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Die SED-Diktatur als abkünftige Diktatur oder:

Im Dokument Politik und Film in der DDR (Seite 161-200)

Herrschaftsbegründung durch Okkupation

Die SED stellte ihre Herrschaft in der DDR in eine zweifach begründete Kontinuität: in die Kontinuität der Geschichte der Arbeiterbewegung und in die Kontinuität der marxistischen Geschichtstheorie; in dieser revolutionären Tradition sollten Staat und Partei stehen. Die Gründung der DDR sei erfolgt in „Fortsetzung der revolutionären Traditionen der deutschen Arbeiterklasse und gestützt auf die Befreiung vom Faschismus“, die Staatsgründung stehe zugleich „in Übereinstimmung mit den Prozessen der geschichtlichen Ent-wicklung unserer Epoche.“447 Die SED als „der bewußte und organisierte Vortrupp der Arbeiterklasse und des werktätigen Volkes“ in der DDR „ver-wirklicht die von Marx, Engels und Lenin begründeten Aufgaben und Ziele der revolutionären Arbeiterbewegung“, sie „setzt das Werk der

446 Pieck, Wilhelm, Richtlinien für die Ausarbeitung einer politischen Plattform der deut-schen Volksfront, Juni 1936, in: W. Pieck, Gesammelte Reden und Schriften, Bd. 5, Ber-lin 1972, S. 336 ff.

447 Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968, Vorwort, in:

Verfassung der DDR, Berlin 81989.

schen Partei Deutschlands fort“, sie „erfüllt das Vermächtnis der anti-faschistischen Widerstandskämpfer“ und sie „ist die Erbin alles Progressiven in der Geschichte des deutschen Volkes“ so wie sie auch „eine Abteilung der internationalen kommunistischen Bewegung“448 ist; kurzum: „Die siegreiche sozialistische Revolution in der Deutschen Demokratischen Republik“449 bedeutet „eine grundlegende Wende in der Geschichte des deutschen Vol-kes“, sie schuf „den sozialistischen Staat der Arbeiter und Bauern als eine Form der Diktatur des Proletariats“.450

Diese hier skizzierte programmatische Selbstauslegung der SED von Genese und Traditionsbezug ihrer Herrschaft wirft eine ganze Reihe von Problemen auf; die interessanteste Frage ist dabei die nach dem Verhältnis der mit revo-lutionärer Rhetorik betriebenen Evokation einer geschichtsmächtigen histori-schen Kontinuität und der nüchternen Faktizität der Machtergreifung in den Jahren nach 1945; kurz: die Frage nach der Bedeutung und Verarbeitung des Umstandes einer Herrschaftsbegründung nicht durch Revolution, sondern durch „Okkupation“ (D. Sternberger); dies Problem wird im folgenden Ab-schnitt erörtert.

1.4.1 Revolution oder: Geschichte und Gewalt

Der Begriff der Gewalt nimmt in der Theorie des Marxismus-Leninismus einen prominenten Platz ein. Marx hat neben der Kategorie der „ökonomi-schen Gewalt“, die im „stummen Zwang“ der bestehenden Verhältnisse zur Geltung komme, auch die außerökonomische Gewalt, das reiche Repertoire der Mittel des physischen Zwangs, die in der „Staatsmacht“, jener „konzent-rierte(n) und organisierte(n) Gewalt der Gesellschaft“, ihre vollendete Ge-stalt gewonnen hat, als geschichtliche Kraft im „Kapital“ ausdrücklich ge-würdigt: „Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht.“451

Die Rede ist dabei von der revolutionären Gewalt als movens der Geschich-te. Im Gefüge der marxschen Geschichtsphilosophie ist Geschichte eine von

448 Programm der SED, in: Programm und Statut der SED vom 22. Mai 1976 mit einem einleitenden Kommentar von Karl Wilhelm Fricke, Köln 21982, S. 45.

