3.3 Spielarten des Referierens im Kriminalroman
3.3.2 Die Wiederaufnahme eines bereits eingeführten Gegenstandes
für die Einführung von Figuren zugleich zur strategischen Wissensvermittlung dienen. Eine wirk-same spannungserzeugende Strategie, mit der der Autor beim Leser sofort Neugier und die Erwar-tung auf mehr Informationen wecken kann, besteht etwa darin, dass er eine Figur durch Pronomina (z.B. er, sie, ich) oder definite Kennzeichnungen (z.B. der Mann, die Frau) einführen und den Be-zug wiederaufnehmen, ohne dem Leser ihren Namen zu verraten. Um welche Figur der Romange-sellschaft es sich handelt bzw. welche Rolle sie spielt, wird erst aus dem weiteren Textverlauf re-konstruierbar. Dieses Verfahren kommt besonders häufig in Bezug auf den Täter zum Einsatz, damit der Leser ihn in Tätererzählungen aus nächster Nähe kennenlernen und Informationen über ihn in Erfahrung bringen kann, ohne über seine wahre Identität Bescheid zu wissen (mehr dazu vgl. Ab-schnitt 6.2.2.2). Auf die Einführung und Charakterisierung von Figuren im Kriminalroman sowie ihr Beitrag zu den krimitypischen Formen des Wissensmanagements werden wir in Abschnitt 6.2 noch näher eingehen.
Darüber hinaus können anaphorisch verwendete Pronomina eine weitaus komplexere Funktion als nur die von Kontinuitätssignalen bzw. Mitteln der Sprachökonomie haben: Gewissermaßen können sie die bewertende oder affektive Einstellung des Erzählers bzw. der sprechenden Figuren dem Re-degegenstand gegenüber signalisieren,160 und diese Einstellung muss vom Leser aus dem Text er-schlossen werden. Sonst kann es passieren, dass der Leser den Text nicht auf die vom Autor inten-dierte Weise interpretiert (vgl. Conte 1991, 219ff.). Im Kriminalroman werden Pronomina häufig gezielt genutzt, um eine Art fiktive Nähe zwischen Figur und Leser herzustellen. Besonders bei der Einführung und Charakterisierung des Detektivs gilt eine Kombination aus dem Einsatz des Detek-tivs als Perspektivfigur und der Verwendung von Pronomina zur Koreferenz als wirksame Erzähl-strategie zur Erzeugung von Nähe.161 Diese Strategie funktioniert am besten, wenn den ganzen Roman über aus der Detektivperspektive erzählt wird (vgl. Abschnitt 6.2.1).
Bei der Namenswiederholung wird der volle Name der vorerwähnten Figur normalerweise nicht noch einmal gebraucht. Stattdessen werden entweder Nachname oder Vorname der Figur ver-wendet, wobei die geschlechtsgebundenen sprachlichen Gepflogenheiten bei der Auswahl eine we-sentliche Rolle spielen: Im Allgemeinen wird durch Nachnamen erneut auf Männer Bezug genom-men; auf Frauen, Kinder und Jugendliche dagegen häufig durch Vornamen. Im Kriminalroman werden männliche Figuren oft durch Vornamen wiederaufgenommen, da der Autor derlei Konven-tionen nutzt, um die Distanz zwischen Referenzträger und Leser durch gezielten Gebrauch von Re-ferenzmitteln zu verringern oder zu vergrößern (bezüglich der Neueinführung der Detektivfigur und der Wiederaufnahme des Bezugs im Kriminalroman vgl. Abschnitt 6.2.1.1).
Auch definite Kennzeichnungen eignen sich zur Koreferenz: Der Artikelgebrauch signalisiert Definitheit und macht deutlich, dass der betreffende Gegenstand bereits erwähnt wurde bzw. der Autor diesbezüglich bestimmte Informationen als dem Leser bekannt voraussetzt, die inner- oder außertextlicher Art sein können (vgl. Brinker 2001, 30f.). Bei Koreferenz durch definite Kenn-zeichnungen ist zudem der Sinn des Ausdrucks für den Gebrauch relevant. Daher stellt sich die Frage, wie man sich mit verschiedenen Ausdrücken, die einen durchaus unterschiedlichen Sinn ha-ben können, auf denselha-ben Gegenstand beziehen kann. Hierzu kann man zunächst synonyme bzw.
bedeutungsähnliche Ausdrücke verwenden. Bei Ein Mann kam herein. Der Mann/Der Kerl/Der Mensch sah müde aus wird auf den Referenzträger, der durch die indefinite Kennzeichnung ein Mann neu eingeführt wird, etwa durch dasselbe Wort mit bestimmtem Artikel (der Mann), durch ein Synonym (der Kerl) oder durch ein Hyperonym162 (der Mensch) erneut Bezug genommen (vgl.
