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Das übergeordnete Ziel der Raumplanung in Deutschland ist es, in allen Teil-räumen der Bundesrepublik, gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen (§ 1 Abs. 2 Satz 6 ROG). Der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur gilt als eines der wir-kungsvollsten Instrumente, um dieses Ziel zu erreichen. Die sog. "Verkehrspro-jekte Deutsche Einheit", die dazu dienen sollen, die wirtschaftlichen Disparitäten zwischen Ost- und Westdeutschland abzubauen, seien hier beispielhaft genannt (BUNDESAMT FÜR BAUWESEN UND RAUMORDNUNG 2000,S.235ff., im Weiteren mit BBRabgekürzt).

Mit dem Aufkommen der "New Economic Geography" sind Zweifel angebracht, ob es tatsächlich gelingt, die wirtschaftlichen Disparitäten mit Hilfe des Baus bzw. Betriebs neuer Verkehrswege abzubauen. Die "New Economic Geography"

(im Weiteren kurz mit NEG bezeichnet) ist eine Anfang der 1990er Jahre ent-standene Forschungsrichtung, die insbesondere bei den Ökonomen große Popula-rität genießt, was neben der kaum noch zu überblickenden Anzahl an Publikatio-nen, daran abzulesen ist, dass z.B. die Weltbank diesem Thema eine eigene Kon-ferenz gewidmet hat und die Europäische Union ein Forschungsnetzwerk hierzu finanziert (PLESKOVIC/STIGLITZ 1998, EUROPEAN COMMISSION 2000). Als Be-gründer und prominentester Vertreter der NEG gilt der US-Ökonom PAUL KRUGMAN.Das von ihm (KRUGMAN 1991a, b)entwickelte "Zentrum-Peripherie-Modell"wird als das wichtigste Modell dieser Forschungsrichtung angesehen. Es untersucht u.a. den Einfluss von Skalenerträgen und Transportkosten auf das Wirtschaftsgeschehen und kommt zu dem Schluss, dass es in Folge von Trans-portkostenabsenkungen zu einem Anstieg wirtschaftlicher Disparitäten kommen kann. Träfe diese Modellaussage zu, dann würde der Bau neuer Verkehrswege nicht nur seine Zielsetzung verfehlen, sondern sogar kontraproduktiv sein. Zwar ist dieses Modell mittlerweile vielfach abgewandelt und weiter entwickelt wor-den, an den Grundaussagen hat sich jedoch nichts verändert (z.B. FUJITA, KRUGMAN, VENABLES 1999 S. 34 ff., im Weiteren mit F/K/V abgekürzt). Die Brisanz die in dieser Modellaussage steckt, lässt sich unschwer erkennen, wenn man bedenkt, wie viel Geld der Staat für den Bau neuer Verkehrswege ausgibt.

So sind im aktuellen Bundesverkehrswegeplan allein für das Verkehrsprojekt, welches im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen wird, Investitionen des Bundes in

Höhe von 334,4 Mio. € veranschlagt (BUNDESMINISTERIUM FÜR VERKEHR BAU

UND WOHNUNGSWESEN 2003a,S.108,im Weiteren BMVBW). Schon allein aus diesem Grund erschien es lohnenswert, an einem Beispiel zu überprüfen, inwie-weit diese Aussagen des Modells in der Realität zutreffen. Hinzu kommt, dass es bislang an empirischen Arbeiten zu diesem Thema mangelt und die Vertreter der NEG selbst die Forderung nach derartigen Arbeiten erheben (OTTAVIANO/PUGA 1997,S.25;F/K/V1999,S.347).

