüngerer Zeit beispielsweise Buchheit und Heydenreich. Vgl. Buchheit: Formen und Funktionen, S. 14-16 und 67-78 und Aura Maria Heydenreich: Wachstafel und Weltformel. Erinnerungspoetik und Wissenschaftskritik in Günter Eichs „Maulwürfen“. Göttingen 2007, S. 34, 326 und 380f.

441 Lampart: Nachkriegsmoderne, S. 135.

442 Vgl. Günter Eich: „Der Schriftsteller vor der Realität“ (1956) (EW IV, 613f.). Siehe hierzu auch Lampart:

„Aktuelle poetologische Diskussionen“, S. 15. Für Korte steht „Der Schriftsteller vor der Realität“ „im Zeichen eines kritischen Verständnisses von Wirklichkeit“. Korte: Deutschsprachige Lyrik, S. 66. Darüber hinaus meint Korte, Eichs „topographische Metapher [er spricht von Gedichten als ‚trigonometrischen Punkten‘, A. F.] bewahrt ein artistisches Element, indem sie Lyrik als einen auf Wirklichkeit gerichteten Konstruktionsversuch begreift“ (ebd., S. 67; Hervorh. getilgt).

es nennt.443 In diesen Überlegungen drückt sich eine tiefe Verunsicherung mehr noch angesichts der zeitgenössischen Realität als angesichts der Möglichkeiten sprachlichen Ausdrucks aus. Ende der 1940er Jahre wollte Eich die Wirklichkeit noch ‚wahrhaftig‘ im Gedicht darstellen. Dort war sie noch „Voraussetzung“ für das Schreiben. Inzwischen ist sie zum „Ziel“ des Schreibens geworden, das die Funktion übernommen hat, Orientierung in der Wirklichkeit zu bieten.444 Die zeitgenössische Realität und die Situation des Einzelnen in ihr bleiben in seiner Lyrik als Bezugspunkt fest verankert. Wie Richardson und Lampart feststellen, macht die skeptische Grundhaltung Eich jedoch noch nicht zum im engeren Sinne engagierten, auf gesellschaftliche Veränderung abzielenden Autor.445

In den 1960er Jahren führt seine Skepsis schließlich zu einer Verweigerungshaltung, die nicht zuletzt mit den Prosatexten der Maulwürfe auch bewusst die Grenzen der Kommunikation erreicht.446 1965 greift Eich auf die skizzierten in den 1950er Jahren geäußerten Überlegungen zurück, wenn er seinen Weg als Lyriker wie folgt beschreibt:

443 Sprache könne sich dem Konzept einer ‚Ursprache‘, „in der das Wort und das Ding zusammenfallen“ (EW IV, 613), immer nur nähern. Vgl. hierzu auch schon die „Rede vor den Kriegsblinden“ (1953) (EW IV, 609-612) und zu einem Brief, in dem Eich bereits einige Jahre vor der „Rede vor den Kriegsblinden“ ähnliche Überlegungen formuliert, Jörg Döring und David Oels: „Was Gedichte sind: ‚Der Versuch einer Übersetzung Gottes ins Neuhochdeutsche‘. Zum Briefwechsel von Günter Eich und Alfred Andersch 1948–1972 (Einleitung)“. In: Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens 7 (2005), S. 7-46; hier S. 8 und 30-37 sowie „Der Briefwechsel Alfred Andersch – Günter Eich 1948–1972“, hrsg. von Angela Abmeier u. a. In: Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens 7 (2005), S. 47-74; hier S. 54. Vgl. außerdem Foot: Phenomenon of Speechlessness, S. 79; Buchheit: Formen und Funktionen, S. 68-71; Peter Horst Neumann: „Übersetzer des Schweigens. Apropos Günter Eich“. In: Carsten Gansel und Paweł Zimniak (Hrsg.): Reden und Schweigen in der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Fallstudien. Wrocław, Dresden 2006, S. 355-361 und Lampart: Nachkriegsmoderne, S. 145-147 sowie zu beiden Reden ausführlicher Richardson: Committed Aestheticsm, S. 94-109. Zu Tendenzen der Eich-Rezeption, die Rede von der „Ursprache“

absolut zu setzen und darüber den für Eich zentralen Aspekt der Darstellung von Wirklichkeit zu ignorieren, vgl.

absolut zu setzen und darüber den für Eich zentralen Aspekt der Darstellung von Wirklichkeit zu ignorieren, vgl.