2. Textlinguistische Charakterisierung des Texttyps ‚Kriminalroman‘
2.3 Zentrale Aspekte der Textorganisation im Kriminalroman
2.3.5 Kommunikationsprinzipien und ihre Umsetzung
2.3.5.3 Das Prinzip der Originalität und Unterhaltsamkeit
Und weil ich gerade Milch sage. Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber der Brenner hat es sich wahnsinnig vorgeworfen, dass er das übersehen hat. Dass ihm die Südtirolerin ausdrücklich erklärt hat, sie trinkt keine Milch, sie kann sie nicht verdauen, sie hat das Enzym nicht, und was hat sie gekauft, wie er sie zum ersten Mal auf der Tankstelle getroffen hat: einen Liter Milch! Gedanken gemacht hat er sich über die Zeitung, die sie gekauft, aber nicht gelesen hat. Aber die Milch hat er einfach so durchgehen lassen. Und da sieht man wieder einmal, wie knapp es oft hergeht im Leben, du schaust auf die Zeitung, aber in der Milch wäre die interessante Nachricht ge-wesen. (Der Brenner und der liebe Gott, 158)
Dermaßen eindeutig formuliert, entgeht nun keinem Leser der Kausalzusammenhang zwischen den erzählten Ereignissen sowie das Ablenkungsmanöver durch die Zeitung. An diesem Beispiel lässt sich daher beobachten, wie ein Krimiautor die entscheidenden Informationen in auseinander lie-genden Textstellen liefern kann, wie er dann aber gleichzeitig, wenn er nicht gegen das Prinzip der Plausibilität verstoßen will, mit bestimmten sprachlichen Verfahren, in diesem Fall mit dem Einsatz des Aufmerksamkeit hervorrufenden, krimitypischen Schlüsselworts verdächtig, der häufigen Wie-deraufnahme der Milch, der strategischen Wissensvermittlung am Abschnittsende und der abschlie-ßenden expliziten Erklärung mittels der Erzählerrede, die kausale Verknüpfung deutlich machen muss, damit auf den Leser alles verständlich, plausibel und überzeugend wirkt. Krimiautoren kön-nen also mit unterschiedlichen sprachlichen Verfahren deutlich machen, wie die erzählten Ereignis-se miteinander zusammenhängen, um von vornherein den möglichen Einwand mangelnder Plausi-bilität von Seiten des Lesers zu vermeiden.
sich sogar zum persönlichen Markenzeichen des jeweiligen Autors entwickeln oder dazu beitragen, den betreffenden Krimi in die Bestsellerlisten zu bringen. Bekannte Beispiele dafür sind etwa Patri-cia Cornwells Kay-Scarpetta-Serie über die forensische Pathologie, Scott Turows Justizkrimis, die den Akzent auf die Welt des Strafgesetzes legen, Akif Pirinçcis Katzenkrimis (die Felidae-Romane) und Leonie Swanns Schafskrimi Glennkill. Besonders erwähnenswert ist auch Umberto Ecos Mit-telalterkrimi Der Name der Rose (1980 im italienischen Original: Il nome della rosa; dt. 1982): Mit sprachlicher Raffinesse baut der weltberühmte Semiotiker in den historischen Kriminalroman un-gewöhnliche Teilthemen wie Mediävistik, Semiotik, postmoderne Kultur, philosophische und litera-rische Anspielungen und Zitate ein. Als „eines der interessantesten Experimente des Detektivro-mans“ (Nusser 2003, 96) ist der Roman weltweit erfolgreich und erntet große Begeisterung sowohl von Krimifans als auch von Fachleuten, die den Roman zum Untersuchungsgegenstand diverser Disziplinen machen.108
Da wir uns in erster Linie dafür interessieren, mit welchen sprachlichen Verfahren man einen Kriminalroman originell, unterhaltsam und genussreich schreiben kann, befassen wir uns im Fol-genden mit den etablierten Vertextungsstrategien bzw. „Techniken, mit denen man immer wieder neue und überraschende Formulierungen und Darstellungselemente erzeugen kann“ (Gloning 2008a, 77). Exemplarisch zu erläutern sind unter anderem (1) der Gebrauch origineller Wortbildungen, (2) literarisch-stilistische Mittel wie etwa Metaphorik, Hyperbel, Ironie und Personifizierung, (3) ein Spiel mit Erwartung und Überraschung und (4) charakteristische Sprechweisen von Figuren.