160 Vergleicht man etwa die Äußerungen Ein Mann kam herein. Er sah müde aus und Ein Mann kam herein. Der sah müde aus, so wirkt die Wiederaufnahme durch der leicht abwertend oder umgangssprachlich.
161 Der Krimiautor Lawrence Block gibt in seinem Ratgeber für das Krimischreiben zum Beispiel den folgenden Tipp:
„If you want to draw the reader in close, the trick is to use pronouns at all times except where to do so would result in confusion. Use the name to establish who we’re talking about, and often enough throughout to avoid unclarity. At all other times, stick with he and she“ (Block 1981, 173).
162 Allerdings eignet sich ein Hyperonym nicht immer zur Koreferenz, z.B. sagt man nicht Über die Strasse rannte ein Dackel. Das Säugetier keifte (vgl. Steinitz 1974; Vater 2005, 98). Zu bemerken ist auch die Abfolgeregel, dass auf den-selben Gegenstand zunächst durch einen speziellen Ausdruck und dann durch einen allgemeinen Ausdruck Bezug ge-nommen wird. Das heißt, bei Koreferenz folgt normalerweise ein Hyperonym auf ein hyponymes Antezedens und nicht umgekehrt: Während Um die Ecke kam ein Auto. Der Fahrzeug fuhr viel zu schnell geläufig ist, wirkt Um die Ecke kam ein Fahrzeug. Das Auto fuhr viel zu schnell ungewöhnlich (vgl. Brinker 2001, 32).
Vater 2005, 98). In dem Fall sind die Bedeutungsbeziehungen zwischen den koreferent gebrauchten Ausdrücken semantisch verankert und im Sprachsystem vorgegeben.163
Außerdem kann man auch definite Kennzeichnungen ohne semantische Bedeutungsbeziehun-gen zur Koreferenz verwenden. In solchen Fällen wird die referenzidentische Relation der verwen-deten Ausdrücke im Text aufgebaut und somit die Wissensvoraussetzung für die Verwendung von definiten Kennzeichnungen bereitgestellt. In Adieu Irene von Holger Bischoff wird beispielsweise auf eine durch „Hohmann“, „der ermittelnde Kommissar“ (423) eingeführte Figur nach der Be-schreibung „Bauch- und Hüftspeck quollen in mehreren Wellen bedenklich über den Gürtelrand der Hose seines grünen Cordanzuges“ (423) durch die definite Kennzeichnung „der Fleischberg“ (427) erneut Bezug genommen. Hierbei setzt der Autor voraus, dass er mit diesem Ausdruck an dieser Stelle Identifikationswissen beim Leser anspricht, weil er bereits durch die Personenbeschreibung die Wissensvoraussetzung für diese Verwendung aufgebaut hat. In diesem Fall kann der Leser durch den charakterisierenden Anteil der definiten Kennzeichnung der Fleischberg an die zuvor gelesene Beschreibung erinnern und Kommissar Hohmann als Redegegenstand identifizieren. Auf diese Weise ergibt sich die referenzidentische Verknüpfung dieser Ausdrücke aus dem Verwendungszu-sammenhang bzw. Kontext. Es ist deutlich zu erkennen, dass der Autor mit der Variation im Aus-druck vor allem das für Romane geltende stilistische Prinzip „variatio delectat“ befolgen will. Au-ßerdem dient die definite Kennzeichnung der Fleischberg zur bildhaften Figurencharakterisierung, die dem Leser in Erinnerung bleibt.
Nachdem wir die explizite Wiederaufnahme behandelt haben, wollen wir kurz Koreferenz im-pliziter Art erwähnen. In diesem Fall wird zwar durch verschiedene Ausdrücke auf unterschiedliche Gegenstände Bezug genommen, doch bestehen zwischen diesen Gegenständen bestimmte Bezie-hungen, sodass man diese Art von Koreferenz im erweiterten Sinn als Weiterreden über denselben Gegenstand auffassen kann (vgl. Brinker 2001, 36ff.).164 Bei den Äußerungen Ein Ehepaar wurde
163 Aus rezeptiver Sicht spricht Brinker (2001, 43f.) von textimmanenten, sprachimmanenten und sprachtranszendenten Indizien, durch die der Leser zwischen bestimmten Ausdrücken in aufeinanderfolgenden Äußerungen eine Relation der Wiederaufnahme annimmt. Wenn die Beziehung der Wiederaufnahme zwischen den Ausdrücken im Text selbst herge-stellt wird, bezeichnet man solche Indizien als textimmanent. Wenn die Beziehung zwischen den Ausdrücken im Sprachsystem verankert ist, sind solche Indizien sprachimmanent. Dazu gehören die semantischen Relationen der Sy-nonymie, der Hyperonymie und Hyponymie sowie der Kontiguität. Bei sprachtranszendenten Indizien basiert die Be-ziehung zwischen den Ausdrücken auf dem Wissen der Kommunikationspartner. In solchen Fällen wird der Text nur dann als kohärent angesehen, wenn der Leser auch über das Vorwissen verfügt, das der Schreiber bei ihm voraussetzt.
