4. Wissensvermittlung, Wissensdynamik und Wissensmanagement im Krimi- Krimi-nalroman am Beispiel von Andrea Maria Schenkels Tannöd Krimi-nalroman am Beispiel von Andrea Maria Schenkels Tannöd
4.3 Wie kann man Tannöd umschreiben? Drei Sequenzierungsvarianten bzw
4.3.2 Eine Sequenzierungsvariante nach dem Strukturmuster des Thrillers
Nun wollen wir Tannöd mit Hilfe einer Sequenzierungsvariante nach dem Muster des Thrillers (vgl.
Abschnitt 2.2.2) „umschreiben“, wie etwa nach dem Vorbild der Wallander-Romane von Henning Mankell. Ziel ist es, den thrillerspezifischen, actiongeladenen Nervenkitzel zu erzeugen, der vor
al-lem aus einem spannungsreichen Katz-und-Maus-Spiel zwischen Täter und Detektiv resultiert, welches mit einem Showdown auf Leben und Tod endet. Dementsprechend lautet die spannungser-zeugende Hauptfrage, ob der Täter oder der Detektiv den lebensgefährlichen Showdown gewinnt.
Im Vergleich dazu spielt die Täterfrage „Whodunit“ eine untergeordnete Rolle. Um der Spannung willen müssten wir beide Fragen – wie immer nach dem Verzögerungsprinzip bzw. dem Prinzip der aufsteigenden Wichtigkeit beim Wissensaufbau im Kriminalroman – erst am Romanende klären. Im Unterschied zur obigen ›crime novel‹-Version wird der dem Leser zunächst unbekannte Täter in unserer Thriller-Version als gefährlich und unberechenbar charakterisiert und sein Verbrechen, dem der Detektiv Einhalt gebieten muss, als jederzeit wiederholbar dargestellt. Aus dieser Abwehrauf-gabe folgt ein Handlungsablauf, der einem fortlaufenden Wettstreit ähnelt. Nach der Gestaltungs-tradition des Thrillers setzen wir multiperspektivisches Erzählen ein, um dem Leser stets einen Überblick über die beiden Gegenspieler zu bieten.
Der Text beginnt mit einer grauenerregenden Darstellung der Mordszene, die zwar aus der Perspektive des Täters erzählt wird, dessen Identität jedoch durch die Bezugnahme mit dem Pro-nomen er (oder ich im Fall einer Ich-Erzählung) unbekannt bleibt. Anschließend wird das Auffinden der Leichen aus der Sicht eines der vier beteiligten Zeugen (Sterzer, Lois, Hansel oder Hauer) ge-schildert, damit der Leser es in situ miterleben kann. Danach folgen der Auftritt des Detektivs (auch hier z.B. ein Kripo-Kommissar), die Besichtigung des Tatorts und die Verhöre der vier Zeugen, die zusammen die Leichen entdeckt haben.
Von diesem Zeitpunkt an wird die Erzählung hauptsächlich in zwei sich abwechselnde, eigen-ständige Erzählstränge aufgeteilt. In einem davon wird aus dem Blickwinkel des Detektivs erzählt, wie er eine Reihe von Verhören durchführt, aus den Zeugenaussagen viele Informationen gewinnt bzw. auswertet, darauf mehrere Hypothesen aufbaut und entsprechend in Aktion tritt, um den Täter aufzuspüren. Die Wissensvermittlung über den Informationsstand der Ermittlung erfolgt durch den Einsatz krimitypischer Schema-Elemente, wie etwa das in direkter Rede wiedergegebene Verhör, die darin zu findenden oder vorübergehend versteckten ›clues‹ und ›red herrings‹, die ›analy-sis‹-Passagen und die ›action‹-Passagen, die als feste Bestandteile des krimispezifischen Fra-ge-Antwort-Spiels dem systematischen Wissensaufbau im Kriminalroman dienen (vgl. Kap. 5).
Im anderen Erzählstrang wird aus der Perspektive des unbekannten Täters geschildert, wie unauffällig sich dieser in Gegenwart der Dorfbewohner verhält, über die Tat bzw. die Opfer reflek-tiert und wieder zuschlägt, um die Figuren, die ihn als Mörder zu identifizieren drohen, aus dem Wege zu räumen (dies könnte etwa der Augenzeuge Mich sein, der ihn erpresst). Meist werden die Informationen, die in einem Erzählstrang eingeführt werden, später im anderen spezifiziert. So könnte insbesondere die vor der Mordszene am Textanfang liegende Vorgeschichte (die Sache mit der Barbara) sowohl in Form einer Rekonstruktion des Detektivs anhand der aus den Verhören ge-wonnenen Informationen dargestellt werden, als auch vom Standpunkt des Täters aus rückblickend erzählt werden. Auf diese Weise wird der Leser nach und nach über das Tatmotiv in Kenntnis ge-setzt.
