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Die Rosa-Luxemburg-Stiftung – Stand der Gerechtigkeitsdebatten

Im Dokument Rosa-Luxemburg-StiftungManuskripte 63 (Seite 85-89)

Theorie und Praxis in den USA und Großbritannien

4. Social Justice in der Bundesrepublik: Realitäten und Möglichkeiten Wenn wir die Frage nach der Übertragbarkeit des Social Justice-Projekts aus den USA

4.5. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung – Stand der Gerechtigkeitsdebatten

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung »gibt Impulse für selbstbestimmte gesellschaftliche po-litische Aktivität und unterstützt das Engagement für Frieden und Völkerverständi-gung, für soziale Gerechtigkeit und ein solidarisches Miteinander.«76So wie in dieser Zielformulierung gibt es in der konkreten Politik- und Publikationspraxis, bezogen auf die Gerechtigkeitsdebatte, eine Tendenz zur Reduzierung auf »soziale Gerechtigkeit«

in einem sozialpolitischen und ökonomischen Sinne.77 Christoph Spehr und Rainer Rilling (2005) denken in ihrem Standpunktepapier den Gerechtigkeitsbegriff ein Stück weit über die Ökonomie hinaus. Sie schlagen vor, die Verteilungsgerechtigkeit um weitere Gerechtigkeitsaspekte zu erweitern und benennen diese als: Anerkennungsge-rechtigkeit, AushandlungsgeAnerkennungsge-rechtigkeit, Selbstbestimmungsgerechtigkeit (ebd.). Da-bei weisen sie auf die Notwendigkeit hin, ein demokratiepolitisches Projekt auch als herrschafts- und machtkritisches zu betreiben, ohne dass sie dies auf die Herr-schaftsproblematik im Projekt selbst beziehen. Um die grundsätzliche Ablehnung je-der Diskriminierung geht es Spehr und Rilling in diesem Papier ebenfalls, nämlich darum, dass ein linkes Projekt »sensibel ist für jede Form von Abwertung der Men-schen und dagegen Front macht« (Spehr/Rilling 2005, 6). Sehr viel deutlicher und die realen Folgen von Diskriminierung und Gewalt in Geschichte und Gegenwart sowie die Anfälligkeit aller Menschen für diese inhumanen Praktiken bedenkend, formuliert Michael Brie: »Der Blick auf die Zertrümmerung menschlichen Lebens in der Ge-schichte und die mühseligen Versuche, die Diskrepanz zwischen banalsten Ursachen und furchtbarsten Wirkungen zu erinnern und nicht einfach nur hinzunehmen, führt keineswegs dazu, vor neuen Rückfällen in Barbarei gefeit zu sein. Eine der

wichtig-75 At this schools students are safe from … violence and racism … These kids are colonial subjects; they can’t be fully human, they have to be survivors. We want to create a place where students feel they can learn their history, share their lives and get support. But we are not a social service agency. That’s about creating dependency, cry-ing on shoulders, therapy. This school is about empowerment.

76 Vgl. Ziele der RLS: http://www.rosaluxemburgstiftung.de. Es fehlt die Formulierung eines Zieles, mit dem sich ausdrücklich gegen jede Form der Diskriminierung und Herabsetzung von Menschen ausgesprochen wird.

77 Die meisten Publikationen zum Kontext »Gerechtigkeit« fokussieren diese Felder, vgl. Zademach 2003;

Klein/Wuttke 2004; Tandon 2002; Wardenbach 2003; Hopfmann 2003; Plener 2001.