449 Programm der SED, a. a. O., S. 47.

450 Programm der SED, a. a. O., S. 46.

451 Marx, Karl, Das Kapital, Bd.1, MEW 23, Berlin 1964, S. 799.

Klassenkämpfen als Ausdruck der Spaltung der Gesellschaft in antagonisti-sche Klassen. Die Rede von der Gewalt, mit der eine bisher unterdrückte Klasse die herrschende Klasse stürzt und sich zur Herrschaft „befreit“, kul-miniert daher in der revolutionären Gewalt des Proletariats in der Phase der politischen Revolution. Angeleitet von ihrer Theorie, die zwar auch zur „ma-teriellen Gewalt (wird), sobald sie die Massen ergreift“452, schreitet die Ar-beiterklasse voran zum Sturz der alten Herrschaft; da diese aber nicht kampf-los und freiwillig abtritt, gebraucht auch die Arbeiterklasse Gewalt: „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt.“453

Die Eroberung der politischen Macht und die Errichtung ihrer Herrschaft, mit der die Arbeiterklasse sich und damit alle unterdrückten Klassen befreit, überwindet perspektivisch die Klassenspaltung der Gesellschaft. Da Gewalt und Klassenkampf ein komplementäres Verhältnis bilden, kann auch die proletarische Macht nicht auf Gewalt verzichten; sie muss vielmehr die or-ganisierte Gewalt des sozialistischen Staates einsetzen, um die Revolution und die zu schaffende neue Gesellschaft zu verteidigen gegen alle Versuche der alten „Ausbeuterklasse“, der „Konterrevolution“, den status quo ante wieder herzustellen. Die Arbeiterklasse kann den Klassenkampf und die Gewalt also nicht sofort abschaffen, „aber sie schafft das rationelle Zwi-schenstadium, in welchem dieser Klassenkampf seine verschiedenen Phasen aufs rationellste und humanste Weise durchlaufen kann.“454

Gewalt als notwendiges Mittel zur Eroberung und Verteidigung der politi-schen Macht der Arbeiterklasse in der Diktatur des Proletariats unterliegt daher im Prozess des Aufbaus des Sozialismus einer „humanen“ Transfor-mation in eine kollektive Organisationsform der neuen Gesellschaft. In Le-nins Worten: „Zweifellos, ohne dieses Moment - ohne die revolutionäre Gewalt – hätte das Proletariat nicht siegen können. Aber es kann auch kein Zweifel daran bestehen, daß die revolutionäre Gewalt nur in bestimmten Entwicklungsetappen der Revolution, nur unter bestimmten und besonderen Bedingungen eine notwendige und gesetzmäßige Methode der Revolution

452 Marx, Karl, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW 1, Berlin 1974, S. 385.

453 Ebd.

454 Marx, Karl, Erster Entwurf zum „Bürgerkrieg in Frankreich“, MEW 17, Berlin 1972, S.

546.

war, während die Organisation der proletarischen Massen, die Organisation der Werktätigen ein viel wesentlicheres Merkmal dieser Revolution und Voraussetzung ihrer Siege war und bleibt. Eben in dieser Organisation von Millionen Werktätigen liegen die besten Entwicklungsbedingungen der Re-volution, liegt die unerschöpfliche Quelle ihrer Siege.“455

1.4.2 Zur Ästhetik der Revolution oder: Die SED-Diktatur als Farce Das grundlegende Problem für die SED-Herrschaft bestand aus der Perspek-tive dieser genannten Prämissen ihres geschichtsphilosophischen Modells von Anfang an darin, dass von einer Genese ihrer Herrschaft aus einer politi-schen Revolution keine Rede sein konnte: „In der deutpoliti-schen Sowjetzone hat die kommunistische Partei ihre Herrschaft nicht durch Revolution, sondern durch Okkupation begründet.“456

Eine Okkupation durch die Truppen der Sowjetunion, eine Folge des 2.

Weltkrieges, der sich 1945 endgültig gegen seine Urheber gewendet hatte.457 Gewalt war also durchaus Geburtshelfer des SED-Staats, allerdings die

455 Lenin, Gedenkrede für J. M. Swerdlow, 18. 3. 1919, in: Werke, Bd. 29, Berlin 1967, S.

74.