Als Fallbeispiel wurde die geplante Fertigstellung des letzten Teilstückes der Au-tobahn 49 Kassel – Gießen, zwischen der Anschlussstelle Neuental-Bischhausen und der A 5 bei Gemünden (Felda) in Hessen ausgewählt. Diese Autobahn soll die Verbindung zwischen dem nordhessischen Wirtschaftsraum Kassel und den mittelhessischen Zentren Gießen und Marburg sowie der Rhein-Main-Region verbessern. Im Rahmen dieser Arbeit wird untersucht, welche Folgen diese Au-tobahn für den Einzelhandel in den Städten und Gemeinden der betroffenen Re-gion hat. Die Untersuchung des Einzelhandelssektors bietet sich aus folgenden Gründen an:

Da die Standortwahl des produzierenden Gewerbes von einer Vielzahl von Fak-toren abhängt, ist es nahezu unmöglich, die Auswirkungen eines Absinkens der Transportkosten auf die Standortentscheidungen, kurzfristig abschätzen zu kön-nen. Beim Einzelhandelssektor hingegen ist es im Wesentlichen die Lage und Erreichbarkeit des Betriebes, die über die Wahl des Standortes entscheidet. Der Einzelhandel auf der sog. "Grünen Wiese" macht dies besonders deutlich, weil dessen wirtschaftlicher Erfolg zu großen Teilen auf der guten (Pkw-) Erreichbar-keit basiert. Veränderungen der ErreichbarErreichbar-keit ziehen somit Standortveränderun-gen im Einzelhandelssektor nach sich. Ein Instrumentarium, um VeränderunStandortveränderun-gen der Standortwahl in Folge veränderter Erreichbarkeit abschätzen zu können, sind gravitationstheoretische Modelle, die seit langem in der Handelsforschung einge-setzt werden und deren Aussagekraft durch eine Vielzahl von Untersuchungen als gesichert angesehen werden kann. Hier wird ein von GÜßEFELDT (2002) wei-terentwickeltes Modell (Huff-Modell) benutzt, von dem erwartet wird, dass es weitaus bessere / realitätsnähere Ergebnisse liefert, als die bisherigen Varianten dieses Modells (KLEIN/LÖFFLER 1988,1989;KLEIN 1988,1992).

Dem möglichen Einwand, dass eine Konzentration auf den Einzelhandelssektor

nicht mit dem Zentrum-Peripherie-Modell übereinstimmt, weil dieses eine Wirt-schaft unterstellt, in der es nur einen "Industrie-" und einen "Agrarsektor" gibt, liegt ein falsches Begriffsverständnis zu Grunde, denn diese Begriffe sind ledig-lich als "Label" zu verstehen, die einen wirtschaftledig-lichen Leitsektor von einem wirtschaftlichen Residualsektor unterscheiden (F/K/V 1999, S. 45). Weil die NEG-Modelle zudem keine Begrenzung auf eine bestimmte Maßstabsebene vor-nehmen, schien das gewählte Fallbeispiel und die vorgesehene Methodik geeig-net, das "Zentrum-Peripherie-Modell" anwenden zu können. Dennoch muss gleich zu Beginn der Arbeit festgestellt werden, dass dieser Versuch gescheitert ist bzw. scheitern musste. Die Gründe hierfür sind zum einen ein fundamentales Missverständnis und zum anderen, damit in enger Verbindung stehend, die Schwierigkeit der Operationalisierung.

Das Missverständnis beruht auf dem anfänglichen Irrglauben, dass das Label

"New Economic Geography" das Resultat inhaltlicher Neuerungen sei. Dieses ist falsch, denn im Unterschied zur anfänglichen Einschätzung der NEG, geht es dieser nicht in erster Linie darum, bislang u.a. von Wirtschaftsgeographen ge-nutzte Theorien, inhaltlich zu erweitern oder gar zu erneuern. Die Neuerungen ergeben sich vielmehr für die Neoklassik, denn durch die NEG-Modelle ist es für sie möglich geworden, Themen zu bearbeiten, die bislang von der Neoklassik unbeachtet blieben, weil man nicht wusste, wie man sie formalisieren sollte und nicht etwa auf Grund eines generellen Desinteresses an wirtschaftsgeographi-schen Fragestellungen. Entscheidend ist dabei, dass es gelungen ist, u.a. steigen-de Skalenerträge und Transportkosten so zu formalisieren, dass sie in die mathe-matischen Modelle der Neoklassik integriert werden konnten (KRUGMAN 1991b, S.101 ff.; 1998 a, S. 9). Möglich machten dies das Modell von DIXIT-STIGLITZ

(1977)und die Eisberg-Transportkostenfunktion von SAMUELSON (1952),die fast allen Modellen der NEG zu Grunde liegen. Zugleich sind es diese beiden Model-le, die eine empirische Anwendung der NEG-Modelle so schwierig macht und bei dieser Arbeit zum Scheitern führten.