164 Ein Beispiel hierfür ist etwa die Äußerung „Nimm nicht die gelbe Tasse. Da ist der Henkel kaputt“ (Ziem 2008, 337), wobei die Gegenstände, auf die sich der Sprecher jeweils durch die Ausdrücke die gelbe Tasse und der Henkel bezieht, zueinander in einer Teil-Ganzes-Beziehung stehen. Ein anderes Beispiel wäre die Enthaltenseinsrelation: Wenn von einem Haus die Rede ist, steht die darauffolgende Erwähnung einer Haustür, eines Wohnzimmers, einer Küche usw.
offensichtlich im Zusammenhang mit dem Haus. Oder wenn man über eine Familie redet, steht zu erwarten, dass an-schließend von Eltern, Kindern und, je nach der betreffenden Kultur, auch von Großeltern bzw. Verwandten die Rede ist.
Außerdem sind Ausdrücke wie eine Frage und die Antwort, ein Problem und die Lösung, ein Krankenhaus und der Arzt usw. durch gewisse assoziative Beziehungen miteinander verbunden. Dabei sind die Kontiguitätsverhältnisse zwischen Ausdrücken sehr verschiedenartig, sodass allein durch willkürliche semantische Regelformulierungen schwer zu erklä-ren ist, was einen Sprachbenutzer in die Lage versetzt, solche Ausdrücke als miteinander zusammenhängend zu inter-pretieren, weshalb die Ansichten darüber von Person zu Person unterschiedlich sein können. Hierzu leistet der kognitive Standpunkt der Referenzforschung, der gegen Ende des 20. Jahrhunderts florierte, einen besonderen Beitrag: In vielen Arbeiten der Kognitiven Semantik und der Psycholinguistik wird gezeigt, dass Referenz, und insbesondere das Verste-hen von Koreferenz, in hohem Maße mit den kognitiven Eigenleistungen des Sprachbenutzers verbunden ist. Die Ko-härenzbildung zwischen Ausdrücken lässt sich aus kognitiv-semantischer Sicht etwa durch Frames und sprachliches
zu Hause ermordet aufgefunden. Der Mann wurde enthauptet signalisiert der Autor z.B. mit der Verwendung der definiten Kennzeichnung der Mann, dass er einen bestimmten Mann meint und an dieser Stelle der Kommunikation diesbezügliches Identifikationswissen beim Leser voraussetzt. Da es sich hierbei um aufeinanderfolgende Äußerungen handelt und der Leser weiß, dass ein Ehepaar normalerweise aus einem Mann und einer Frau besteht, kann er erfolgreich den Mann des vorer-wähnten Ehepaars als gemeinten Gegenstand identifizieren.
Zu beachten ist, dass im Kriminalroman die oben genannten Referenzmittel zur Neueinführung und Koreferenz von Figuren in diversen Kombinationen zum Einsatz kommen. Ausgehend davon, dass im Text im Wesentlichen von denselben Figuren die Rede sein muss, zieht der Leser die ent-sprechenden Rückschlüsse über sie und ordnet die derart vermittelten Wissenselemente in sein Bild von den Figuren ein. So leistet die Verwendung einer bunten Palette von Referenzausdrücken einen wichtigen Beitrag zum Wissensaufbau und zur thematischen Organisation (vor allem zur themati-schen Spezifizierung) im Kriminalroman. Besonders verbreitet ist u.a. die Verwendung variierender, nicht bedeutungsähnlicher definiter Kennzeichnungen zur Koreferenz bzw. identifizierenden Refe-renz, mit denen der Autor (1) eine bereits eingeführte Figur an entfernten Textstellen identifizieren und erneut auf sie Bezug nehmen, (2) sie durch zusätzliche Angabe ihrer Eigenschaften charakteri-sieren bzw. nebenbei Informationen über sie vermitteln und (3) das Prinzip der Variation im Aus-druck bzw. das Prinzip der Originalität und Unterhaltsamkeit (vgl. Abschnitt 2.3.5.3) realisieren kann. Darauf gehen wir im Folgenden näher ein.