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Die Lutherdarstellung in der Theologia experimentalis (1714)

Im Dokument Luther-Rezeption bei Gottfried Arnold (Seite 148-152)

VI. Die Lutherinterpretation des späten Arnold

3. Die Lutherdarstellung in der Theologia experimentalis (1714)

Theologia experimentalis (1714) ist die letzte Schrift Arnolds. Diese Schrift wurde von seiner Witwe nach Arnolds Tod herausgegeben. Sie besteht aus Arnolds Predigtmanuskripten der Perleberger Zeit vom Oktober 1710 bis Anfang 17141000. Sie ist „eine dogmatisch geordnete Predigtsammlung für das ganze Jahr“1001. Diese Schrift entfaltet Arnolds mystische Erfahrungslehre.

In dieser Schrift findet sich keine explizite Lutherdarstellung. Allerdings wird Luther im Zusammenhang mit dem Erfahrungsbegriff mehrmals zitiert.1002 Es ist sehr auffällig, dass Arnold sich schon in der Einleitung zurTheologia experimentalis außergewöhnlich oft sowohl auf die frühen Schriften Luthers als auch auf die späten Schriften Luthers beruft, um seine Erfahrungstheologie zu entfalten. Im Folgenden werden Arnolds

995 GOTTFRIEDARNOLD, Vorbericht, in: Kirchenpostille, §28.

996 GOTTFRIEDARNOLD, Vorbericht, in: Kirchenpostille, §29.

997 GOTTFRIEDARNOLD, Vorbericht, in: Kirchenpostille, §30.

998GOTTFRIEDARNOLD, Vorbericht, in: Kirchenpostille, §30.

999 GOTTFRIEDARNOLD, Vorbericht, in: Kirchenpostille, §32.

1000 VOLKERKEDING, Theologia experimentalis: Die Erfahrungstheologie beim späten Gottfried Arnold, Münster 2001, S. 96.

1001 JÜRGENBÜCHSEL, Gottfried Arnold. Sein Verständnis von Kirche und Wiedergeburt, S. 189.

1002 VOLKERKEDING, a.a.O., S. 246.

Lutherzitaten in der Einleitung übersichtlich in Tabellen angeordnet:

Jahr Luthers Schriften 1519 Galaterkommentar 1519-21 Operationes in Psalmos 1521 Magnificat

1522 Predigt von 1522 über Joh 4,46bff.

1523 Predigt aus der Sommerpostille von 1526 (1523) am 7. Sonntag nach Trinitatis über Mk 8,1-10

1525 Predigt aus der Fastenpostille von 1525 über Luk 8,4-15; Phil 2,5-11 1529 Predigt von 1529 am 19. Sonntag nach Trinitatis über Mt 9,1-8 1530 Auslegung der ersten 25 Psalmen auf der Coburg 1530

1530-32 Wochenpredigten in Wittenberg 1530-32 über das 6,7 und 8 Kapitel des Johannes

1531 Wochenpredigt Advent 1531 zu Joh 8,34-38

1532 Predigt von 1532 am 3. Sonntag nach Trinitatis über Lk 15,1ff 1534 Predigt am Mittwoch nach Ostern 1534 über Ko 3,1ff

1535 Galaterkommentar von 1535 (1531)

1535 Epistel am 4. Sonntag nach Trinitatis 1535 über Röm. 8,18-22 1539 Vorrede zur Wittenberger Ausgabe Deutsch

1540 Kommentar zu den Stufenpsalmen 1540 (1532/33) 1535-45 Genesiskommentar

** Luthers Marginalglosse zu Joh 3,33; 15,9; Röm 5,4; I Kor 2,15; 1 Joh 5,8;

Gen 23,30; 32,24; Jes 28,19; Jona 2,5

Wie es in den Lutherzitaten Arnolds in dieser Einleitung gesehen wird, gibt Arnold die Unterscheidung zwischen frühen und späten Luther ganz auf. Hier zeigt sich Lutherverständnis im Blick auf Erfahrungstheologie.

In der Dissertation Theologia experimentalis: Die Erfahrungstheologie beim späten Gottfried Arnold (2001) hat Volker Keding das Wesen der Erfahrung Arnolds als

‚Unmittelbarkeit, Innerlichkeit und Wachstumsprozess‘ beschrieben. 1003 Dieses Erfahrungsverständnis deutet sich schon im Titel der Theologia experimentalis an.1004 Das Stichwort ‚experimentalis‘ ist grundlegend für die Zielsetzung dieser Schrift und

1003 VOLKERKEDING, a.a.O., S. 208-211.

1004 Dünnhaupt, Nr. 68. Der vollständige Titel lautet: „Theologia Experimentalis, / Das ist: / Geistliche / Erfahrungs-Lehre / Oder / Erkäntniß und Erfahrung / Von denen vornehmsten Stücken / Des Lebendigen Christenthums / Von Anfang der Bekehrung biß zur Vollendung“, Franckfurt am Mayn 1715.