An dieser Schule sind die SchülerInnen sicher … vor Gewalt und Rassismus … Diese Kinder sind kolonisierte Subjekte; sie können nicht das volle Mensch-Sein le-ben, sie sind Überlebende. Wir wollen einen Ort schaffen, an dem die SchülerInnen merken, dass sie etwas über ihre eigene Geschichte lernen können, dass sie ihre Le-benserfahrungen miteinander teilen können und dass sie unterstützt werden. Aber wir sind keine Sozialarbeitsagentur. Das würde Abhängigkeit, den Ruf nach der breiten Schulter, nach Therapie bedeuten. Diese Schule arbeitet mit der Ermutigung zu politischem Engagement. (Therese Quinn: On a mission)75

sten Aufgaben der Gegenwart dürfte es sein, sich zu einer Sensibilität gegenüber der Barbarisierung zu erziehen, Sensorien auszubilden, die das unglaubliche Gefälle zwi-schen Taten und Folgen überhaupt wahrnehmbar machen und dabei Schmerz hervor-rufen. Eine solche Selbsterziehung würde das Erklärbare auf das Nicht-Hinnehmbare von Diskriminierung, Entwürdigung, Ausbeutung, Unterdrückung und Vernichtung von Menschen beziehen […]« (Brie o. J.).

Der Zukunftsbericht der Rosa-Luxemburg-Stiftung ist ein weiteres Beispiel für die Dominanz der ökonomischen Sichtweise auf die Gesellschaft. Auch wenn hier andere Aspekte angesprochen werden, so besteht die Grundtendenz darin, die gesellschaftli-chen Probleme durch ihre ökonomische Strukturierung zu betrachten. Das ist dort, wo es tatsächlich um solche Fragen geht hilfreich. Es macht auch Sinn, diesen Aspekt als einen Aspekt unter anderen Ungerechtigkeitsthemen zu formulieren: »Eine Politik der Gerechtigkeit muss erstenssichern, dass jede und jeder Einzelne über jene politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Güter verfügt, die ihm Wahrnahme der durch die Völkergemeinschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verkündeten Grundrechte erlaubt. Die Sicherung der Partizipation aller Menschen unabhängig von Wohnort, Herkunft, Geschlecht, Ethnie usw. an diesen Gütern ist das primäre Ziel ei-ner Politik der Gerechtigkeit. Eine Politik der Gerechtigkeit muss zweitensvor allem eine Politik der Vermehrung dieser Grundgüter menschlichen Lebens sein […]« (Klein 2003, 113). Ab hier werden noch zwei weitere Forderungen erhoben, der Abbau von sozialen Ungleichheiten und die Forderung nach Partizipation derjenigen, »die diskri-miniert und benachteiligt sind« (ebd, 114). Diese Beschreibungen sind sehr nah an So-cial Justice-Definitionen und Forderungen. Im Bericht selbst gewinnen sie aber keine Realität, die konkreten Diskriminierungen werden nicht erfasst, statt dessen bleibt der Bericht auf eine ausführliche Beschreibung ökonomischer und sozialpolitischer Zu-sammenhänge beschränkt.

Die Idee eines umfassenderen Gerechtigkeitsbegriffs und -denkens ist in der Rosa-Luxemburg-Stiftung präsent. Die Umsetzung in alle Politik- und Handlungsfelder der Stiftung hinein, sowie eine gleichberechtigte Verknüpfung der unterschiedlichen Aspekte von Gerechtigkeit und eine Reflexion von »Social Justice« stellt noch eine Lücke dar.

5. Zusammenfassung

Von den USA ausgehend, mit parallelen Entwicklungen z. B. in Großbritannien, Ka-nada, Australien, hat sich der Begriff Social Justice zu einem Identifikationsmerkmal neuer sozialer Bewegungen und zu einem politischen Projekt entwickelt. Der gemein-same Bezugspunkt liegt dabei auf der Thematisierung von Herrschaft und ihren sämt-lichen diskriminierenden Praxen sowie auf der Organisierung alternativer sozialer und humaner Praxen von Teilhabe und Anerkennung. Konservative und liberale Kritiker

bleiben in ihrer Argumentation bezüglich Social Justice genau der Tradition verhaftet, nämlich der Reduzierung und Fokussierung auf die Ökonomie, die die neuen Social Justice-orientierten Bewegungen explizit überwinden wollten und tatsächlich hinter sich gelassen haben.

