3.3 Spielarten des Referierens im Kriminalroman
3.3.5 Die attributive Verwendung von definiten Kennzeichnungen
Sehen wir uns nun die Donnellan’sche „attributive“ Verwendung von definiten Kennzeichnungen an, die ebenfalls dazu dient, die Eigenschaften eines Gegenstandes zu beschreiben. Aufgrund ihrer be-sonderen Rolle bei der strategischen Wissensvermittlung in Bezug auf die Täterfrage im Kriminal-roman verdient sie eine genauere Betrachtung. Keith Donnellan (1966, in Steinberg/Jakobovits 1971) wies als Erster auf die sogenannte attributive Verwendung von definiten Kennzeichnungen hin. Mit dem Beispielsatz Smith’s murderer is insane verdeutlicht er, dass man den Satz in sehr un-terschiedlichen Situationen äußern und dementsprechend die definite Kennzeichnung Smith’s
169 Auch die Namen von Sherlock Holmes und Dr. Watson tauchen oft in Form von ein Sherlock Holmes und ein Dok-tor Watson in anderen Kriminalromanen auf. In Agatha Christies Mit offenen Karten etwa bemerkt eine Figur über den textimmanenten Meisterdetektiv Hercule Poirot „Er sieht nicht aus wie ein Sherlock Holmes“ (169). Auch in Håkan Nessers Der Kommissar und das Schweigen sagt eine Figur zu Kommissar Van Veeteren: „wenn du wieder einmal einen Doktor Watson brauchst, stelle ich natürlich gern mein kleines Gehirn zur Verfügung“ (205). So wird durch diese Äu-ßerungen auf die beiden berühmten Figuren Bezug genommen, speziell auf ihr etabliertes Image als ‚scharfsinniger Detektiv‘ bzw. ‚geistig beschränkter, aber treuer Gehilfe des Detektivs‘, um dem Leser die Eigenschaften der jeweiligen Redegegenstände näherzubringen (‚einer wie Sherlock Holmes/Dr. Watson‘).
derer entweder referenziell oder attributiv gebrauchen kann: Wenn man weiß, wer der Täter ist, kann man sich mit der Äußerung auf eine bestimmte Person beziehen, die eindeutig identifizierbar ist (z.B. Jones, der des Mordes an Smith angeklagt ist). Hierbei wird die definite Kennzeichnung Smith’s murderer referenziell gebraucht. Weiß man dagegen nicht, wer der Täter ist, kann man sich mit der gleichen Äußerung auf eine Person beziehen, von der man nur weiß, was auf sie zutrifft (z.B.
dass diese Person Smith mit äußerster Brutalität ermordet hat). In diesem Fall wird die definite Kennzeichnung Smith’s murderer attributiv verwendet, und sie könnte mit den Worten ‚wer auch immer Smith ermordet hat‘ paraphrasiert werden.170 Zudem weist Fritz darauf hin, dass die attribu-tive Verwendung von definiten Kennzeichnungen (z.B. der Täter, der Mörder, der Mann, der die Familie umgebracht hat o.Ä.) besonders häufig vorkommt, wenn man über Kriminalfälle redet, denn in solchen Fällen findet man oft die charakteristischen Voraussetzungen für diese spezielle Verwendungsweise: „Man weiß, dass es jemanden gibt, auf den eine bestimmte Kennzeichnung zu-trifft (den Täter), aber man weiß nicht, wer es ist. Man kann aber sehr wohl über ihn reden, Hypo-thesen aufstellen und dergleichen“ (Fritz 1982, 178). Aus diesem Grund ist ein derartiger Gebrauch im Kriminalroman geläufig. Fasst man die klassische „Whodunit“-Frage als „Wer war der Tä-ter?“ auf, kann man die Suche nach dem unbekannten Täter den ganzen Roman hindurch quasi als die Suche nach dem Referenten der attributiv gebrauchten Kennzeichnung der Täter in der Ro-manwelt betrachten, bis man ihn endlich findet und die Kennzeichnung referenziell gebrauchen kann, um eindeutig auf ihn Bezug zu nehmen.