So musste nach alternativen, operationalisierbaren Erklärungsansätzen gesucht werden. Dadurch rücken die dynamischen Teile der Theorien von CHRISTALLER

(1933, S.86-133)und LÖSCH (1940,S. 90-142)in den Mittelpunkt der Betrach-tung, die interessanterweise bislang kaum für die Bearbeitung derartiger

For-schungsgegenstände genutzt wurden. Dies ist umso erstaunlicher, da beide Auto-ren diese Teile ihrer Arbeiten als die wirklichkeitsgetreueAuto-ren ansahen (LÖSCH 1940, S. 90). CHRISTALLER schreibt zur Dynamik: "Diese Vorgänge stehen der Wirklichkeit also näher als die rein statischen Beziehungen, sie machen den wirklicheren Teil der theoretischen Betrachtungen aus, er sei als dynamische Theorie zusammengefasst" (CHRISTALLER 1933, S.86). Es drängt sich an dieser Stelle die Frage auf, weshalb diese Teile der Theorien bislang kaum verwendet wurden und man bei der Lektüre der Sekundärliteratur den Eindruck gewinnt, diese seien gar nicht existent (GEBHARDT 1996, S. 6). Eine schlüssige Antwort hierauf wurde nicht gefunden und da hier nicht der Platz ist, Spekulationen über mögliche Gründe anzustellen, muss diese Frage an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. Vielleicht liefert diese Arbeit den Anstoß, sich mit den dynamischen Teilen, die bei LÖSCH im Übrigen mit "schwierigen Verhältnissen" (LÖSCH 1940, S.90ff.)überschrieben sind, zukünftig intensiver zu beschäftigen.

Vorangestellt wird die Theorie der monopolistischen Konkurrenz von C

HAM-BERLIN (1933),denn diese bildet die Basis sowohl für die NEG-Modelle als auch für die Arbeiten von CHRISTALLER und LÖSCH. Zudem scheint sie insbesondere bei Geographen weitestgehend unbekannt zu sein, so dass es notwendig ist, sie zumindest in ihren Grundzügen darzustellen.

Daraus ergibt sich folgender Aufbau des theoretischen Teils dieser Arbeit: Zu-nächst wird die Theorie von CHAMBERLIN vorgestellt. Im Anschluss daran wird gezeigt, weshalb man das "Zentrum-Peripherie-Modell" nicht für die Bearbeitung einer empirischen Fragestellung, wie sie hier verfolgt wird, nutzen kann. Neben den Problemen bei der Operationalisierung, wird dabei auf einen logischen Wi-derspruch eingegangen, den diese Modelle enthalten. Den Abschluss bilden die Theorien von CHRISTALLER und LÖSCH,wobei deren dynamischen Teile im Mit-telpunkt stehen.

Neben der Behandlung theoretischer Fragestellungen, ist es das Ziel dieser Ar-beit, einen praxisrelevanten Beitrag zu den Folgen der A 49 zu leisten. So werden mit Hilfe des von GÜßEFELDT entwickelten Instrumentariums, die Stärke und Verteilung der Kaufkraftströme auf Gemeindeebene vor und nach dem Bau der Autobahn berechnet, um so Tendenzen darstellen zu können, welche Städ-te / Gemeinden von dieser Entwicklung profitieren und welche eher NachStäd-teile

erfahren werden. Dabei werden zusätzlich zur derzeit von der Planung favorisier-ten Variante, der sog. "Herrenwaldtrasse", alternative Szenarien gerechnet, die sich an den Vorschlägen der Autobahngegner orientieren. Für Planer und Einzel-händler bedeutet dies, dass sie in die Lage versetzt werden, frühzeitig mögliche negative oder positive Auswirkungen der Autobahn zu erkennen, die dazu ge-nutzt werden können, rechtzeitig geeignete Mittel zu ergreifen, um mögliche ne-gative Folgen zu vermeiden bzw. positive zu verstärken. Im methodischen und empirischen Teil der Arbeit wird hierauf noch näher eingegangen werden.