456 Sternberger, Dolf , Grund und Abgrund der Macht, Frankfurt/M. 1962, S. 91.

457 Dass das von der Roten Armee besetzte Gebiet weitaus größer war, als es die Sowjets selbst geplant hatten, ist eines der Resultate der Londoner Konferenz der drei Alliierten Mächte im Jahr 1944 und sei hier nur am Rande erwähnt. Am 14. Januar 1944 trat im Lancester-House die Europäische Beratende Kommission“ (European Advisery Commis-sion, EAC) zusammen, die USA wurden vertreten durch ihren Botschafter John Winant, die Sowjets durch ihren Botschafter Fedor Gusew, die Briten durch den Spitzendiploma-ten des Foreign Office Sir William Strang. Am 15. Januar legte Strang einen Plan zur Aufteilung Deutschlands in drei Besatzungszonen vor. Vier Tage zuvor hatte die Sowjet-union die Arbeit an einem Memorandum über die bedingungslose Kapitulation Deutsch-lands fertig gestellt und darin auch detaillierte Angaben zur Besetzung DeutschDeutsch-lands ge-macht; ihre selbst eingeräumte Zone war allerdings wesentlich kleiner ausgefallen als je-ne im Papier von Strang vorgeschlageje-ne. Sie konnten daher dem Plan der Briten weitge-hend zustimmen. Dieser Plan, die „MAP A“, die im September 1944 von Churchill und Roosevelt gebilligt wurde, bildete die Grundlage für alle weiteren Regellungen. Vgl. da-zu: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Hrsg. vom Bundesministerium des Inneren und vom Bundesarchiv. Wissenschaftliche Leitung: Klaus Hildebrand und Hans-Peter Schwarz. I. Reihe/ Band 5: Europäische Beratende Kommission, 15. Dezember 1943 bis 31. August 1945, München 2003.

walt des Krieges; die These vom Zusammenhang des Kriegs und des Auftre-tens „totaler Staaten“ findet auch hier eine glänzende Bestätigung.458 Die Genese der SED-Herrschaft nicht aus der Gewalt einer Revolution, son-dern aus der Gewalt eines Krieges bereitet aus der Binnenperspektive der marxschen Theorie ein nicht unerhebliches Problem; die Darstellung der

„Poesie der Revolution“ und ihrer Begriffe, kann sich als hilfreich erweisen für die Interpretation dieser problematischen Konstellation; Marx selbst hat dazu in seiner Bonapartismus-Analyse die Anregung gegeben.

„Hegel bemerkt irgendwo“, schreibt Marx, „daß alle großen weltgeschichtli-chen Tatsaweltgeschichtli-chen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat ver-gessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Far-ce.“459

Marx postuliert zwar: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte“, doch er schränkt ein, „aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.“460 Diese Traditionslast hat einen besonderen Effekt: „Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nie Dagewesenes zu schaffen, gerade in sol-chen Eposol-chen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlacht-parole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen.“461 Die

458 So u. a. auch von Wolfgang Reinhard formuliert: es nimmt nicht wunder, „daß der noto-risch gewalttätige totale Staat des 20. Jahrhunderts erst recht aus dem Krieg hervorgegan-gen ist.“, in: Reinhard, Wolfgang, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Ver-fassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S.

467.

459 Marx, Karl, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW Bd. 8, Berlin 1972, S.

115.

460 Ebd.

461 Ebd. Hier scheint ein Motiv auf, das uns später noch beschäftigen wird: das Prometheus – Motiv. Zur Bedeutung dieser Figur des Mythos für Marx als dem nach Hegel zu spät ge-kommenen Schöpfer eines Systems der Philosophie, der alles vollbracht vorfand, wie es im Prometheusmythos selbst im Verhältnis zu Zeus vorgezeichnet ist, und der daraufhin darauf verfällt, etwas „noch nie Dagewesenes zu schaffen“, eine Theorie, die nicht mehr eine solche sein sollte, sondern vielmehr Anleitung zur Schaffung einer neuen Welt und

lyse dessen, was hier im geschichtlichen Prozess vor sich geht, faßt Marx mit dem Begriff der „Selbsttäuschung.“462

Zwei Denkmotive in dieser Passage verdienen besondere Beachtung. Marx schließt an das „Vico-Axiom“463 an, dem zufolge die historische Welt vom Menschen gemacht werde; er formuliert es jedoch mit seinen Hinweisen auf die besondere Bedeutung der „Umstände“ und die der „Tradition“ in einer restringierten Fassung, die voraus weist auf die später in der ökonomischen Theorie dargestellte Denkfigur der von Adam Smith übernommenen „invi-sible hand“ als regulativer Instanz des anarchischen Marktgeschehens, des-sen Geheimnis Marx enthüllt als Wirkungen des Wertgesetzes, das jene

„hinter dem Rücken“ der Menschen liegende Instanz sein soll, die ihr Han-deln steuert.

