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3. Das europäische Bedrohungsbewusstsein von 1890 bis 1914

4.7 Die „Gelbe Gefahr“ und europäischer Integrationsgedanke

Unis“583 aufgerufen hatte, hinterließ jedoch Leroy-Beaulieu keine konkreten Vorschläge, wie eine Integration Europas realisiert werden könnte. Kennzeichnend für die Art und Weise mit der der Wiener Jurist Dr. Max Kolben auf die Notwendigkeit eines Zusammenschlusses der europäischen Nationen im Hinblick auf eine amerikanische Konkurrenz auf wirtschaftlichem Gebiet hinwies, ist seine Relativierung der Bedeutung einer deutsch-französischen Verständigung als Voraussetzung für die Verwirklichung einer europäischen Einigung.584

Die ökonomische Entwicklung in den USA hatte bewirkt, dass auch europäische Schriftsteller intensiver über eine Einigung des europäischen Kontinents nachzudenken begannen. Symptomatisch hierfür waren Äußerungen Ludwig Fuldas und Emil von Wolzogens.585 Insbesondere Wolzogen fasste eine Integration des europäischen Kontinents nicht als bloßen Wunsch, sondern als Notwendigkeit auf, womit er einer weit verbreiteten Überzeugung Ausdruck gab.

Bedrohung Europas. Auf die Wirkung der sich verbreitenden Bedrohungsangst vor einer

„Gelben Gefahr“ auf Pläne für die Errichtung eines europäischen Staatenbundes hat schon 1904 Louis Bosc hingewiesen.588

Die Auseinandersetzung mit der „Gelben Gefahr“ hatte Auswirkungen, ähnlich der Debatte über die „amerikanische Gefahr“, auf die Ausprägung des Bewusstseins von der Notwendigkeit einer europäischen Einigung. Die Integration Europas wurde hier als das erfolgversprechendste Mittel der Behauptung der europäischen Vormachtstellung in der Welt dargestellt wie auch unerlässlich zur Selbstbehauptung Europas. Symptomatisch hierfür ist beispielsweise der 1895 erschienene Artikel des französischen Literaturhistorikers Emile Faguet, in dem die drohenden Auswirkungen der Wandlungen im Fernen Osten für Europa aufgegriffen wurde.589 Lebhafte Aufmerksamkeit schenkte dem Gedanken von der Notwendigkeit einer europäischen Einigung zur Abwehr der „Gelben Gefahr“ auch der deutsche Diplomat Maximilian Brandt.590 Für ihn handelte es sich bei einer Integration des europäischen Kontinents auch um eine Art von „Vereinigten Staaten zur Verteidigung Europas“.591 Von ausschlaggebender Bedeutung für den Einigunsgedanken war, wie bereits an anderer Stelle nachgewiesen, der chinesisch-japanische Krieg von 1894/95. Begründen lässt sich diese These, neben dem Europagedanken von Faguet und Brandt, auch mit dem Streben eines französichen Autors G. Saint-Aubin nach einer Einigung Europas „contre les menaces des jaunes et des noires“592. Der Zusammenschluss der europäischen Staaten bot zudem nach Überzeugung des französischen Publizisten Paul Lefébure die beste Verteidigungsmaßnahme gegen eine asiatische Bedrohung: „A l‟union des puissances jaunes et peut-être de l‟Inde devenue libre, l‟Europe ne pourra évidement résister qu‟en oubliant ses divisions.“593 Auf die notwendige Einigung des europäischen Kontinents im Hinblick auf den drohenden Verlust der europäischen Vormachtposition infolge der politischen Emanzipationsprozesse in Japan hat

588 Bosc, Zollunionen, S. 234.

589 Siehe Emil Faguet, Le Prochain Moyen Âge, in: Le Journal des Débats, 25. 7. 1895, Jg. 107, S. 2.

590 Braun ist der „geistige Vater“ des berühmten allegorischen Bildes „Völker Europas wahrt eure heiligsten Güter“, welches auf Antrag Wilhelms II. von einem deutschen Künstler namens Knackfuß gemalt wurde. Zur Entstehungsgeschichte des Bildes sowie der Haltung Wilhelms II. zum Problem der „Gelben Gefahr“ vgl.

Gollwitzer, Die „Gelbe Gefahr“, S. 210 ff. Aufschlussreich für den letztgenannten Aspekt sind zudem: Iikura Akira, The „Yellow Peril“ and its influence on Japanese-German relations, in: Spang/ Wippich (Hrsg.), Japanese-German Relations, 1895–1945. War, diplomacy and public opinion, London/New York 2006, S. 80–

97; Rolf-Harald Wippich, The Yellow Peril: Strategic and ideological implications of Germany‟s East Asian policy before World War I: The case of William II„, in: Sophia International Review, 1996, 18, S. 57–65; Ute Mehnert, Deutschland, Amerika und die „Gelbe Gefahr“. Zur Karriere, S. 169 ff.; J.-P. Lehmann, The Image of Japan: From Feudal Isolation to World Power 1850–1905, London 1978, S. 149 f.