(1) Der Gebrauch origineller Wortbildungen
Ein wichtiges Mittel zur Umsetzung des Prinzips der Originalität sind Wortbildungen. Sie sind ein Bestandteil des Wortgebrauchsprofils im Kriminalroman und gehören zu den bewährten Rezepten, mit denen einfallsreiche Autoren originelle Formulierungen in ihren Krimis zubereiten und somit ihre sprachliche Kreativität entfalten können. Überaus beliebt sind einerseits die strategische bzw.
neuartige Nutzung von etablierten Wortbildungen und andererseits die Anwendung origineller ad-hoc-Wortbildungen (Augenblickswortbildungen) bzw. Wortschöpfungen, die mit den folgenden Beispielen verdeutlicht werden sollen.
Sehen wir uns zunächst ein Beispiel für den raffinierten Einsatz einer etablierten Wortbildung an. In der folgenden Textpassage aus Silentium! verwendet der Autor Wolf Haas strategisch das gewöhnliche Kompositum Familienpackung und thematisiert den ebenfalls gewöhnlichen Wortbe-standteil Familie auf überraschende Weise, um seinen sprachbezogenen Einfallsreichtum zu entfal-ten und den eigentümlichen Humor des Brenner-Krimis zu kreieren:
Aber heute Abend hat der junge Regens selber das Küchenmädchen gespielt, sprich, er hat aufgetischt, dass der Besprechungstisch völlig unter den Köstlichkeiten verschwunden ist: Familienpackung Erdnüsse, Familienpa-ckung Kartoffelchips, FamilienpaFamilienpa-ckung Soletti, FamilienpaFamilienpa-ckung Salzgebäck, FamilienpaFamilienpa-ckung Goldfischli, Fa-milienpackung Tuc-Salzkekse. Weil ich glaube, wenn du heute keine eigene Familie haben darfst, willst du
108 Dazu vgl. die kurze Übersicht über den Roman sowie die darauf bezogenen Publikationen aus Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/Der_Name_der_Rose (gelesen am 01.03.2010).
nigstens auch ab und zu eine Familienpackung vernichten, quasi Amoklauf.
Wie der Brenner gesehen hat, dass der junge Chef-Geistliche eine Familienpackung nach der anderen aufreißt, hat er sich erinnert, dass er einmal auf dem Kondomautomaten der Linzer Polizeikantine gelesen hat: »Günstige Familienpackung«. An und für sich schlechte Wortwahl, weil man mit diesem Produkt die Familie ja gerade ver-hindern will. Vorsichtshalber hat der Brenner sich jetzt gleich ein paar Erdnüsse in den Mund gestopft, damit er das nicht erzählt. Weil im Beisein von zwei Priestern vielleicht eine unangemessene Bemerkung. (Silentium!, 12f.)
Hierbei wird die strategische Anwendung der Wortbildung Familienpackung in der Schilderung der Besprechung zwischen den Priestern im Internat und dem Detektiv Brenner eingelagert, um zwei Wortspiele über Familienpackung und Familie einzufädeln und den humorvollen Effekt zu erzeu-gen. Zunächst wird der Ausdruck Familienpackung bei der Aufzählung des Knabbergebäcks in der ersten Passage augenfällig wiederholt gebraucht, sodass der Leser unweigerlich darauf aufmerksam wird. Anschließend kommentiert der Ich-Erzähler näher den solcherart hervorgehobenen, übermä-ßigen Konsum der Familienpackungen von Knabbergebäck mit der Bemerkung Weil ich glaube, wenn du heute keine eigene Familie haben darfst, willst du wenigstens auch ab und zu eine Famili-enpackung vernichten, quasi Amoklauf. Indem er einen sichtbaren thematischen Zusammenhang durch die Rede von Familienpackung und Familie herstellt, schafft er einen starken Kontrast zwi-schen der Vorliebe des jungen Regens für die Familienpackung Knabbergebäck und dem allgemein bekannten Fakt, dass ein Priester keine Familie haben darf. Auf diese Weise bringt er die erzielte Pointe zustande: Die Vorliebe des Regens wird als Familienpackung vernichten bezeichnet und er-hält das Prädikat quasi Amoklauf – eine außerordentlich ungewöhnliche Bewertung, die auf einem originellen Wortspiel über die etablierte Wortbildung Familienpackung und deren Wortbestandteil Familie basiert. Im Anschluss daran werden die Ausdrücke Familienpackung und Familie weiterhin in einem anderen thematischen Zusammenhang strategisch eingesetzt. Ein zweites Wortspiel über Familienpackung und Familie kommt zustande, indem erzählt wird, wie sich der Detektiv Brenner angesichts der Familienpackungen an die Werbung Günstige Familienpackung auf einem Kondo-mautomaten erinnert und darüber nachdenkt, wie unpassend der Ausdruck Familienpackung im Zusammenhang mit einem Produkt wie dem Kondom ist, dessen Zweck eben darin besteht, Kinder und Familie zu verhindern. Während beim ersten Wortspiel über Familienpackung und Familie in Bezug auf den jungen Regens seine Vorliebe für das Knabbergebäck in Familienpackungen mit dem Verbot der Familie für Priester dermaßen ausdrücklich kontrastiert wird, werden beim zweiten Wortspiel die beiden Ausdrücke durch die geschickte Thematisierung des Kondoms in Verbindung mit den Geistlichen gebraucht, um die unerwartete Pointe zu erzeugen.