Was offen vor den Augen der Menschen liegt, das ist nur der Schein des Grundes für ihr Handeln; der wahre Grund ist ihnen verborgen, er liegt in ihrem Rücken. Hier tut sich die „Platonismus-Falle“ (Blumenberg)464 auf;

hier öffnet sich das Feld für den totalitären Heilsbringer, der berufen ist, die in der Höhle sitzenden Unwissenenden zum Licht der Wahrheit zu führen.

Marx` Version des Vico-Axioms lautet daher: Die Menschen machen ihre Geschichte, aber sie exekutieren dabei blind ein von ihnen zwar geschaffe-nes, aber nicht verstandenes und nicht beherrschtes ökonomisches Gesetz.

eines neuen Menschen, vgl. dazu: Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt/M.

1996.

462 Marx, a. a. O., S. 116.

463 Vgl. dazu: Fellman, Ferdinand, Das Vico – Axiom: Der Mensch macht die Geschichte, Freiburg 1976. Fellmanns Leitfrage lautet, was `machen` bedeuten kann, wenn dies Han-deln nicht mit seiner Autonomie identisch sein soll. Fellmann sieht die Antwort in der al-le Bereiche geschichtlichen Handelns umfassenden Philosophie Vicos. Fellmans These ist, „daß Vico die philosophische Betrachtung der Weltgeschichte nur dadurch begründen kann, daß er den Begriff des Handelns in allen Bereichen durch den der geistigen Produk-tion ersetzt.“ (Fellman, a. a. O., S. 19.) Diese menschliche Produktivität in der Geschichte fasst Fellmann u. a. in den folgenden Punkten zusammen: 1.) aus der Perspektive der My-thologie bedeute das Vico – Axiom, „daß die vom Menschen selbst hervorgebrachte myt-hische Religion den ersten Anfang aller Geschichte bildet.“ ( S. 12.) 2.) Bezogen auf die Naturbeherrschung besagt es: „Machen von Geschichte bedeutet Hervorbringen einer vortheoretischen Welt lebensweltlich – praktischer Künste durch den natürlichen Men-schen.“ (S. 13.) Bezogen auf die Herausbildung von Recht und Staat besagt es in Front-stellung zu Hobbes: „Der vom Menschen in den mythischen VorFront-stellungen selbst hervor-gebrachte Zwang bildet den Anfang in der Entwicklung der Freiheit, die in Recht und Staat ihre volle Entfaltung findet.“ (S. 15.) – vgl. dazu unten 1.5. Glückseligkeitsdespotie.

464 Vgl. oben Kap. 3 u. 4.

Das damit begründete Abhängigkeitsverhältnis der Menschen von dem von ihm entdeckten Gesetz beschreibt Marx mit der Formel: „Sie wissen das nicht, aber sie tun es.“465

Das zweite Denkmotiv, das der Selbsttäuschung, ist eine Implikation des modifizierten Vico-Axioms: Da die wahren Gründe ihres Handelns den Menschen undurchsichtig sind, ihnen im Rücken liegen, haben sie auch

„notwendig“ illusionäre und falsche Vorstellungen über eben diese Gründe;

sie sind in ihrer Reflexion sozusagen nie auf der Höhe ihrer Handlungen.466 In die Sphäre des Politischen übertragen, erfüllen die „Selbsttäuschung“ und die damit verbundene „Kostümierung“ eine durchaus progressive Funktion:

„Die Totenerweckung“ in den vorproletarischen Revolutionen, „diente also dazu, die neuen Kämpfe zu verherrlichen, nicht die alten zu parodieren, die gegebene Aufgabe in der Phantasie zu übertreiben, nicht vor ihrer Lösung in der Wirklichkeit zurückzuflüchten, den Geist der Revolution wiederzu-finden, nicht ihr Gespenst wieder umgehen zu machen.“467

465 Marx, Karl, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, Berlin 1964, S. 88. – Der Abschnitt, aus dem der Satz entnommen ist, lautet: Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis; dies

„besteht also darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt...“; das vollständige Zitat lautet: „Die Menschen beziehen also ihre Arbeitsprodukte nicht aufeinander als Werte , weil diese Sachen ihnen als bloß sachliche Hüllen gleichartig menschlicher Arbeit gelten. Umge-kehrt. Indem sie ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiedenen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen das nicht, aber sie tun es.“

Ein in diesem Zusammenhang zu erwähnender ungewöhnlich krasser Fall von Fehldeu-tung der marxschen Methode findet sich in einem Band, der ansonsten gute und gewich-tige Beiträge enthält, in dem Aufsatz von Lothar Fritze, Utopisches Denken – Marx und der Marxismus, in: „Ein Gespenst geht um in Europa. Das Erbe kommunistischer Ideolo-gien, hrsg. v. Uwe Backes u. Stèphane Courtois, Köln 2002, S. 85 – 146. Mit einem Zitat aus der „Heiligen Familie“ beglaubigt, behauptet Fritze, für „das Verständnis der marxis-tischen Geschichtstheorie“ sei „deren methodologischer Individualismus wesentlich.“ (S.

