3. Das europäische Bedrohungsbewusstsein von 1890 bis 1914
4.6 Die „Amerikanische Gefahr“ als Triebkraft des europäischen
ce serait se rendre complice des massacres accomplis à l‟époque actuelle soit en Armenie, soit dans tout autre patrie de cet empire.“558
Eine wesentliche zeitspezifische Komponente im Verlauf der Debatte über die Grenzen einer Union der europäischen Staaten war die Frage nach der Rolle der europäischen Kolonien in einem geeinten Europa. Doch diesem Problem wurde insgesamt überraschend wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Zu den Wenigen, die diesem Aspekt Beachtung schenkten, gehörten vor allem französische Autoren. Hierfür lässt sich etwa der Beitrag Gaston Isamberts zur Debatte über die geographischen Grenzen eines geeinten Europas anführen. Isambert konzentrierte sich auf die Beantwortung der Frage, welcher Einfluss den Vertretern der Kolonien in den Machtorganen eines europäischen Staatenbundes einzuräumen sein werde.559 Der Jurist vertrat darüber hinaus die Meinung, dass die Mitgliedstaaten einer europäischen Konföderation neben der Zugehörigkeit zum gleichen Zivilisationskreis auch ihre Religion auf identischer idealistischer und altruistischer Basis sowie eine verwandte ethnische Herkunft verbinden sollte.560
von Louis Bosc. In ihr wird ein lebhaftes Interesse an der Idee einer wirtschaftlichen Integration Europas deutlich:
„Sehr zahlreich sind endlich die Nationalökonomen und Schriftsteller, die Untersuchungen darüber anstellen, in welchem Masse man die amerikanische Gefahr mit Hilfe eines europäischen Zollvereins begegnen könnte. In dieser Beziehung vollständige Angaben zu geben, ist durchaus unmöglich.“562
Auch eine andere Stimme, die des Nationalökonomen Thomas Lenschau, betonte die Notwendigkeit des wirtschaftlichen Zusammenschlusses der europäischen Staaten aufgrund der Gefährdung der europäischen Position in der Welt infolge des amerikanischen Aufschwungs. In seiner Studie „Die amerikanische Gefahr“ unterstrich der Autor diesbezüglich: „Unzweifelhaft hat dieser Gedanke in den letzten Jahren ganz bedeutende Fortschritte gemacht, so dass man selbst in den Vereinigten Staaten mit ihm zu rechnen beginnt.“ 563
Die Wahrnehmung einer zunehmenden Bedrohung europäischer Machtpositionen durch die Vereinigten Staaten von Amerika hat in Europa insbesondere seit den 1850er-Jahren ein verstärktes Interesse für eine politische und insbesondere ökonomische Einigung des europäischen Kontinents ausgelöst. Das weist darauf hin, dass Europa-Pläne nahezu ohne Ausnahme in Abgrenzung von anderen Kulturen bzw. von konkurrierenden Mächten entwickelt wurden.564 Schon zu Beginn der 1840er-Jahre hat der deutsche Nationalökonom Friedrich List zur Gründung eines europäischen Zollvereins aufgerufen, der Europa vor einem wirtschaftlichen Suprematieverlust zugunsten Amerikas bewahren sollte.565 Auf die Notwendigkeit einer zollpolitischen Fusion der europäischen Staaten gegenüber den verstärkten Positionen der USA, Russlands und Englands auf den Weltmärkten hat zudem wenige Jahre später der französische Übersetzer der Werke von List, Henri Richelot, hingewiesen. Richelot wollte als „Hauptstützen“ dieser „Fusion“ europäischer Staaten Deutschland und Frankreich sehen.
„Tout présage à l‟Amérique du Nord et à la Russie des destinées en rapport avec les proportions gigantesques de leurs territoires; et déjà, sous nos yeux, l‟Angleterre s‟est élevée à une puissance industrielle et commerciale extraordinaire, à laquelle il serait téméraire d‟assigner une limite de durée et même de développement. En face de tels colosses, nos associations européennes seraient chétives sans doute, quelque vie intérieure qui les animât;
car la grandeur a des conditions matérielles. Pour l‟équilibre, il ne faudrait rien moins que leur fusion en une seule, don‟t la France et l‟Allemagne seraient les deux pôles.“566
562 Bosc, Zollunionen, S. 323.
563 Lenschau, Die amerikanische Gefahr, S. 47.
564 Vgl. Schulze, Europäische Identität aus historischer Sicht, S. 27. (Schulze verweist in diesem Kontext auf:
Geoffrey Barraclough, European Unity in Thought and Action, Oxford 1963, S. 50.); Gollwitzer, Die „Gelbe Gefahr“, S. 150.