Anzumerken ist außerdem, dass die beiden Wortspiele über Familienpackung und Familie im Grunde zur Figurencharakterisierung dienen. Liest der Leser weiter, so erkennt er, dass der junge Regens ein Schlemmer ist und der Detektiv Brenner immer wieder dazu neigt, ins Fettnäpfchen zu treten. In der oben zitierten Passage werden die beiden Figuren bereits durch die Wortspiele in überaus lebendiger und lustiger Weise dargestellt. Wie aus diesem Beispiel ersichtlich, erreicht der einfallsreiche Autor durch die strategische Nutzung der etablierten Wortbildung Familienpackung viele Ziele, vor allem zeigt er seine sprachliche Kreativität und bringt den Leser mit den beiden raf-finierten Wortspielen zum Schmunzeln.
Werfen wir nun einen Blick auf das folgende Beispiel aus Akif Pirinçcis Katzenkrimi Felidae, in dem eine neuartige Nutzung der bereits etablierten, recht geläufigen Wortbildung Dosenöffner erfolgt:
»Dosenöffner!« sagte plötzlich das Monster neben mir, mit einer Stimme, die genauso deformiert war wie die ganze Erscheinung. [...]
»Dosenöffner?« fragte ich. »Was meinst du damit?«
»Na, es waren verfluchte Dosenöffner. Sie haben’s getan, sie haben dem kleinen Sascha ’n Sonderventil in den Nacken verpaßt, Mann!« [...]
»Du meinst Menschen? Haben ihn Menschen umgebracht?« [...]
»Aber wer sollte so was sonst tun, als ein beschissener Dosenöffner? Ja, ein beschissener Dosenöffner, der für nichts anderes gut ist, als für uns die Dosen zu öffnen! Scheiße, ja!« (Felidae, 24f.).
Bei der Darstellung, wie die beiden Kater Francis (ich) und Blaubart (das Monster neben mir) dar-über diskutieren, ob der Kater Sascha von Menschen getötet wurde, wird der Ausdruck Dosenöffner andersartig verwendet und erhält dadurch eine ad-hoc-Verwendungsweise. Zunächst erkennt der Leser anhand Blaubarts Äußerung Na, es waren verfluchte Dosenöffner. Sie haben’s getan eindeutig, dass dieser den Ausdruck Dosenöffner offenkundig nicht im üblichen Sinne von „einem Gerät, mit dem man Konservendosen öffnen kann“ verwendet. Was genau Blaubart damit meint, wird erst schrittweise für den Leser erkennbar, indem wiedergegeben wird, wie Blaubart auf die Rückfragen hin, die ihm sein Zuhörer Francis aus Unverständnis mehrfach stellt, diese ungewöhnliche Verwen-dungsweise von Dosenöffner begründet und klärt. Durch Blaubarts Bemerkung Ja, ein beschissener Dosenöffner, der für nichts anderes gut ist, als für uns die Dosen zu öffnen wird dem Leser endlich klar, dass Blaubart damit Menschen meint, die seiner Ansicht nach für nichts anderes als für das Öffnen von Dosen von Nutzen sind. Hierbei ist das Verständnis der strategisch verwendeten Wort-bildung Dosenöffner vollständig auf den Kontext angewiesen. Auf diese Weise wird eine neue Ver-wendungsweise der etablierten Wortbildung Dosenöffner im Text eingeführt und ad-hoc gebraucht, wenn im Rahmen des Romans von Menschen die Rede ist. Nach dieser Textstelle wird das Wort Dosenöffner als Synonym für Mensch(en) in allen bisherigen Felidae-Romanen verwendet – nicht nur von den Katzenfiguren, sondern auch vom Autor Akif Pirinçci, der sich selbst in dem Mi-ni-Katzensachbuch im Anhang als Dosenöffner bezeichnet.109 Der Autor lässt also nicht nur seiner sprachlichen Kreativität freien Lauf, sondern gewährleistet dadurch auch den raffinierten Humor von Felidae: Aus der angesprochenen, phantastischen Widersprüchlichkeit zur Realität, nämlich dass ein Kater die menschliche Sprache spricht und mit Hilfe der neuartigen ad-hoc-Verwendung von Dosenöffner abwertend über Menschen redet, entsteht der raffinierte Humor von Felidae.