Social Justice konstituiert sich aus dem Ineinanderfließen von Theorie und Praxis von Gerechtigskeits- und Social Justice-Ansätzen sowie Community Organizing- und anderen politischen Partizipationskonzepten. Sowohl der Bezug auf radikalphiloso-phische Gerechtigkeitsphilosophien als auch auf Community Organzing bedeuten, dass die Auseinandersetzung mit Macht und Herrschaft und deren realen Konsequen-zen für alle gesellschaftlichen Bereiche und das konkrete Leben der Individuen im Zentrum stehen. Das organisierte politische Handeln zielt in Social Justice orientier-ten Bewegungen und Organisationen auf die Herstellung einer konkreorientier-ten Erfahrung der Überwindung und Angreifbarkeit von Unterdrückungs- und Diskriminierungsver-hältnissen und eine daraus abgeleitete Hoffnung und Vision der unendlichen Repro-duzierbarkeit dieser Veränderung produzierenden Erfahrungen in allen anderen Berei-chen, mit Anderen und für Andere.

Social Justice repräsentiert ein ideelles Verbindungselement zwischen weltan-schaulich und politisch-praktisch unterschiedlich ausgerichteten Organisationen und Institutionen. Deren Handeln bezieht sich aber immer und ganz grundsätzlich auf die Arbeit mit Menschen und für Menschen, die von gesellschaftlichen Diskriminierungs-strukturen direkt und indirekt betroffen sind. Dabei spielt Bildungsarbeit auf allen Ebenen von Social Justice orientierten Organisationen und Bewegungen zum einen die Rolle der Herstellung von Bewusstheit und Wissen über Diskriminierung und ihr Zu-standekommen in Herrschafts- und Machtkontexten und zum anderen die Rolle der Aktivierung und der konkreten methodischen Ausbildung im Organisieren von Politik und im Organisieren des Nachdenkens darüber, was getan werden muss oder getan worden ist. Selbstreflexion ist in Social Justice Prozessen zuallererst die Erfahrung, dass die Menschen zutiefst von den gesellschaftlichen Strukturen tangiert sind und dass ihre jeweiligen ganz individuellen Erfahrungen im politischen Miteinander-Han-deln und im politischen Sich-Aufeinander-Beziehen ineinander fließen und gerade in ihrer Kenntlichkeit als individuelle Erfahrungen kollektive Effekte produzieren.

In der Bundesrepublik existieren zahlreiche gerechtigkeitsorientierte Initiativen in allen Feldern der Gesellschaft sowie breite Debatten und Bezüge um den Begriff »Ge-rechtigkeit«. Zugleich existieren einerseits unter dem Stichwort »Interkulturalität«

oder »Diversity« (und ähnliche Begriffe) subsumierbare, unterschiedliche Projekte ge-gen Diskriminierunge-gen unterschiedlicher Form und zum anderen Initiativen, die sich mehr um den Begriff »soziale Gerechtigkeit«, im Sinne sozialpolitischer und ökono-mischer Schwerpunktsetzungen, gruppieren lassen. Social Justice-orientierte Projekte, die alle Ebenen von Ausgrenzung in der Gesellschaft zusammendenken, Verbindungen zwischen diesen herstellen und aktiv Alternativen in die Gesellschaft tragen, gibt es noch wenige.

Möglicherweise könnte als Brückenbildung zwischen sozialer Gerechtigkeit in ei-nem ökonomischen und sozialpolitischen Verständnis und social justice als darüber hinaus gehendes Denken von Anerkennung und Partizipation die Auseinandersetzung mit der amerikanischen Diskussion und Initiative um Klassismus (Classism) bilden.

Diese relativ junge Entwicklung begreift Klassismus als eigenständige Diskriminie-rungsform aufgrund des sozialpolitischen Status’. Gleichzeitig wird jedoch der Bezug zu anderen Diskriminierungsformen hergestellt. Im folgenden Kapitel III möchte ich den Social Justice-Ansatz zum Thema Klassismus darstellen.

III Klassismus: Institutionelle, individuelle

Im Dokument Rosa-Luxemburg-StiftungManuskripte 63 (Seite 85-89)