die Schwerpunkte der Darstellung: Die Erfahrung ist geistlich und innerlich. Schon in der Einleitung gibt Arnold eine Definition des geistlichen Erfahrungsbegriffes: „Was doch eigentlich die Erfahrung im Geistlich sey? […] Im Geistlichen aber ist sie [Erfahrung] / so ferne sie von der blossen Wissenschafft einer Sache ausser uns unterschieden wird / eine solche geistliche Empfindung oder Befindung / darinn ein Wiedergebohrner geistliche Dinge wircklich aus dero Besitz / Genuß und Gemeinschafft erkennet / inne wird / und nach Gottes Wort beurtheilet / indem er vielerley Anmerckungen in der Ubung sammlet / und darinn zu göttlicher Gewißheit kommt.“1005 Hier sollen einige Aspekte seines Erfahrungsbegriffes entfaltet werden:

Erstens, die geistliche Erfahrung ist eine innerliche Glaubensgewissheit der Wiedergeborenen.1006 Diese Glaubensgewißheit ist innerlich im ‚Genuss‘ mit Gott und in der Teilhabe an der göttlichen Kraft möglich. Die Wirkungsursache dieser geistlichen Erfahrung aber ist Arnold zufolge der Heilige Geist1007, der die Liebe Gottes „in die Hertzen ausgiessen“ „und also dero Gewißheit und Süssigkeit zu schmecken geben“1008 kann. Arnold erwähnt hier die Aussage Luthers aus dessenVorwort des Kommentars zu den Stufenpsalmen (1540): „sondern in Gebrauch und Erfahrung / welche nicht menschliche Vernufft / sondern der H. Geist regieret und treibet“1009. Im inneren Kern der Erfahrung geht es also nach Arnold um die mystische Begegnung der Seele mit Gott durch den Heiligen Geist. Besonders signifikant sind die Stichwörter ‚Schmecken, Süße, Genießen und Empfindung‘. Das Empfinden und Schmecken der Süße Gottes findet in einer mystischen Vereinigung Gottes mit der Seele statt: „Die Vereinigung mit ihm [Gott] ist das höchste Ziel aller göttlichen Wirckungen“.1010 Die Seele, die die Liebe Gottes innerlich genießt und erfährt, wird entzündet zur Liebe Gottes und wendet sich zu Gott hin.1011

Zweitens, die geistliche Erfahrung ist „nöthig und unentbährlich sowohl zur Erkäntniß /

1005 GOTTFRIEDARNOLD, Theologia experimentalis, Einleitung, §11.

1006 Vgl. HANS-MARTIN BARTH, Theologia experimentalis: Eine Erinnerung an Gottfried Arnolds Plädoyer für die Erfahrung, in: NZSTh 23 (1981), S. 122.

1007 GOTTFRIEDARNOLD, Theologia experimentalis, Einleitung, §15. „der H. Geist ist eigentlich der rechte Brunn und die Hauptursache aller lebendigen Erfahrung / durch welches Gnade wir allein wissen können / was uns von GOtt aus Gnaden geschencket ist / Es selbst muss GOttes Liebe in die Hertzen ausgiessen / und also dero Gewißheit und Süssigkeit zu schmecken geben“.

1008 GOTTFRIEDARNOLD, Theologia experimentalis, Einleitung, §15.

1009 GOTTFRIEDARNOLD, Theologia experimentalis, Einleitung, §15.

1010 GOTTFRIEDARNOLD, Theologia experimentalis, Postille, Kap. 15,5.

1011 GOTTFRIEDARNOLD, Theologia experimentalis, Einleitung, §12. „Sie [die geistliche Erfahrung] ist eine wirckliche Erkäntniß besonderer göttlicher Dinge / welche man durch den geistlichen Sinn oder Empfindung erlanget / und dadurch ihre Warheit und Gewißheit in sich selbst durch Gottes Gnade empfindet und schmecket. […] Und sonderlich in der geheimen Gottesgelehrtheit ist die Erfahrung eine Empfindung des Guten in GOtt / welche man durch die vereinigende Liebe mit ihm erlanget“.

als zur Ausübung des gantzen Christenthums“1012. Nach Arnolds Meinung stellte auch der späte Luther noch die Notwendigkeit der geistlichen Erfahrung in einer Marginalglosse zu I Kor 2,15 fest.1013 Aber eine solche Erfahrung wird einem nicht mit einem Mal zuteil, sondern sie wird über einen längeren Zeitraum hin erworben. Sie ist ein Lernprozess, ein geistliches Wachstum.1014

Drittens, in diesem Lernprozess, in diesem geistlichen Wachstum spielt die Anfechtung eine wichtige Rolle. Nach Arnolds Auffassung lehrt die Anfechtung „nicht nur das Wissen / sondern auch das Fühlen und Erfahren der Gewißheit / Warheit / Krafft und Trosts im Wort“1015. Hier lernte Arnold besonders Luthers Theologie bezüglich der

‚Anfechtung‘1016 tiefer zu verstehen. Die Anfechtung bringt dem Menschen die Erfahrung der biblischen Zeugen nahe. In diesem Sinn ist die Anfechtung auch „ein Schlüssel zum Schriftverständnis“1017. Solche Gedanken findet Arnold in Luthers Römerbriefvorlesung in der Auslegung zu Röm 8,231018, in der Psalmenvorlesung und vor allem im Genesiskommentar1019. Damit bindet Arnold das äußere Wort mit der inneren geistlichen Erfahrung zusammen.