Im Kriminalroman kommen auch originelle ad-hoc-Wortbildungen bzw. Wortschöpfungen sehr häufig zum Einsatz, deren Verständnis im Prinzip vom vorhergehenden Text abhängt. Hierfür ein Beispiel aus Maria Benedickts Fräulein Gloria geht baden: „[Er] erzählt mir, wie es kam, dass er alleinerziehender Vater wurde. Moment mal – alleinerziehender Vielleicht-Vater. Wohl-Kaum-Vater.
109 Akif Pirinçci äußert sich zum Beispiel folgendermaßen in dem Mini-Katzensachbuch im Anhang von Das Duell, seines vierten Felidae-Romans: „Wenn eine Katze in die Jahre kommt, verändert sie langsam ihr Verhalten, geht weni-ger ins Freie, wird allgemein ruhiweni-ger, schläft länweni-ger und pflegt vermehrt Kontakt mit uns Dosenöffnern“ (S. 263). Das heißt, diese spezielle Verwendungsweise von Dosenöffner ist in der Felidae-Krimiserie bereits etabliert, und zwar auch außerhalb der Romanwelt.
Billi ist nach aller Wahrscheinlichkeit nicht sein leibliches Kind“ (138). Eingebettet in die Äuße-rungen bzw. in den Zusammenhang mit dem Kontext wird dem Leser sofort klar, was die Zusam-mensetzungen Vielleicht-Vater und Wohl-Kaum-Vater hier bedeuten, und erkennt, dass mit ihnen der Gewissheitsgrad der vermeintlichen Vaterschaft näher bestimmt wird.
Was die Produktivität der Wortbildungen diverser Wortarten betrifft, handelt es sich bei den Neu- und Augenblicksbildungen im Kriminalroman genauso wie in der allgemeinen Sprachpraxis überwiegend um nominale und adjektivische Wortbildungsprodukte, während innovative verbale Wortbildungen viel seltener vorkommen.110 Beispielsweise produziert der einfallsreiche Autor und freudige Wortschöpfer Wolf Haas, der offenbar viel Wert auf sprachliche Kreativität in seinen Kri-mis legt, zahlreiche innovative nominale und adjektivische Wortbildungen. In Der Brenner und der liebe Gott listet er z.B. nominale Komposita wie Nichtdinge, Nichtmenschen, Nichtideen, Nicht-meinungen, Nichtgefühle, Nichtliebe, Nichtgespräche, Nichtgedanken (185f.) auf, um die Bemer-kung des Ich-Erzählers „Schwierig wird es immer mit den Existenzen. Da fangen die Probleme an“ (186) zu verdeutlichen und anschließend das Mordmotiv, nämlich dass ein Vater sich als gede-mütigten Nichtvater (206) herausstellt, einzuführen bzw. näher zu erläutern. Außerdem setzt er zur Figurencharakterisierung eine Aufzählung von adjektivischen Wortbildungen ein, um einen Rentner als „übergewichtige, hinkende, rasenmähende, zaunstreichende, grillende, fernsehende, politisie-rende, ächzende, unkrautjätende, autowaschende, unterhemdentragende, meinungäußernde, schwerhörige Bösartigkeit in Person“ (102) zu beschreiben. Indem er die Zusammensetzung (oder:
Komposition) sowie die Departizipiale Konversion (hier: der Übergang vom Partizip I zum Adjek-tiv)111 als Bildungsverfahren aufgreift, ergibt sich ein großer Schaffensraum für neuartige adjekti-vische Wortbildungen, die zwar weder lexikalisiert noch geläufig, aber für den Leser durchaus leicht zu verstehen sind.
Abschließend ist zu bemerken, dass die Präferenz des Autors entscheidend für die Auswahl der Wortbildungsverfahren als Realisierungsmittel der Originalität und Unterhaltsamkeit ist. Es gibt Autoren, die offenkundig originelle Wortbildungen bevorzugen und regelmäßig in ihren Krimis einsetzen, um ihrer sprachlichen Kreativität Ausdruck zu verleihen. Eine solche Vorliebe kann sich allmählich durchaus zum markanten persönlichen Schreibstil entwickeln, der von der Fangemeinde als eine Art besonderer Reiz ihrer Werke anerkannt wird (ein Beispiel wäre die Brenner-Serie von Wolf Haas). Wortbildungsverfahren sind also häufig genutzte Mittel, mit denen Krimiautoren das Kommunikationsprinzip der Originalität umsetzen, da diese, wenn der Autor sie gut beherrscht, sehr ansprechend auf den Leser wirken können.