102.) Das Gegenteil ist richtig. Es war kein Geringerer als der sich als Anti- Marx verste-hende Max Weber, der den Begriff des `methodologischen Individualismus` kritisch ge-gen Marx und seine axiomatisch- metaphysische Geschichtstheorie entwickelt hat. Vgl.

dazu: Michael Sukale, Max Weber- Leidenschaft und Disziplin, Tübingen 2002.

466 Hier liegt im übrigen der Ansatz für den klassischen Ideologiebegriff, demzufolge Ideo-logie immer „falsches` Bewusstsein“ sei, ihm folgte auch Marx; im orthodoxen Marxis-mus-Leninismus wurde diese Begriffsbestimmung fallengelassen und Ideologie positiv konnotiert.

467 Marx, Der 18. Brumaire, a. a. O., S. 116.

So etwa die bürgerliche Revolution: „Aber unheroisch, wie die bürgerliche Gesellschaft ist, hatte es jedoch des Heroismus bedurft ..., um sie auf die Welt zu setzen. Und ihre Gladiatoren fanden in den klassisch strengen Über-lieferungen der römischen Republik die Ideale und die Kunstformen, die Selbsttäuschungen, deren sie bedurften, um den bürgerlich beschränkten Inhalt ihrer Kämpfe sich selbst zu verbergen...“468

Die differentia specifica zwischen der proletarischen Revolution und ihren historischen Vorgängern liegt im Wegfall der Selbsttäuschung und dem nicht mehr erforderlichen Rückbezug auf die Masken der Vergangenheit: „Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit ab-gestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Re-volution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eigenen Inhalt anzukommen. Dort ging die Phrase über den Inhalt hinaus, hier geht der Inhalt über die Phrase hinaus.“469

Diese Differenz und die Poesie der proletarischen Revolution hat Marx in einer selbst poetischen Sprache formuliert: „Bürgerliche Revolutionen, wie die des achtzehnten Jahrhunderts, stürmen rascher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatischen Effekte überbieten sich, Menschen und Dinge scheinen in Feuerbrillanten gefaßt, die Ekstase ist der Geist jedes Tages; aber sie sind kurzlebig, bald haben sie ihren Höhepunkt erreicht, und ein langer Katzen-jammer erfaßt die Gesellschaft, ehe sie die Resultate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern sich aneignen lernt.

Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Ge-gner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis

468 Ebd.

469 Marx, Der 18. Brumaire, a. a. O., S. 117.

die Situation geschaffen ist, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodos, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze!“470

Auch hier dient der Rekurs auf die „Verhältnisse“ der Beschwörung der aus ihnen hervorgehenden determinierenden Kraft für das Handeln; die proletari-sche Revolution ist reiner Ausdruck der geschichtlichen Erfordernisse; die

„Ungeheuerlichkeit“ ihrer Zwecke kongruiert mit den Zielen der Geschichte, selbst wenn diese noch „unbestimmt“ sind.

Aus dieser Poesie der Revolution fällt die kommunistische Machtergreifung in der SBZ/DDR erkennbar heraus; die „versteinerten Verhältnisse“ rufen keineswegs danach, sie „zum Tanzen zu zwingen.“471

1.4.3 Herrschaft durch Okkupation und ihre Aporien

Die von Marx in seiner Poetologie der Revolution bereitgestellten Begriffe Tragödie/Farce und Selbsttäuschung erscheinen nun als heuristisch brauch-bare Mittel zur Interpretation der o. g. Grundkonstellation; eine Applikation dieser Begriffe auf die Genese der SED-Diktatur und ihre Aporien ergibt folgendes Bild: Kann die bolschewistische Revolution im Sturm auf das Winterpalais und in den folgenden politischen Manövern zur Machtergrei-fung Lenins mit dem Begriff „Tragödie“ belegt werden, so haftet der kom-munistischen Machtergreifung in der SBZ/DDR, also der Wiederkehr einer

„geschichtlichen Tatsache“ (Marx), der „Revolution“, ohne Zweifel der Charakter einer Farce an.

