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3.3 Spielarten des Referierens im Kriminalroman

3.3.3 Das Identifizieren eines bestimmten Gegenstandes

zu Hause ermordet aufgefunden. Der Mann wurde enthauptet signalisiert der Autor z.B. mit der Verwendung der definiten Kennzeichnung der Mann, dass er einen bestimmten Mann meint und an dieser Stelle der Kommunikation diesbezügliches Identifikationswissen beim Leser voraussetzt. Da es sich hierbei um aufeinanderfolgende Äußerungen handelt und der Leser weiß, dass ein Ehepaar normalerweise aus einem Mann und einer Frau besteht, kann er erfolgreich den Mann des vorer-wähnten Ehepaars als gemeinten Gegenstand identifizieren.

Zu beachten ist, dass im Kriminalroman die oben genannten Referenzmittel zur Neueinführung und Koreferenz von Figuren in diversen Kombinationen zum Einsatz kommen. Ausgehend davon, dass im Text im Wesentlichen von denselben Figuren die Rede sein muss, zieht der Leser die ent-sprechenden Rückschlüsse über sie und ordnet die derart vermittelten Wissenselemente in sein Bild von den Figuren ein. So leistet die Verwendung einer bunten Palette von Referenzausdrücken einen wichtigen Beitrag zum Wissensaufbau und zur thematischen Organisation (vor allem zur themati-schen Spezifizierung) im Kriminalroman. Besonders verbreitet ist u.a. die Verwendung variierender, nicht bedeutungsähnlicher definiter Kennzeichnungen zur Koreferenz bzw. identifizierenden Refe-renz, mit denen der Autor (1) eine bereits eingeführte Figur an entfernten Textstellen identifizieren und erneut auf sie Bezug nehmen, (2) sie durch zusätzliche Angabe ihrer Eigenschaften charakteri-sieren bzw. nebenbei Informationen über sie vermitteln und (3) das Prinzip der Variation im Aus-druck bzw. das Prinzip der Originalität und Unterhaltsamkeit (vgl. Abschnitt 2.3.5.3) realisieren kann. Darauf gehen wir im Folgenden näher ein.

vielen Figuren in der Romanwelt die rothaarige Eheberaterin als Redegegenstand zu identifizieren.

Allerdings dient die innovative Verwendung der definiten Kennzeichnung der Waldbrand nicht nur zur identifizierenden Referenz, zur bildhaften Figurencharakterisierung und zum Prinzip der Origi-nalität und Unterhaltsamkeit, sondern auch zur strategischen Wissensvermittlung: Zu einem späte-ren Text-Zeitpunkt wird eine aufgefundene Leiche mit den Äußerungen „Und das Schönste war der rote Kranz, der sich um den Kopf der Leiche gebildet hat. [...] Im gleißenden Hochsommerlicht ha-ben die Haare [...] geleuchtet [...], Waldbrand nichts dagegen“ (163f.) beschrieha-ben, sodass der Le-ser sofort daraus schließen kann, dass es sich bei der Toten um die ihm unter der definiten Kenn-zeichnung der Waldbrand bekannte Figur handelt. Die gezielte Verwendung der definiten Kenn-zeichnung ermöglicht es ihm, eine Referenzidentität anzunehmen und die Tote als die rothaarige Eheberaterin zu identifizieren.

Ein weiteres Beispiel soll zeigen, wie der Autor durch definite Kennzeichnungen zusätzliches Wissen über den Referenzträger einführen kann, das sich später überraschend als zentral für den Mordfall erweist. Mit den Worten der Ich-Erzählerin Meine Chefin, die einen Freund will, der nicht schwul ist, alle seine Haare hat und mindestens hunderttausend pro Jahr verdient, verfolgt andere Ziele als ich (das geringfügig angepasste Beispiel stammt aus Darf ’s ein bisschen mehr sein? von Meg Cabot, 35) werden scheinbar beiläufig Informationen über ihre Chefin durch Nominalphrasen mit Relativsätzen geliefert. Erst gegen Romanende erkennt der Leser, dass diese Informationen eng mit dem Tatmotiv zusammenhängen, denn besagte Chefin hat einen derartigen Heiratskandidaten gefunden und ihre Rivalinnen aus dem Weg geräumt. Die Verwendung dieser definiten Kennzeich-nung und der darauf bezogenen Wissensvermittlungsstrategie bewirkt ein Aha-Erlebnis, wenn der Leser im Nachhinein weit voneinander entfernte Textstellen aufeinander bezieht und somit erst nachträglich die Bedeutung dieser Zusatzinformationen über die Chefin begreift. Die beiden Bei-spiele zeigen, dass der Krimiautor definite Kennzeichnungen zur identifizierenden Referenz benut-zen und zugleich diverse Ziele, insbesondere eine strategische Wissensvermittlung, erreichen kann.