110 Nach Fleischer/Barz ist die Wortbildung des Substantivs – sowohl quantitativ als auch qualitativ betrachtet – die produktivste unter allen Wortarten in der deutschen Gegenwartssprache. Vor allem zeigen die Modelle für die Wortbil-dung des Substantivs eine Vielfalt, die die WortbilWortbil-dungsmodelle anderer Wortarten bei weitem nicht erreichen. Ausführ-lich dazu vgl. Fleischer/Barz 1995, 84ff.
111 Fleischer/Barz weisen darauf hin, dass die departizipiale Konversion sehr produktiv ist und zur Bereicherung des adjektivischen Wortschatzes stark genutzt wird. Mehr dazu vgl. Fleischer/Barz 1995, 276f.
(2) Metaphorik, Hyperbel, Ironie und Personifizierung
Darüber hinaus eignen sich einige wichtige literarisch-stilistische Mittel dazu, einen Kriminalroman originell, unterhaltsam und genussreich zu gestalten. Zu solchen Realisierungsmitteln des Kommu-nikationsprinzips der Originalität und Unterhaltsamkeit im Kriminalroman gehören etwa (i) Ver-gleiche und Formen der Metaphorik, (ii) Hyperbel, (iii) Ironie und (iv) Personifizierung, die im Folgenden exemplarisch vorzuführen sind.
Als Redeschmuck sind Vergleiche und Formen der Metaphorik112 bei Krimiautoren sehr beliebt. Demnach kommen im Kriminalroman innovative metaphorische Verwendungen113 sehr häufig vor, womit Krimiautoren ihre sprachliche Kreativität voll entfalten. In Fräulein Gloria geht baden von Maria Benedickt finden sich etwa die folgenden Beispiele:
a) Vom Telefon werde ich aus dem Schlaf gerissen wie eine mit Dynamit gefischte Forelle aus ih-rem unschuldigen Bad im See. (156)
b) Ich lasse mich noch leichter nervös machen als die sprichwörtliche Katze auf dem sprichwört-lichen Blechdach. (112)
c) Langsam taut Chalids Blick ein wenig auf. Ein paar Grade nur. Knapp über dem Gefrierpunkt.
(122)
d) Ich [fabriziere] für ihn mit einer ungeheuren Anstrengung ein Lächeln im Spiegel, so echt wie Hitlers Tagebücher. (85)
Was die Realisierungsformen betrifft, werden hierbei die Vergleiche bzw. metaphorischen Wendun-gen entweder durch Vergleichspartikeln wie (bei a), als (bei b), so ... wie (bei d) explizit gemacht oder durch den dem Vergleichsobjekt entsprechenden Sprachgebrach (Blick als etwas Tiefgefrore-nes bei c: auftauen, Knapp über dem Gefrierpunkt) implizit ausgedrückt. Bei Beispiel b ist anzu-merken, dass die metaphorische Wendung „wie die Katze auf dem Blechdach“114 zwar nichts Neu-es ist, aber durch das gezielte, zweimalige Hinzufügen dNeu-es Adjektivs sprichwörtlich überaus augen-fällig bzw. interessant wirkt. Außerdem zeigt das Beispiel d, dass Metaphorik in Kombination mit Ironie zum Einsatz kommen kann: Nicht zuletzt anhand der Ausdrücke fabrizieren und mit einer ungeheuren Anstrengung besteht für den Leser kein Zweifel, dass das Lächeln ebenso unecht ist wie Hitlers Tagebücher. Alle vier Beispiele machen deutlich, wie innovative metaphorische
112 Vgl. hierzu die folgende Erläuterung von „simile“ aus The Penguin Dictionary of Literary Terms and Literary The-ory: „A figure of speech in which one thing is likened to another, in such a way as to clarify and enhance an image. It is an explicit comparison (as opposed to the metaphor, q.v., where the comparision is implicit) recognizable by the use of the words ‘like’ or ‘as’. It is equally common in prose and verse“ (Cuddon 1999, 830). Ferner wird „metaphor“ folgen-dermaßen definiert: „A figure of speech in which one thing is described in terms of another. [...] A comparison is usually implicit“ (Cuddon 1999, 507).