Diesbezüglich haben sich sogar einige krimispezifische Spielarten entwickelt, da die Täterfra-ge in den meisten Krimis für die Spannungserzeugung von zentraler Bedeutung ist und folglich auch der wohldurchdachte, attributive Gebrauch von Täterbezeichnungen zur Spannungserzeugung beitragen kann. Zunächst ist zu bemerken, dass zur Referenz bzw. Koreferenz auf den unbekannten Täter neben den geläufigen Täterbezeichnungen wie der Mörder, der Täter auch definite Kenn-zeichnungen wie „der Mörder der kleinen Gritli Moser“ (Das Versprechen von Friedrich Dürren-matt, 64) und der Lustmörder attributiv verwendet werden, die die allgemeinen Informationen be-züglich des Falls (z.B. über das Opfer, die Art des Mords) kennzeichnen. Eine krimitypische Spiel-art ist außerdem die attributive Verwendung von definiten Kennzeichnungen als Spitznamen des
170 Donnellans Unterscheidung zwischen dem referenziellen und dem attributiven Gebrauch von definiten Kennzeich-nungen wird von anderen Referenzforschern näher untersucht, die mit weiteren Beispielen illustrieren, wie deutlich sich die attributive Verwendung von der referenziellen Verwendung unterscheidet: Mit einer attributiven Verwendung meint der Sprecher ‚auf wen immer diese Beschreibung zutrifft‘, selbst wenn der gemeinte Gegenstand eventuell nur in einer möglichen Welt existiert. Zum Beispiel ist Mein Sohn soll auf keinen Fall Philosophie studieren (Vater 2005, 33) sinn-voll äußerbar, auch wenn der Sprecher (noch) keinen Sohn hat und von einem potenziellen bzw. möglichen Sohn in einer zukünftigen Welt spricht. Bei der Äußerung Der ehrliche Finder erhält eine Belohnung (Reis 1977, 125) ge-braucht der Sprecher, der etwas Wichtiges verloren hat, die Kennzeichnung der ehrliche Finder attributiv, nämlich im Sinne von ‚wer immer es sein wird‘, selbst wenn er zum Zeitpunkt der Äußerung nicht weiß, ob es überhaupt jemanden gibt, der seinen verlorenen Gegenstand gefunden hat (bzw. finden wird) und ihm diesen zurückbringen wird. Es wird also deutlich, dass man mit dem attributiven Gebrauch von definiten Kennzeichnungen auch auf Gegenstände Bezug nehmen kann, die in einer möglichen bzw. zukünftigen Welt existieren. Das heißt, die Existenz-Präsuppositionen beim referenziellen und attributiven Gebrauch definiter Kennzeichnung sind sehr unterschiedlich, denn beim attributiven Ge-brauch wird die Existenz eines potenziellen Referenten, der die verwendete Kennzeichnung in der realen, zum Zeit-punkt der Äußerung gegenwärtigen Welt erfüllt, nicht vorausgesetzt. Allerdings ist umstritten, ob die attributive Ver-wendung von definiten Kennzeichnungen streng genommen nicht doch referenziell ist (mehr dazu vgl. Vater 2005, 31ff., 101).
unbekannten Täters, die wichtige Informationen über ihn, insbesondere über seinen Modus Ope-randi, tragen. In Das Wittgensteinprogramm von Philip Kerr werden z.B. ein Serienmörder, der immer einen Hammer als Mordwaffe benutzt, als „der Hammermörder“ (10) und ein Lustmörder, der stets einen Lippenstift benutzt, um Obszönitäten auf die Leichen zu schreiben, als „der Lippen-stiftmann“ (11) bezeichnet. Dagegen löst eine attributiv gebrauchte Täterbezeichnung wie
„Lombroso-Mörder“ (ebd., 14) beim Leser sofort die Fragen aus, was oder wer Lombroso ist und wie der Begriff mit dem gesuchten Täter zusammenhängt. Eine derartige Verwendung macht den Leser neugierig und dient der strategischen Wissensvermittlung.