565 Friedrich List, Das nationale System der politischen Oekonomie, Stuttgart 1844, S. 568–572. Exemplarisch für die List-Rezeption um 1900: Alexander von Peez, Die Bedeutung von Friedrich List für die Gegenwart, Wien 1906.
566 Henri Richelot, Des Associations douanières, in: Journal des Economistes, 1845, Jg. 4, Bd. 11, S. 157.
Um 1850 plädierte sodann der Publizist und politisch interessierte Autor Julius Fröbel mit Blick auf die amerikanische Konkurrenz für eine Einigung Europas.567 Neben Fröbel, der in der Einberufung eines europäischen Staatenbundes ein erfolgreiches Mittel zur Verhinderung eines Machtverlustes sah, hat in den 1860er-Jahren der französische Historiker Henri Martin auf die Notwendigkeit einer Integration Europas zur Stärkung seiner Positionen gegenüber Amerika und Russland aufmerksam gemacht. Im Unterlassungsfall drohte Europa, nach seiner Überzeugung, eine finstere Zukunft. „(D)er Welttheil sinkt unter das Joch des asiatischen Despotismus; England, zwischen Rußland und Amerika erstickt, verschwindet, und nur zwei Mächte bleiben auf der Welt, welche sie zwischen Licht und Finsternis theilen werden.“568 – so die Prognose des Autors. 1879 unterstrich der französische Autor Girardin die Notwendigkeit einer Integration des europäischen Kontinents als Voraussetzung für die Sicherung der europäischen Vorrangstellung in der Welt: „Man müsste aller politischen Voraussicht beraubt sein“, so Girardin, „um sich nicht davon Rechenschaft zu geben, dass die Vereinigten Staaten von Amerika binnen weniger Jahre die nicht geeinten Staaten Europas gebieterisch unter Strafe der Konkurrenz-Unmöglichkeit, des industriellen Ruins und der sozialen Revolution nötigen werden.“569
Das europäische Interesse am Gedanken einer wirtschaftlichen Einigung Europas ist insbesondere in den 1880er-Jahren gestiegen, als die wirtschaftliche Macht Amerikas den Europäern bewusst wurde. Damals wurde die Notwendigkeit der Bildung eines europäischen Zollbundes u. a. von Paul Leusse, Guillaume de Molinari und Albert Schäffle unterstrichen.570 Die Gründung eines europäischen Wirtschaftsbundes stellten hingegen Autoren wie der Straßburger Gelehrte Sartorius von Waltershausen und der Nationalökonom Richard Calwer zur Debatte.571 Dass sich das kontinentale Europa zur Stärkung seiner Stellung in der Welt in Hinsicht auf die von den USA (und Großbritannien) ausgehenden politischen und wirtschaftlichen Gefahr einigen sollte, betonte zu Beginn des 20. Jahrhundert auch der österreichische Nationalökonom Alexander von Peez. Die Zuwendung des Autors dem
567 Fröbel, Amerika, S. 127 ff.
568 Henri Martin, Russland und Europa, Hannover 1869, S. 341.
569 Zit. nach: Bosc, Zollunionen, S. 314.
570 Paul von Leusse, Der Frieden mittels des deutsch-französischen Zollvereins, Straßburg 1888, S. 17–33;
Guillaume de Molinari, Union dounanière de l‟Europe Centrale, in: Journal des économistes, Februar 1879, Bd.
V, S. 309–318; Albert Schäffle, Die Handelspolitik der Zukunft, in: Die Zukunft, 16. 10. 1897, Bd. 21, S. 122–
140.