113 Zum Verstehen innovativer metaphorischer Wendungen vgl. John R. Searles Aufsatz „Metapher“ in Ausdruck und Bedeutung. Untersuchungen zur Sprechakttheorie (Searle 1998), S. 98-138.
114 Zwar ist „wie die Katze auf dem Blechdach“ keine deutsche Redewendung, aber zum einen gibt es eine ähnlich formulierte englische Wendung „like a cat on hot bricks“ und zum anderen heißt der deutsche Titel eines Theaterstücks von Tennessee Williams Die Katze auf dem heißen Blechdach (Originaltitel: Cat on a Hot Tin Roof). Daher ist dieser Ausdruck für den Leser nichts Neues und somit leicht zu verstehen.
dungen beachtlich dazu beitragen können, den Text lebendig und unterhaltsam zu gestalten.
Zu den wichtigen literarisch-stilistischen Mitteln gehört auch die Hyperbel.115 Vor allem dient sie bei der Figurencharakterisierung hervorragend dazu, durch den daraus resultierenden karikatur-haften Effekt die betreffende Figur eindrucksvoll zu beschreiben bzw. dabei Humor zu erzielen. Zur Veranschaulichung sehen wir uns ein Beispiel aus Silentium! von Wolf Haas an, wobei das Ausse-hen eines außerordentlich kräftigen Jungen namens René folgendermaßen mit dem Ausdruck Japa-nerin beschrieben wird: „Weil der René Oberarme wie eine JapaJapa-nerin [sic]. Aber natürlich nicht wie die Oberarme von einer Japanerin, sondern wie eine ganze Japanerin, ungefähr diese Ober-armdicke“ (94). Hierbei wird zum Vergleich mit Renés Oberarmen der Ausdruck wie eine Japane-rin verwendet, allerdings bezieht sich der Vergleich nicht wie erwartet auf die Oberarme einer Ja-panerin als Vergleichsobjekt, wie es beim üblichen Sprachgebrauch der Fall ist, sondern überra-schenderweise auf eine ganze Japanerin. Derart thematisiert durch wie eine Japanerin wird Renés Oberarmdicke übertrieben groß beschrieben, sodass aus dieser karikaturistischen Übertreibung ein komischer Effekt entsteht, der in dieser Form meistens nur in Comics oder Trickfilmen vorkommt und einen Beitrag zum eigentümlichen Humor des Romans leistet.
Auch die Ironie116 ist als wichtiges sprachliches Verfahren der Originalität und Unterhaltsam-keit im Kriminalroman erwähnenswert. Besonders wirkungsvoll ist ihr strategischer Einsatz zur Er-zeugung des im Kriminalroman ausgesprochen häufig vorkommenden makaberen Humors; dabei wendet der Autor sie in Bezug auf krimitypische Themen (wie z.B. Mord, Tatmotiv) bei der Figu-renrede bzw. bei der Erzählerrede strategisch an. Zum Beispiel entsteht in Raymond Chandlers Das hohe Fenster Ironie aus der Bemerkung eines Arztes, der auf den Schrei einer verzweifelten Frau
„Verstehen Sie, ich habe einen Mann getötet“ unbeeindruckt antwortet: „Nun, das ist ein normaler menschlicher Trieb [...]. Ich habe Dutzende getötet“ (205). Ein weiteres Beispiel für Ironie, in die-sem Fall Selbstironie, wäre die folgende Bemerkung der Ich-Erzählerin und Titelheldin von Fräu-lein Gloria geht baden über einen Killer, der vergeblich versucht hat, sie zu töten: „Ich nehme ihm nicht einmal übel, dass er mich umbringen wollte. Die Idee hatte ich ja auch schon“ (155). In bei-den Fällen kann man das Verstehen von Ironie von Seiten des Lesers mit Hilfe des bereits erwähn-ten Grice’schen Räsonnements (vgl. Grice 1989, 24ff.) folgendermaßen erklären. Bei einer ironi-schen Äußerung im Text liegt eine scheinbare Verletzung der Grice’ironi-schen Maximen der Qualität (Wahrheitsmaximen) vor: Wörtlich betrachtet ergibt die Äußerung keinen Sinn bzw. scheint un-möglich der Wahrheit zu entsprechen, sodass der Leser die Äußerung nicht für bare Münze nimmt und automatisch nach dem eigentlich Gemeinten sucht. Demzufolge ist der Leser auch ohne zusätz-liche Erklärung im Text in der Lage, solche Äußerungen als Ironie aufzufassen und den vom Autor erzielten trockenen Humor zu erschließen.