Eine andere Spielart der attributiven Verwendung von definiten Kennzeichnungen in Bezug auf die Suche nach dem Referenten steht in engem Zusammenhang mit der dynamischen Wissens-vermittlung über den unbekannten Täter: Entsprechend den im Laufe der Ermittlung über ihn ge-wonnenen Informationen (›clues‹) werden zur Koreferenz auch andere definite Kennzeichnungen (z.B. der Igelriese in Friedrich Dürrenmatts Das Versprechen und der Rücken in Åke Edwardsons Zimmer Nr. 10) attributiv gebraucht, die dem Prinzip der Ausdrucksvariation dienen und gewisser-maßen auch als Erinnerungsstütze für den Leser fungieren (vgl. Abschnitt 6.2.2.1). Darüber hinaus ist es bei der Suche nach möglichen Referenten gang und gäbe, dass in Analogie zur attributiven Verwendung von definiten Kennzeichnungen auch Eigennamen zur „relative identification“171 (Strawson 1959, 18) verwendet werden, um über den unbekannten Täter zu reden. Im Kriminalro-man heißt das, dass eine Person namens X, die in Zeugenaussagen eingeführt bzw. charakterisiert und in den meisten Fällen von den Ermittelnden als möglicher Täter betrachtet wird, nur im Rah-men der betreffenden Zeugenaussagen identifizierbar ist, sodass der Name X im Sinne von ‚diese Person, die angeblich X heißt und von der die Zeugen erzählen‘ zur Bezugnahme auf den unbe-kannten Täter gebraucht wird (vgl. Abschnitt 5.2.2).172 Eine weitere Spielart besteht etwa in der Nutzung der unbewussten Annahme des Lesers, der gesuchte Referent für den attributiv verwende-ten Ausdruck der Täter sei ein Mann, obwohl es sich sehr wohl um eine Täterin, mehrere Täter oder Täterinnen handeln kann. Eine solche Irreführung kann der Autor u.a. dadurch bewirken, dass er das Ermittlungsteam stets von unserem Mann reden lässt bzw. gezielt die Erwartungen von Sex and Crime aufbaut (vgl. Abschnitt 6.4.3).
Verbunden mit der Suche nach dem Referenzträger von attributiv gebrauchten definiten Kenn-zeichnungen wie der Täter, der Mörder und dergleichen ist ein abschließender Zuordnungsakt, durch den die Referenzidentität einer Figur mit dem gesuchten Täter festgestellt wird. Vor dem
171 Vgl. die folgenden Erläuterungen von Strawson (1959, 16ff.): „I may mention someone to you by name, and you may not know who it is“ (16) und „The identification is within a certain story told by a certain speaker. It is identifica-tion within his story; but not identificaidentifica-tion within history“ (18). Vgl. hierzu auch die Erklärung für „Hucke-pack-Referenz“ in Fritz 1982, 158.
172 Zur Veranschaulichung betrachten wir das folgende Beispiel aus Meg Cabots Krimi Darf’s ein bisschen mehr sein?
Bei den Befragungen sagen die Mitbewohnerinnen der beiden ermordeten Studentinnen aus, dass die Toten eine Woche vor ihrem Tod frisch verliebt waren. Aufgrund der ähnlichen Charakterisierung scheint es naheliegend, dass es sich bei den besagten neuen Freunden der Mordopfer, die angeblich Mark und Todd heißen, um dieselbe Person handelt. Dem-entsprechend ist von dem „mysteriösen Mark/Todd (falls er tatsächlich existiert)“ (173) die Rede. Nachdem Chris Al-lington, der Sohn des Universitätspräsidenten, als besagter Mark/Todd identifiziert wurde, wird mit der Verwendung der definiten Kennzeichnung „der Allington-Sprössling, der weltgewandte Chris/Todd/Mark“ (265) auf ihn Bezug genom-men, wobei die wichtigsten Informationen über ihn komprimiert wiederholt und dem Leser somit in Erinnerung gerufen werden.