591 Maximilian Brandt, Die Zukunft Ostasiens, Stuttgart 1895, S. 80.

592 G. Saint-Aubin, L‟Avenir de la race blanche, in: Revue des Revues, 15. 7. 1894, Bd. 10, Jg. V, S. 157.

593 Lefébure, Y a-t-il lieu, S. 130.

1908 ein deutscher Autor, Robert Stein, hingewiesen.594 Ein wortgewaltiger Vertreter der Idee eines Zusammenschlusses der europäischen Staaten als erfolgversprechendste Maßnahme im Schutz vor der wirtschaftlichen Konkurrenz der Ostasiaten war der französische Friedensnobelpreisträger Constant d‟Estournelles. Er verteidigte diese Idee insbesondere in seinen Artikeln, die im Zeitraum zwischen 1896 und 1902 erschienen.595 Auch Paul Mieille setzte sich um 1900 für eine Einigung des europäischen Kontinents als Schutzmaßnahme gegen die „amerikanische“ und „Gelbe Gefahr“ ein. Mieille muss zu den Kulturpessimisten dieser Epoche gezählt werden. Ein Ausdruck seiner Zukunftsängste ist seine Zukunftsvision von Europa, die 1900 in der Juni-Ausgabe der Zeitschrift „Revue des Revues“ veröffentlicht wurde. Hier ging Mielle auf die Vorschläge für einen Zusammenschluss Europas ein, die von dem britischen Publizisten William T. Stead und dem französischen Historiker Anatole Leroy-Beaulieu formuliert worden waren. Sowohl Stead als auch Leroy-Beaulieu gehörten zu den Propagandisten einer Einigung Europas als Barriere gegen die wirtschaftliche Bedrohung seitens der USA. Mieille selbst betrachtete außerdem auch den wirtschaftlichen Aufschwung Japans als einen bedeutenden Bedrohungsfaktor für die europäische Zukunft. Seine Auffassung ist aus mehreren Gründen repräsentativ für den europäischen Einigungsgedanken nach 1890. Neben der Betonung einer „amerikanischen“ und „Gelben Gefahr“ weist der Autor auf die verderbliche Rolle des Militarismus für das künftige Schicksal Europas hin. In seinem Artikel „Patriotisme et internationalisme“ findet sich die folgende Begründung für die Notwendigkeit einer Einigung des europäischen Kontinents:

„L‟Europe divisée et hérissée de barrières de douanes est incapable de lutter, non seulement avec les jeunes Amériques, superieurement outillées et douées d‟un genie de commerce et d‟invention extraordinaire, mais encore avec les Asiatiques du Japon qui se montrent déjà nos rivaux sur tous les marchés. Encore cinquante années de cette ruineuse paix armée et l‟Europe entière ne sera plus qu‟une dependence commerciale et le debouche industriel de l‟Amérique et du Japon.“596

Die Idee einer Einigung des europäischen Kontinents, hervorgerufen durch Bedrohungsgefühle gegenüber der „Gelben Gefahr“, fand im Jahrzehnt zwischen dem chinesisch-japanischen Krieg von 1894/95 und der Zeit unmittelbar nach dem Ausgang des Krieges zwischen Japan und Russland von 1904/1905 ihre weiteste Verbreitung. Jedoch stößt

594 Robert Stein, Die Vereinigten Staaten von Europa, Berlin 1908, S. 3 ff. Zum Europa-Plan von Stein siehe Duchhardt, Die deutsche Europa-Publizistik, S. 207 f.

595 Siehe d‟Estournelles de Constant, Le Péril prochain. L‟Europe et ses rivaux, in: Revue des Deux Mondes, 1. 4.

1896, Jg. LXVI, Bd. 134, S. 651–686 ; ders., Concurrence et chômage. Nos rivaux, nos charges, notre routine, in: Revue des Deux Mondes, 15. 7. 1897, Jg. LXVII, Bd. 142, S. 407–446; ders., Le problème chinois, in: Revue Politique et Parlementaire, 10. 11. 1900, Bd. XXVI, S. 217–241; E. Théry, Le Péril jaune, Paris 1901 (Die Studie enthält ein Vorwort von Constant d‟Estournelles); ders., Vers la fédération européenne, in: Le Temps, 14. 12.

1902, Jg. 42, Nr. 15158, S. 5.

596 Mieille, Patriotisme et internationalisme, S. 567.

man auch noch am Vorabend des Ersten Weltkrieges auf europäische Einigungspläne, die den Zusammenschluss der europäischen Staaten als Schutzmaßnahme vor der asiatischen Bedrohung verlangten. Besonders aufschlussreiche Beispiele hierfür lieferten die deutschen Autoren Franz Heinrich Ploetzer und O. Appelt. Für Ploetzer stellten der Panasiatismus und die möglicherweise bevorstehende Einigung der asiatischen Völker die zentrale Gefahr dar.597 Seine Überlegungen wurden von dem Historiker Heinz Duchhardt wie folgt zusammengefasst:

„Die gelbe Rasse sei in einem ‚gewaltigen Kulturfortschritt„ begriffen. Wenn im Augenblick auch eine gelbe Gefahr noch nicht absehbar sei, könne sie sich doch schnell einstellen, sofern es nicht zu einer Völkerverbrüderung der Europäer komme. Denn werden die Asiaten nicht ihrerseits zu einer Völkerverbrüderung ihres Erdteils gelangen? Dies sei die eigentliche Gefahr. Die Vereinigten Staaten von Asien besäßen gegenüber den europäischen Einzelstaaten eine immense Überlegenheit. Nur die Vereinigten Staaten von Europa könnten ihnen Paroli bieten. Wer sich zuerst verbrüdere, der sei der Stärkere. Die Zersplitterung Europas werde die Asiaten geradezu ermuntern, sich zu verbrüdern und dann vielleicht sogar im Vollgefühl ihrer Kraft unter der Führung Japans Besitz von europäischen Landen ergreifen.“598

O. Appel hat die Begründung für die Notwendigkeit einer europäischen Einigung in der schnellen Modernisierung des japanischen Reiches und im Aufstieg des Panasiatismus gesehen.599