115 Laut Duden Deutsches Universalwörterbuch ist eine Hyperbel die „in einer Übertreibung bestehende rhetorische Figur (z.B. himmelhoch; wie Sand am Meer)“ (6. Auflage, 861). Vgl. auch die folgende Erläuterung zu „hyperbole“ aus The Penguin Dictionary of Literary Terms and Literary Theory: „A figure of speech which contains an exaggeration for emphasis. [...] There are plentiful examples in writers of comic fiction“ (Cuddon 1999, 406).
116 Vgl. die ausführliche Erläuterung zu „irony“ in The Penguin Dictionary of Literary Terms and Literary Theory (Cuddon 1999, 427ff.).
Darüber hinaus kommt auch die Personifizierung, generell eine wirksame Schreibtechnik für literarische Werke, im Kriminalroman häufig zum Einsatz. Wie in Raymond Chandlers Das hohe Fenster anhand der beiden Äußerungen „ihre Lippen schienen vergessen zu haben, wie man lä-chelt“ (149) und „Ich berührte die wunderhübschen neuen Noten mit einem hungrigen Finger“ (147) ersichtlich, sticht die strategische Anwendung der Personifizierung aus dem Text hervor und wirkt wie eine Art Blickfang. Durch sie werden die Lippen, die nicht vergessen können, und ein Finger, der nicht hungrig sein kann, so vermenschlicht dargestellt, dass der Leser unweigerlich überrascht ist und sich die betreffenden Figuren sehr bildhaft vorstellen kann. Auf diese Weise setzt Raymond Chandler die Technik der Personifizierung bei der Figurencharakterisierung gekonnt ein und skiz-ziert die Figuren mit wenigen Worten auf überaus lebendige Weise.
Bemerkenswert ist, dass die oben genannten literarisch-stilistischen Mittel auch kombiniert re-alisierbar sind. Dass die Ironie auch in Kombination mit der Hyperbel eingesetzt werden kann, zeigt etwa das folgende Beispiel aus Silentium! von Wolf Haas. Mit den folgenden Bemerkungen kom-mentiert der wie immer überaus wortreiche Ich-Erzähler die Inschrift Silentium!, die in einer Inter-natsschule überall zu sehen ist:
Und ich muss sagen, volles Verständnis, weil in einer Bubenschule musst du natürlich immer furchtbar aufpassen, dass dir der Lärm nicht vollkommen über den Kopf wächst, das ist ein Geschrei den ganzen Tag, da könnte es dir als Erzieher leicht passieren, dass du einmal entnervt in so einen Lärmhaufen hineinschießt, und vor lauter Pau-sengeschrei hörst du dein eigenes Maschinengewehr nicht. (Silentium!,11f.)
Da der Leser den Ich-Erzähler kennt und somit sieht, dass er die Kommentare offensichtlich nicht wörtlich meint sondern übertreibt, erkennt er den uneigentlichen Status der Äußerungen: Es handelt sich um einen Fall von Ironie. Auf diese Weise ergibt sich der makabere Witz aus den ironischen Bemerkungen, der dem Leser einen überraschenden Unterhaltungseffekt bzw. zusätzlichen Lek-türegenuss verschafft.
(3) Ein Spiel mit Erwartung und Überraschung
Neben einer originellen Wortwahl gibt es auch bestimmte Vertextungsstrategien, mit denen Autoren ihre Krimis originell, unterhaltsam und genussreich gestalten können. Besonders nennenswert ist die Strategie, mit sprachlicher Raffinesse ein überraschendes Spiel mit der Erwartung des Lesers einzufädeln. Diese Strategie lässt sich in vielfältiger Weise sprachlich realisieren. Auch in Bezug auf den Umfang kann man sie verschiedengestaltig umsetzen, so kann z.B. eine überraschende Wer-war’s-Antwort am Romanende auftauchen, die dem Leser entgegen seinen Erwartungen den ganzen Roman über serviert wird. Gattungsprägend sind vor allem Irreführungen aller Art, die Kri-miautoren ideenreich und durchdacht gestalten können, um dem Leser den krimispezifischen Lek-türegenuss zu verschaffen. Zur Figurencharakterisierung kann diese Strategie ebenfalls optimal ge-nutzt werden, wie das folgende Beispiel aus Raymond Chandlers Das hohe Fenster zeigt:
Eine langbeinige blonde Frau, Typus Showgirl, lag in einen der Lehnstühle hingelümmelt. [...] Sie sah uns ge-langweilt an, als wir über das Gras kamen. Aus zehn Meter Entfernung sah sie wie einsame Spitzenklasse aus.