Im Oktober 1917 waren die Bolschewiki in einem handstreichartigen Putsch an die Macht gelangt; sie strebten die Generalisierung ihres Sieges als Welt-revolution an: eine Ausbreitung des Kommunismus mit den Mitteln der

470 Marx, Der 18. Brumaire, a. a. O., S. 118. Der berühmteste Dramatiker der DDR, Heiner Müller, hat natürlich das mythische Potential dieser Passage sofort erkannt und unter dem Titel „Herakles 2“ in sein Stück „Zement“ aus dem Jahr 1972 eingebaut. Vgl. dazu oben Kap. 3.

471 Das bekannte Marx- Zitat lautet: „Man muß jede Sphäre der deutschen Gesellschaft als die partie honteuse der deutschen Gesellschaft schildern, man muß diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt!

Man muß das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen. Man erfüllt damit ein unabweisbares Bedürfnis des deutschen Volks...“ Marx, Karl, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, a. a. O., S. 381.

Gewalt.472 Von der „Oktoberrevolution“ wurden die Ansätze einer bürgerli-chen Entwicklung von der historisbürgerli-chen Bühne Rußlands entfernt, die kurz zuvor, in der „Februarrevolution“ mit dem Sturz des Zaren, begonnen hatte.

In einer beachtlichen Differenz zur marxschen Theorie stehend, hatte sich der Sieg einer „proletarischen Revolution“ nicht in einem kapitalistischen Kernland, sondern in einem Land mit dominierender Agrarstruktur ereignet;

Geburtshelfer am Beginn und in der Phase des „Kriegskommunismus“ waren Gewalt und Terror: „Möglicherweise hatte der Terror den Kommunismus gerettet, aber er zerfraß dessen innerstes Mark.“473 Der „Große Oktober“, diese „Zehn Tage, die die Welt bewegten“ (John Reed), so die Selbstbe-zeichnung in der symbolischen Überhöhung, war in jeder Hinsicht ein „welt-erschütterndes Ereignis.“474

In Rußland hatte eine konspirativ agierende Organisation von Berufsrevo-lutionären die politische Macht erobert,475 alle - die Mehrheit bildenden - politischen Konkurrenten dupiert und kaltgestellt und sich post fest in einem Prozess der terroristischen Umgestaltung der Gesellschaft das dazugehörige revolutionäre Subjekt geschaffen.476

In der SBZ/DDR eroberte eine kleine Zahl von deutschen Kommunisten, angeleitet von drei Gruppen von „Moskau-Kadern“ sukzessive die Macht - und sie konnte dies nur, weil sie im Schatten der Gewehrläufe der Roten Armee auftraten. Auch die SED mußte sich das revolutionäre Subjekt erst schaffen, aber völlig anders als dies nach der bolschewistischen Revolution der Fall war: sie musste zunächst koexistieren mit einer bereits vorhandenen

472 Vgl. dazu das Standardwerk von Richard Pipes, Die Russische Revolution, 3 Bde., Berlin 1992/93.

473 Pipes, Richard, Die Russische Revolution, a. a. O., Bd. 2, S. 835.

474 Hobsbawn, Eric, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Mün-chen/Wien 1995, S. 91.

475 Selbstverständlich war die Oktoberrevolution „mehr als ein Staatsstreich einer Handvoll gewaltbereiter Revolutionäre. Sie resultierte aus ungelösten Problemen des Russischen Reiches, den Versäumnissen seiner Regierungen, der Unfähigkeit und Reformunwillig-keit der letzten Zaren und aus dem verlorenen Weltkrieg 1914 – 1917.“, Markus Wehner, Stalinismus und Terror, in: Stefan Plaggenborg (Hrsg.), Stalinismus. Neue Forschungen und Konzepte, Berlin 1998, S. 365 – 390, hier: S. 366.

476 „Das Proletariat, das die Bolschewiki als Stütze ihrer Herrschaft betrachteten, war – auf das ganze Land bezogen – eine kleine Minderheit der russischen Bevölkerung. 1913 machte es 2,5 von 130 Millionen Einwohnern aus.“ M. Wehner, a. a. O., S. 366.

Im Dokument Politik und Film in der DDR (Seite 161-200)