ordnungsakt weiß der Leser nur, dass der gesuchte Referenzträger bestimmte Eigenschaften hat, ohne dass er gleichzeitig weiß, wer die Person ist. Nach dem Zuordnungsakt kann man zuvor attri-butiv gebrauchte Ausdrücke auch referenziell verwenden, um über eine bereits eindeutig als Täter identifizierte Figur zu sprechen. Da ein derartiger Zuordnungsakt entscheidend für die Täterfrage des Kriminalromans ist, wollen wir die Formen seiner sprachlichen Realisierung in Abschnitt 7.3.2 genauer unter die Lupe nehmen.
Durch die oben dargestellte kurze Skizze zu den Spielarten des Referierens im Kriminalroman wird bereits deutlich, dass der Gebrauch von Nominalphrasen als Referenzmittel für die sprachli-chen Verfahren des Wissensmanagements im Kriminalroman von großer Bedeutung ist und insbe-sondere im Hinblick auf die Erzeugung der Romanwelt, auf die Muster und gegebenenfalls Mus-tervariationen beim Gebrauch von Referenzausdrücken, auf die Möglichkeiten der strategischen Wissensportionierung bzw. der Gegenstandskonstitution durch Referenz sowie auf die Erzeugung von Irreführungen bzw. prekärem Wissen mit Hilfe von Referenzmitteln eine zentrale Rolle spielt.
Daher sind Referenzmittel äußerst nützliche Instrumente im sprachlichen Werkzeugkasten des Kri-miautors, mit denen jener das kriminalromangerechte Wissensmanagement gestalten kann.
Ergebnisse
In diesem Kapitel wurden zunächst wesentliche Aspekte einer in Ansätzen bei Strawson entwickel-ten handlungstheoretischen Referenztheorie eingeführt (vgl. Abschnitt 3.1), die neben der in Kap. 2 präsentierten, funktionalen und dynamischen Texttheorie einen weiteren theoretischen Grundbau-stein der vorliegenden Arbeit darstellt. Im Anschluss daran wurden Nominalphrasen unterschiedli-cher Art (als Referenzmittel dienende Ausdruckstypen wie Eigennamen, Kennzeichnungen, Prono-mina, Quantoren bzw. Quantorenphrasen), ihre konventionalisierten Verwendungsweisen und ihr Gebrauch in einer bestimmten Kommunikationssituation näher erläutert (vgl. Abschnitt 3.2).
Schließlich wurden in Abschnitt 3.3 die grundlegenden Funktionen und Spielarten der Verwendung von Nominalphrasen als Referenzmittel im Kriminalroman, insbesondere ihr Zusammenhang mit dem Wissensaufbau, kurz dargestellt, die später sowohl für die Erörterungen über das Zusammen-spiel von Formen des Referierens und des krimispezifischen Wissensmanagements, als auch für die darauf bezogenen Textanalysen relevant sein werden.
Nachdem wir die handlungstheoretische Texttheorie und Referenztheorie, die als theoretische Grundlagen der Arbeit und analytische Werkzeuge der Beispieltexte dienen, in ihren Grundzügen behandelt haben, beginnen wir im nächsten Kapitel damit, die sprachlichen Verfahren des Wis-sensmanagements im Kriminalroman unter verschiedenen Perspektiven zu eruieren und in exemp-larischer Weise genauer auszuführen. Zunächst befassen wir uns mit einer Fallstudie von Andrea Maria Schenkels Tannöd, um einige wesentliche Aspekte der Wissensvermittlung, der Wissensdy-namik und des Wissensmanagements im Kriminalroman einzuführen.
4. Wissensvermittlung, Wissensdynamik und Wissensmanagement im