Wie oben kurz angeschnitten, besteht eine Spielart der identifizierenden Referenz im Krimi-nalroman darin, eine Referenzidentität zwischen bestimmten Gegenständen in der jeweiligen Ro-manwelt zuzuordnen. Krimitypisch ist vor allem die Identifizierung einer Figur als der gesuchte Täter (vgl. Abschnitte 4.2.3, 6.2.2.3 und 7.3.2) oder der aufgefundenen Leiche eines Mordopfers (vgl. Abschnitte 6.2.3 und 6.4.2). Seit Veröffentlichung von Gottlob Freges Aufsatz „Über Sinn und Bedeutung“ (1892, in: Frege 1969) wird angenommen, dass Referenzgleichheit auch durch sprach-liche Ausdrücke mit unterschiedsprach-lichem Sinn erreicht werden kann.165 Identitätsaussagen der Form

165 Frege unterscheidet zwei unterschiedliche Aspekte der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke: Den einen nennt er Sinn und meint damit den innersprachlichen Begriffsbezug, den anderen nennt er Bedeutung (im Sinne der heutigen Referenz) und meint damit den Bezug auf außersprachliche Referenten. Mit der Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung (Referenz) versucht Frege ein Dilemma zu lösen, das die beiden Arten von Aussagen der Gleichheit betrifft: zum einen Identitätsaussagen der Form „a = a“, die zwar a priori immer wahr, aber zugleich tautologisch und trivial sind; zum anderen Identitätsaussagen der Form „a = b“, bei denen es sich allem Anschein nach um zwei verschiedene Gegenstän-de hanGegenstän-delt, die unmöglich iGegenstän-dentisch sein könnten. Frege unterscheiGegenstän-det in Bezug auf IGegenstän-dentitätsaussagen Gegenstän-der Form „a = b“ zwischen den sprachlichen Ausdrücken a und b (Sinn) und den mit a und b bezeichneten Gegenständen (Referenz).

Er geht davon aus, dass „a = a“ und „a = b“ Sätze mit unterschiedlichem Erkenntniswert sind: „a = a gilt a priori und ist Kant zufolge analytisch zu nennen, während Sätze der Form a = b oft sehr wertvolle Erweiterungen unserer Er-kenntnis enthalten und a priori nicht immer zu begründen sind“ (Frege 1892, 40). Dies erläutert er anhand der

folgen-„a = b“ verwendet man häufig, um dem Kommunikationspartner mitzuteilen, dass es sich bei dem Gegenstand, den dieser zuvor unter der Bezeichnung a kannte, um denselben Gegenstand handelt, auf den man sich durch den Ausdruck b bezieht. Auch im Kriminalroman ist es gang und gäbe, dass der Autor einen bestimmten Gegenstand (z.B. die übel zugerichtete Leiche eines Menschen, ver-mutlich Opfer eines Mordes) durch Äußerungen von Figuren (z.B. Der Tote ist X) oder Darstellun-gen als referenzidentisch mit einem anderen GeDarstellun-genstand identifiziert. Beim oben Darstellun-genannten Bei-spiel aus Silentium! von Wolf Haas wird die Tote etwa durch die gezielte Beschreibung ihrer roten Haare als die Figur, die dem Leser zuvor u.a. unter der definiten Kennzeichnung der Waldbrand bekannt war, identifiziert. Auf diese Weise findet ein Zuordnungsakt statt, wodurch die Referenzi-dentität der unbekannten Toten und dieser Figur erklärt wird. Da ein solcher Zuordnungsakt der Referenzidentität eine essenzielle Rolle beim Wissensmanagement im Kriminalroman spielt, wer-den wir später noch anhand von Textbeispielen näher darauf eingehen.

Zur identifizierenden Referenz im Kriminalroman ist darüber hinaus zu bemerken, dass der Autor mit der Verwendung von Eigennamen und definiten Kennzeichnungen auch einen bestimm-ten Gegenstand in der realen Welt oder in einer anderen Romanwelt identifizieren kann. Zum einen kann der Autor Bezüge zu wirklichen Personen, Orten, Geschehnissen usw. mit den fiktionalen Be-zügen vermengen, damit der Leser die jeweilige Romanwelt mehr oder weniger als „eine Erweite-rung unseres vorhandenen Wissens“ (Searle 1998, 95) betrachtet. So lässt Sir Arthur Conan Doyle seinen in fiktiven Kriminalfällen ermittelnden Meisterdetektiv Sherlock Holmes in der realen Groß-stadt London leben, um den Geschichten ein realistisches Flair zu verleihen. Zum anderen bezieht sich ein Krimiautor häufig auf eine fiktionale Gestalt außerhalb seiner eigenen Romanwelt, die in der Wirklichkeit populär geworden ist, um unterschiedliche kommunikative Zwecke zu erfüllen.166

den Beispiele: Während Der Morgenstern ist der Morgenstern als analytisch, tautologisch und immer wahr gilt, muss der Wahrheitswert von Der Morgenstern ist der Abendstern dagegen überprüft werden. In diesem Fall haben die Aus-drücke der Morgenstern (‚der Stern, der am Morgen leuchtet‘) und der Abendstern (‚der Stern, der am Abend leuchtet‘) zwar nicht den gleichen Sinn, jedoch die gleiche Referenz, weil mit beiden Ausdrücken in der Äußerung auf den glei-chen Gegenstand (nämlich die Venus) Bezug genommen wird. Der Verschiedenheit der sprachliglei-chen Ausdrücke ent-spricht ein Unterschied in der Art des Gegebenseins des bezeichneten Gegenstandes: Die Ausdrücke der Morgenstern und der Abendstern sind zwar nicht sinngleich (intensional gleich), aber referenzidentisch (extensional gleich). Kurz:

Sprachliche Ausdrücke, die nicht synonym sind, können referenzidentisch gebraucht werden. Da Identitätsaussagen der Form „a = b“ quasi durch die beiden nicht sinngleichen Ausdrücke zwei Identifizierungsweisen des gemeinten Gegen-stands enthalten, haben sie einen informativen Wert und gelten somit als sinnvoll (vgl. Frege 1892, in: Frege 1969, 40ff.;

Tugendhat/Wolf 1993, 172ff.; Vater 2005, 29f.). Die beiden im Zusammenhang mit Freges logischer Auseinanderset-zung mit dem Wahrheitswert genannten Arten von Identitätsaussagen kommen in der Sprachpraxis sehr häufig vor. Die meisten Sprachbenutzer sind in der Lage, derartige Sätze einwandfrei zu äußern und zu verstehen, selbst wenn sie nicht mit der Logik bzw. dem Wahrheitswert solcher Identitätsaussagen vertraut sind. In der Umgangssprache verwendet man oft Identitätsaussagen der Form „a = a“ (vgl. ausführlich Fritz 1981), die Frege zufolge zwar immer wahr, gleichzeitig aber tautologisch und trivial sind, um zu betonen, dass besagter Gegenstand bestimmte charakteristische Eigenschaften hat und folglich nun einmal so und nicht anders ist, z.B. Krieg ist Krieg, Geschäft ist Geschäft, Ein Kind ist ein Kind, Meine Mutter ist meine Mutter.

166 Searle zufolge werden fiktionale Gegenstände durch die vorgebliche Bezugnahme erzeugt bzw. durch das Weiterre-den über sie charakterisiert, sodass sie in der jeweiligen Romanwelt existieren und man über sie qua fiktionale Gestalten reden kann (vgl. Searle 1969, 78f.; Searle 1998, 92ff.). So kommt es, dass Sherlock Holmes zwar nicht in der Realität, durchaus aber in der Romanwelt der Sherlock-Holmes-Geschichte von Sir Arthur Conan Doyle existiert. Ferner kann man sich auf Sherlock Holmes als fiktionale Gestalt beziehen und Feststellungen treffen (z.B. Sherlock Holmes hat nie geheiratet), deren Zutreffen anhand der Sherlock-Holmes-Geschichten verifizierbar ist. Hierzu bemerkt Searle: „in fic-tional talk one can refer to what exists in fiction (plus such real world things and events as the ficfic-tional story incorpo-rates)“ (Searle 1969, 79). Mehr zu Arten der Welterzeugung vgl. Goodman 1990.

In solchen Fällen muss der Autor allerdings bei der Textproduktion den Grad des Identifikations-wissens seines Lesers einschätzen, es mit den geeigneten Referenzausdrücken ansprechen und unter Umständen nicht vorhandenes Wissen auf Seiten des Lesers an der betreffenden Textstelle sichern bzw. bereitstellen, um eine erfolgreiche Referenz zu ermöglichen.167 Hält der Autor das Identifika-tionswissen seines Lesers für ausreichend, um den gemeinten Gegenstand in der realen Welt oder in einer anderen Romanwelt zu identifizieren, verwendet er in der Regel nur Eigennamen zur identifi-zierenden Referenz (z.B. „Ich bin brillant! Vielleicht besitze ich den genialsten detektivischen Spür-sinn seit Sherlock Holmes!“, Darf ’s ein bisschen mehr sein? von Meg Cabot, 329).168 Anderenfalls benutzt er zur Referenzklärung noch eine in Apposition stehende definite Kennzeichnung, um die identifizierende Referenz mit dem Eigennamen (die im Grunde gelungen ist, weil der Leser auf-grund der Verwendung des Eigennamens annehmen kann, dass eine bestimmte Person gemeint ist, selbst wenn er noch nie von ihr gehört hat) näher zu erläutern und somit mögliche verständnisstö-rende Referenzprobleme von vornherein zu vermeiden (z.B. „Offenbar schwärmt Mrs. A nicht für Martha Stewart, die Home and Garden-Expertin“, ebd., 387). Zwar spielen im Rahmen eines Kri-minalromans solche Bezüge zu wirklichen Gegenständen und fiktionalen Gestalten in anderen Ro-manwelten im Vergleich zu den Bezügen zu fiktionalen Gegenständen in der jeweiligen Romanwelt eine eher untergeordnete Rolle, aber sie tragen beachtlich dazu bei, die Geschichte zu bereichern.