Viertens, die geistliche Erfahrung ist Arnold zufolge nicht nur notwendig „zur Gewißheit der göttlichen Erleuchtung“, sondern auch „zur wahren Uberzeugung und Erkäntniß selbst“1020. Hier verknüpft Arnold die Erfahrung mit der Erkenntnis. Ohne Erfahrung gibt es keine wahre Erkenntnis. Dieses Merkmal findet Arnold in Luthers Magnificat (1521).1021 Arnold lehnt sich hier an die Mystik des frühen Luther an.

Fünftens, die geistliche Erfahrung ist auch notwendig, die Heiligen Schrift richtig zu

1012 GOTTFRIEDARNOLD, Einleitung, in: Theologia experimentalis, Frankfurt 1714, §25.

1013 GOTTFRIEDARNOLD, Einleitung, in: Theologia experimentalis, Frankfurt 1714, §29. „So gar nöthig ist solche geistliche Erfahrung / daß auch Lutherus I. Cor. II, 15. Bekennet: Der geistliche Mensch verstehe / fühle / finde / und sey gewiß“.

1014 GOTTFRIEDARNOLD, Theologia experimentalis, Einleitung, §14. „daß nemlich der göttliche Glaube in dem Licht des Heil. Geistes aus so manchen widerholten und wol erkanten Exempeln und Proben eine gemeine Regel lernet ziehen“.

1015 GOTTFRIEDARNOLD, Einleitung, in: Theologia experimentalis, Frankfurt 1714, §22.

1016 VOLKERKEDING, Theologia experimentalis: Die Erfahrungstheologie beim späten Gottfried Arnold, S.

120ff.

1017 VOLKERKEDING, a.a.O., S. 146.

1018 Vgl. WA 56, S. 387-388; RUHLAND, Luther und die Brautmystik nach Luthers Schrifttum bis 1521, S.

71-74.

1019 GOTTFRIEDARNOLD, Theologia experimentalis, Einleitung, §8. „es sey wahr / was mir im Wort angetragen wird / und bin nicht nur aus der H. Schrifft / sondern auch aus der Erfahrung bestättiget“.

1020 GOTTFRIEDARNOLD, Einleitung, in: Theologia experimentalis, Frankfurt 1714, §35.

1021 GOTTFRIED ARNOLD, Einleitung, in: Theologia experimentalis, Frankfurt 1714, §36. „Erst setzet David das Schmecken / denn das Sehen. Darum daß sich NB. Nicht erkennen läst ohne eigene Erfahrung und Fühlen; zu welcher doch niemand kommt / er traue denn GOTT von Hertzen – Derselbe wird Gottes Wort in ihm erfahren / und also zu der empfindlichen Gütigkeit / und NB. Dadurch zu allen Verstand und Erkänntniß kommen. Ja er preiset die Erfahrung als eine eigene Schule des Heil. Geistes / darinn er lehre / und ausser welcher nichts gelehret werde / als nur Schein / Wort und Geschwätz. Und dis ist so gar gewiß und unfehlbar / daß keine wahre Erkäntniß bestehen kan / sie sey denn mit Erfahrung verknüpffet“.

verstehen. Hier zitiert Arnold ebenfalls Luthers Magnificat (1521).1022 Diese vom Heiligen Geist vermittelte mystische Innerlichkeit wie auch die geistliche Erfahrung findet Arnold beim späten Luther wieder im Kommentar zu den Stufenpsalmen (1540)1023, in der Predigt zur Epistel am 4. Sonntag nach Trinitatis 1535 zu Röm 8,18-22 (1535)1024 und in der Marginalglosse zu Jacobs Kampf Gen 32,241025.

Zusammenfassend ist der dem Erfahrungsbegriff Arnolds zugrunde liegende Kernpunkt die innerliche, mystische Vereinigung der Seele mit Gott. Sie hat eine ästhetische Seite, sie ist ein Empfinden, Schmecken und Fühlen mit geistlichem Sinn. In diesem Sinn ist der Erfahrungsbegriff Arnolds eine innerliche Empfindlichkeit. Zu „eine[m]

rechtschaffenen vollkommenen Menschen“1026 wird man durch Erfahrungen von Anfechtung und Kreuz. Die geistlichen Erfahrungsdinge sind Gottes Wirkungen im Herzen des Menschen, „wodurch das göttliche Bild und die erste Unschuld nach und nach herwiedergebracht werden muß“1027. Das Ziel der Erfahrungstheologie beim späten Arnold ist die innerliche und mystische Gottesbegegnung zur Wiederherstellung der Ebenbildlichkeit.1028

Im Dokument Luther-Rezeption bei Gottfried Arnold (Seite 148-152)