571 Siehe Sartorius von Waltershausen, Deutschland und die Handelspolitik der Vereinigten Staaten von Amerika, Berlin 1898, S. 56–67; Richard Calwer, Die Meistbegünstigung der vereinigten Staaten von Nordamerica, Berlin 1902, S. 7 ff.
europäischen Integrationsgedanken kommt beispielsweise in seiner 1884 erschienenen Studie
„Weltwirtschaft und Weltpolitik“zum Ausdruck.572 Einige Jahre später wies Peez im Hinblick auf die panamerikanische Bewegung auf den unerlässlichen Charakter der Entstehung eines
„All-Europa […] zum Schutze nothwendiger gemeinsamer Interessen“573 hin. Während er die Notwendigkeit einer Einigung Europas betonte, äußerte der Friedenspublizist Alfred Fried sogar die Überzeugung, dass die wirtschaftliche Entwicklung in den USA „zu einer wirtschaftlichen und unmittelbar auch zu einer politischen Einigung der Europastaaten beitragen“ werde:
„Die Entwicklung der Vereinigten Staaten von Nordamerika steht schon längst im Mittelpunkt des Interesses der europäischen Pacifisten. Man ist sich in ihren Kreisen schon lange darüber klar, dass der wirtschaftliche Aufschwung der jugendkräftigen transatlantischen Republik einen umwälzenden Einfluss auf die in ihrem Antagonismus verharrenden alten Kulturstaaten Europas nehmen muss. Mit Unrecht bezeichnen wir das, was uns von jener Seite droht, als die ‚amerikanische Gefahr„, wir müssten den Einfluss, den die Vereinigten Staaten auf die europäische Wirtschaft, auf die europäische Kultur nehmen, eher als Hoffnung bezeichnen, denn die Massnahmen, zu denen uns dieser Einfluss führen wird, werden die Verwirklichung des von den Friedensfreunden erstrebten Ideals nur beschleunigen, werden zu einer wirtschaftlichen und unmittelbar auch zu einer politischen Einigung der Europastaaten beitragen.“574
Das erfolgversprechendste Mittel im Kampf mit der amerikanischen wirtschaftlichen Konkurrenz sah auch Henri Renou in einer Einigung des europäischen Kontinents. „L‟idée d‟une Fédération européenne“, so der Autor, „n‟est pas un rêve aussi chimérique que d‟aucuns se plaisent à le croire“.575 Zu den Befürwortern dieses wirtschaftlichen Zusammenschlusses gehörte um 1900 ebenso der Chefredakteur der „Revue Suisse“, Edouard Tallichet. Wie viele andere sah auch er in dem wirtschaftlichen Aufschwung in den USA eine große Herausforderung für die Zukunft Europas. Ähnlich der überwiegenden Mehrheit der Befürworter einer wirtschaftlichen oder politischen Einigung Europas hat auch Tallichet die besondere Funktion Deutschlands und Frankreichs für den integrationsprozess hervorgehoben.576 Für die Gründung einer politischen Union der europäischen Staaten als Mittel zur Sicherung der europäischen Vorrangstellung in der Welt trat beispielsweise ein unter dem Pseudonym „L‟Européen“ publizierende Autor ein. Ähnlich wie Tallichet unterstrich er nicht nur die Existenz einer aus den USA drohenden wirtschaftlichen Gefahr für Europa, sondern auch eine Gefahr auf dem Agrarsektor. Exemplarisch für sein Europadenken ist ferner, dass er bereits die verlorene Position des europäischen Kontinents im
572 Alexander von Peez, Weltwirtschaft und Weltpolitik, München 1884, S. 14. Hierzu vgl. ders., Mittel-Europa und die drei Weltreiche Grösser-Britannien, die Vereinigten Staaten und Rußland, in: ders., Zur neuesten Handelspolitik. Sieben Abhandlungen, Wien 1895, S. 7ff;
573 Peez, Handelspolitik, S. 63.
574 Alfred Fried, Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, in: Die Friedens-Warte, Februar 1904, Jg. 6, Nr. 2, S.
21.
575 Henri Renou, L‟Expansion américaine, in: L‟Européen, 10.10.1903, Jg. 3, Nr. 97, S. 10.
576 Edouard Tallichet, La guerre en Europe, in: Bibliothèque Universelle et Revue Suisse, März 1892, Nr. 159, S.
521.