Aus drei Meter Entfernung sah sie wie etwas aus, was nur aus zehn Meter Entfernung gesehen werden sollte. Ihr Mund war zu groß, ihre Augen waren zu blau, ihr Make-up war zu heftig, der schmale Bogen ihrer Augenbrauen war fast fantastisch lang, und auf ihren Wimpern war die Tusche so dick aufgetragen, daß sie wie Miniatureisen-stäbe aussahen. (Das hohe Fenster, 46)
Auf den ersten Blick handelt es sich hierbei um die Beschreibung einer schönen Blodine, die scheinbar zum Typ des „blonden Vamps“ gehört, der sehr häufig in Krimis vorkommt, insbesondere in den Krimis der amerikanischen ›hard-boiled school‹, und vor allem in Raymond Chandlers Ro-manen.117 So geht der Leser zu Beginn der oben zitierten Passage leicht davon aus, dass diese langbeinige blonde Frau, Typus Showgirl wie üblich als verführerisch und perfekt schön beschrie-ben würde, und erlebt bei der darauffolgenden thematischen Spezifizierung eine Überraschung. Das Besondere an diesem Beispiel ist allerdings der gezielte Einsatz der Schreibtechniken, mit denen Raymond Chandler entgegen den anfänglichen Erwartungen des Lesers das Aussehen der blonden Frau effizient und effektiv beschreibt. Kompakt angewendet werden Schreibtechniken wie die Kon-trastierung (Aus zehn Meter Entfernung sah sie wie einsame Spitzenklasse aus. Aus drei Meter Ent-fernung sah sie wie etwas aus, was nur aus zehn Meter EntEnt-fernung gesehen werden sollte), die Aufzählung (Ihr Mund war zu groß, ihre Augen waren zu blau, ihr Make-up war zu heftig, der schmale Bogen ihrer Augenbrauen war fast fantastisch lang), die Hyperbel sowie Vergleiche und Formen der Metaphorik (auf ihren Wimpern war die Tusche so dick aufgetragen, daß sie wie Mini-atureisenstäbe aussahen). Insgesamt lässt sich sagen, dass die Charakterisierung dieser Figur zwar kurz und knapp formuliert wird, aber durch die Anwendung der unterschiedlichen Stilmittel überaus eindrucksvoll wirkt und zugleich den erwünschten Unterhaltungs- und Überraschungseffekt erzeugt.
Das Beispiel zeigt, dass im Kriminalroman ein raffiniertes Spiel mit Erwartung und Überraschung nicht nur in großem Umfang, sondern auch kleinformatig zum Einsatz kommen kann.
Ein weiteres Beispiel soll deutlich machen, wie verschiedengestaltig bzw. wie wirksam es für die Erzeugung des Überraschungseffekts bzw. die sprachliche Realisierung der Originalität und der Unterhaltsamkeit ist, dass der Autor absichtlich den Erwartungen des Lesers entgegenarbeitet. In Stieg Larssons Verdammnis benutzt der Autor im Rahmen des realistischen, actiongetriebenen und multiperspektivisch erzählten Thrillers, in dem ansonsten nur von Menschen die Rede ist, aus hei-terem Himmel einen Fuchs als Perspektivfigur und Augenzeugen. Ausschlaggebend für die erzielte Wirkung ist der sorgfältig ausgewählte Text-Zeitpunkt für den Einsatz dieses überraschenden Tier-Textelements. Das heißt, nach dem Showdown gegen Romanende wird erzählt, wie die Heldin Lisbeth Salander von den bösen Gegnern getötet und begraben wird, sodass der Leser gespannt
„Und dann?“ fragt und ungeduldig auf die Schilderung wartet, wie der dringend nach ihr suchende Held Mikael Blomkvist sie endlich findet. Stattdessen liest der Leser völlig unerwartet die folgen-den beifolgen-den Textstellen:
117 M.E. kommt das Klischee „Blondinen bevorzugt“ in Krimis sehr häufig vor: Es gibt zahlreiche Beispiele für die übliche Rollenverteilung von der schönen, sexy Blondine als typischem Opfertyp bei Serienmorden (d.h. immer noch schöne oder nicht mehr schöne Leichen) oder eiskalte, männermordende Mörderinnen. Eine solche Anwendung der Stereotypen steht im engen Zusammenhang mit der textuellen Gestaltungstradition des Kriminalromans sowie mit der Präzedenz bzw. Präferenz der Krimiautoren.