Wichtig ist hierbei, dass wir beim Wissensmanagement während des Katz-und-Maus-Spiels in Bezug auf die Frage „Wer weiß wann was?“ (vgl. Kap. 6) wieder eine asymmetrische, inkongruente
Informationsverteilung anwenden, die ganz anders ist als die in der obigen ›crime novel‹-Version.
Dort weiß der Leser über die Ermittlung genauso wenig wie der Täter, da die Geschichte durchweg aus der Täterperspektive erzählt wird und folglich die Aktivitäten des Detektivs nicht gezeigt wer-den können. Im Gegensatz dazu hat der Leser hier durch das multiperspektivische Erzählen einen Wissensvorsprung gegenüber dem Detektiv und dem Täter – denn nur er hat Übersicht über das Katz-und-Maus-Spiel. Dank des Erzählstrangs aus der Detektivperspektive erhält der Leser stets Informationen über den aktuellen Stand der Ermittlung, etwa wie der Ermittler schrittweise die ent-scheidenden Informationen über die Tat, das Tatmotiv und den Täter findet, den Tathergang rekon-struiert oder eine Falle stellt, um den ahnungslosen Täter zu enttarnen. Gleichzeitig ist der Leser dank des Erzählstrangs aus der Täterperspektive in der Lage, hinter dem Rücken des Detektivs
„Einblicke in das kriminelle Lager“ (Alewyn 1968/1971, in: Vogt 1998a, 59) zu erhalten, den Täter bei der Tat zu beobachten und dessen Gedankengängen zu folgen. Auf diese Weise kann er auch neue Taten aus nächster Nähe miterleben, woraus sich nach der Mordszene am Textanfang wieder reichlich Nervenkitzel ergibt. Wenn der Detektiv für den Leser sympathisch dargestellt wird und er sich mit ihm identifizieren kann, veranlassen die vertraulichen Informationen über den Täter den Leser dazu, mit angespannter Aufmerksamkeit weiterzuverfolgen, wie und wann der Detektiv end-lich von ihnen erfährt. So kann etwa eine außerordentend-liche Spannung entstehen, wenn er in seiner privilegierten Lage erfährt, wie der Täter plant, dem Detektiv eine Falle zu stellen (und ebenso, nur mit anderen Befürchtungen, wenn der Leser mit dem Täter sympathisiert). Kurz: Der Wissensvor-sprung des Lesers gegenüber dem Detektiv und dem Täter soll dazu führen, dass er den Täter (Was weiß der Täter?) sowie den Detektiv (Was weiß der Detektiv?) immer gespannter beobachtet und ein gesteigertes Interesse bzw. Anteilnahme an der Geschichte entwickelt.
Nach dem spannungsreichen Katz-und-Maus-Spiel zwischen Täter und Detektiv findet der Showdown, der auch hier als Höhepunkt der Erzählung fungiert, am Romanende statt. Hierbei wird die thrillertypische Hauptfrage, ob der Täter oder der Detektiv aus der lebensgefährlichen Konfron-tation als Sieger hervorgeht, mit dem thrillertypischen „Happy End“ geklärt: Aus der Perspektive des Detektivs wird geschildert, wie der Kampf auf Leben und Tod für Hauer tödlich endet (oder, wenn sich der Leser mit dem Täter identifiziert, aus Hauers Perspektive, wie der Detektiv im Kampf getötet wird und Hauer entkommt).
Vergleichen wir diese Sequenzierungsvariante mit der oben genannten ›crime novel‹-Version, bei der die Ereigniskette von Ursache und Wirkung konsequent in chronologischer Folge dargestellt wird, dann wird deutlich, dass sich diese Version von der vorhergehenden unterscheidet, indem der Auslöser des Mordfalls, also der Textbaustein ‚die Vorgeschichte‘ (die Sache mit der Barbara), erst schrittweise im Laufe des Katz-und-Maus-Spiels enthüllt wird. Ansonsten dominiert auch hier das Prinzip der chronologischen Abfolge. Dabei wird das Wissensmanagement in diesem Fall jedoch völlig anders gestaltet, um die thrillerhafte Spannung zu erzeugen: Die Darstellung einer brutalen Mordszene als Texteröffnung, die strategische Wissensvermittlung, durch die der Leser dank des ständigen Perspektivwechsels zwischen Detektiv und Täter stets eine Übersicht über das Katz-und-Maus-Spiel hat, und die Gewaltdarstellung beim Showdown im Schlussteil leisten einen Beitrag zur thrillertypischen Spannung. Durch die Umsetzung des für den Wissensaufbau im
Kri-minalroman charakteristischen Verzögerungsprinzips, vor allem durch die sich steigernde Spannung aus dem Katz-und-Maus-Spiel, dessen Ausgang erst am Romanende bekannt gegeben wird, kommt die krimitypische Spannung im Sinne von ›suspense‹ zustande.
4.3.3 Eine Sequenzierungsvariante nach dem Strukturmuster des