wirtschaftlichen Konkurrenzkampf mit Amerika bestehen sah.577 Ein markantes Zeugnis für das Interesse in der europäischen Öffentlichkeit an der Idee einer politischen Integration im Hinblick auf die aus der Entwicklung der USA zur ökonomischen und politischen Weltmacht drohenden Gefahren lieferte darüber hinaus der französische Publizist Paul Lefébure. Eine
„Gelbe Gefahr“ in der Gestalt einer Union der ostasiatischen Völker unter der Ägide Japans schien Lefébure „très incertaine“578. Der Aufstieg der USA stellte nach seinem Urteil jedoch eine reelle Bedrohung Europas dar.579 Lefébure gehörte zu den Autoren, die neben einer ökonomischen auch eine politische Gefahr, die Europa aus den USA drohte, entstehen sah. Er bestritt die Auffassung von Peez, dass der Bedrohungsgrad der europäischen Machtposition in der Welt erst von der Entstehung einer panamerikanischen Union abhängen würde. Nach seiner Einschätzung waren schon die USA allein imstande, eine tiefgreifende Transformation der politischen Machtverhältnisse in der Welt zu bewirken:
„(M)ais il n‟est pas besoin de l‟accession des Etats de l‟Amérique centrale ou du Sud pour que les Etats-Unis fassent échec à l‟Europe. Si l‟on songe qu‟ils essaient maintenant de se lancer à la conquête économique du vieux monde, que leur influence dans le Pacifique va grandissant chaque jour, que l‟acquisition des Hawaï et des Philippines leur fournit d‟excellentes bases d‟opération en l‟Extrême-Orient, qu‟ils sont prêts à s‟entendre avec le Japon pour s‟ériger en garants de l‟intégrité chinoise exiger de l‟Europe le système de la porte ouverte dans le Céleste Empire, qu‟ils sont de plus en plus disposés à intervenir dans les affaires européennees aux Antilles, qu‟ils entendent être les seuls maîtres du canal qui reliera les deux océans, qu‟ils sont hardis, entreprenants et savant organiser leur puissance militaire en même temps que s‟accroissent leurs pretentions, on comprend qu‟il se forme de l‟autre côté de l‟Océan un monde bien distinct du nôtre et dont les besoins, les intérêts et le droit même seront souvent opposés aux notres.“580
Kennzeichnend für das Ausmaß des Bedrohungsbewusstseins bei Paul Lefébure ist seine Feststellung, dass selbst die Integration der europäischen Staaten nur noch „quelques parcelles d‟influence sur les destinées de l‟univers“581 sichern könnte.
Vom Ausmaß der Verbreitung der Idee einer politischen und wirtschaftlichen Einigung des europäischen Kontinents nach 1890 künden auch solche Autoren wie etwa der Historiker Anatole-Leroy-Beaulieu, der französische Autor Edouard Reyer und der Wiener Jurist Max Kolben. Charakteristisch für Leroy-Beaulieu ist die Konsequenz mit der er für die Gründung „d‟une sorte d‟union européenne qui englobera tous les peuples de notre Europe en face de l‟Europe britannique et des Etats-Unis d‟Amérique“582 eintrat. Ähnlich seinem Landsmann Edouard Reyer, der zur Schaffung einer „coalition européenne contre les
577 Européen, Les Etats-Unis d‟Europe, S. III.
578 Lefébure, Y a-t-il lieu, S. 130.
579 Ebenda.
580 Ebenda, S. 131.
581 Ebenda.
582 La question d‟Alsace-Lorraine: un article de M. Robert Stein, S. 5.
Unis“583 aufgerufen hatte, hinterließ jedoch Leroy-Beaulieu keine konkreten Vorschläge, wie eine Integration Europas realisiert werden könnte. Kennzeichnend für die Art und Weise mit der der Wiener Jurist Dr. Max Kolben auf die Notwendigkeit eines Zusammenschlusses der europäischen Nationen im Hinblick auf eine amerikanische Konkurrenz auf wirtschaftlichem Gebiet hinwies, ist seine Relativierung der Bedeutung einer deutsch-französischen Verständigung als Voraussetzung für die Verwirklichung einer europäischen Einigung.584
Die ökonomische Entwicklung in den USA hatte bewirkt, dass auch europäische Schriftsteller intensiver über eine Einigung des europäischen Kontinents nachzudenken begannen. Symptomatisch hierfür waren Äußerungen Ludwig Fuldas und Emil von Wolzogens.585 Insbesondere Wolzogen fasste eine Integration des europäischen Kontinents nicht als bloßen Wunsch, sondern als Notwendigkeit auf, womit er einer weit verbreiteten Überzeugung Ausdruck gab.