Cassidy (1994) stellt ein Modell zur Verbindung von Bindungsgeschichte und emotionaler Regulation vor. Ihre Überlegungen beruhen auf der Annahme, dass die kindliche Emotionsregu-lation als Teil einer adaptiven Strategie betrachtet werden kann. Die Strategie enthält, in Reakti-on auf eine Fürsorgegeschichte, die FunktiReakti-on der Erhaltung der Beziehung mit der Bindungsfi-gur. Für sichere, unsicher-vermeidende und unsicher-ambivalente Kinder entwickelt sich so jeweils ein anderer Emotionsregulationsstil. Handlungstheorie und Selbstbestimmungstheorie lassen sich mit diesem Modell verknüpfen, wodurch sich die Hypothesen der Bindungstheorie bezogen auf die emotionale Regulation der Kinder mit unterschiedlicher Bindungssicherheit präzisieren lassen. Im Folgenden werden die Bindungsmuster und ihr Verhalten einzeln darge-stellt und mit Bindungstheorie, Handlungstheorie und Selbstbestimmungstheorie erklärt.
1.4.1. Sicher gebundene Kinder
Cassidy (1994) argumentiert, dass negative Emotionen wie Ärger und Angst für sicher gebundene Kinder mit mütterlicher sympathischer Unterstützung assoziiert werden, da auf diese
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Signale angemessen und prompt von den Müttern reagiert wurde. So sind die negativen Emoti-onen weder mit Verleugnung oder irgendeiner Verletzung des Kindes verbunden. Das Kind wird dadurch fähig, aversive Emotionen kurzzeitig zu tolerieren. Dadurch hat es Zugang zu seinen Emotionen, kann so Sinn oder Ursache der frustrierenden oder konfliktreichen Situation erfahren und hat Zeit, eine adaptive Copingreaktion zu suchen.
Erklärt man das Verhalten der sicheren Kinder mit Kuhls Handlungstheorie (Kuhl &
Kraska, 1989), so verhalten sich diese volitional kompetent, sind also handlungsorie ntiert. Das heißt sie handeln je nach Situation selbstkontrolliert oder selbstreguliert. Der volitionale Inter-ventionszyklus funktioniert. Kommt es also zu einer Handlungsschwierigkeit, so sollte bei si-cher gebundenen Personen als erstes der Freezing-Mechanismus einsetzen, der die momentane Handlung stoppt und zu einem Vergleich zwischen emotionaler und kognitiver Präferenz führt.
Da sicher gebundene Kinder Zugang zu ihren Emotionen haben sollten (s.o.), können sie diese zur Handlungsregulation verwenden. Das heißt, sie sollten je nach Situation, entweder ihre Ver-pflichtung (commitment) beibehalten und ihr Ziel weiterverfolgen oder der emotionale n Präfe-renz nachfolgen und die Handlung abbrechen und nach Alternativen suchen.
Erklärt man das Verhalten der sicheren Kinder mit der Selbstbestimmungstheorie von De-ci und Ryan (2000), so handeln diese selbstreguliert. Das heißt, sie sind weitgehend emotional integriert, sollten also auch in Situationen, in denen sie external motiviert sind, ein relativ hohes Maß an persönlicher Autonomie zeigen. Es wird erwartet, dass sie weder aufgrund von externa-ler Regulation oder Introjektion handeln, sondern entweder identifiziert oder integriert. Daraus lassen sich vergleichbare Aussagen wie bei Kuhl ableiten. Da ihr Verhalten somit meist auf persönlich wichtigen Werten und Zielen begründet ist, werden alle Systeme am Handeln betei-ligt. Dadurch sollte Situationseinschätzung und Handlung ebenfalls realistisch sein, da keine Informationen (oder Emotionen) unterdrückt werden. Ihr Verhalten sollte, auf unterschiedlichen Ebenen betrachtet, kongruent sein, d.h. alle Systeme arbeiten zusammen, keines wird unter-drückt.
Insgesamt sollten bei einer sicheren Bindung alle Systeme einander in optimaler Weise ergänzen. Dies entspricht theoretischen Vorstellungen, wie sie Crittenden (1995) formuliert und Spangler und Zimmermann (1999) auf das Verhalten sicherer Kinder in Leistungssituationen übertragen haben. Sicher gebundene Kinder sollten in Leistungssituationen auftretende Emotio-nen „unverfälscht“ erleben und sie ihrer Funktion entsprechend unter Berücksichtigung kognit i-ver Bewertungsprozesse in ihre Verhaltensregulation einbeziehen und somit eine günstige Basis für die Organisation von Problemlöseprozessen schaffen (Spangler & Zimmermann, 1999, S.
95).
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1.4.2. Unsicher-vermeidend gebundene Kinder
Bei unsicher-vermeidenden Kindern ergibt sich ein anderes Muster (Cassidy, 1994). Eine Aktivierung des Bindungssystems führt entsprechend ihrer Bindungsgeschichte konsistent zu einer Ablehnung durch die Bindungsperson. Das Kind lernt, dass manche Emotionen nicht ak-zeptabel sind. Dadurch entwickelt es Misstrauen und Vermeidung gegenüber der Fürsorgeper-son. Es beginnt Emotionen zu regulieren, indem es den Ausdruck gegenüber der Fürsorgeperson minimiert, um so die Nähe in der Beziehung zu erhalten. Cassidy (1994) bezieht sich auf Stu-dien, in denen manche Kinder, solange sie nicht gestresst sind, responsiv mit den Eltern umge-hen. Sobald sie aber gestresst waren, unterdrückten sie negative Emotionen, um die Einbezie-hung der Fürsorgeperson zu erhalten. Die Kosten des Kindes sind konstante emotionale Vig i-lanz und Unterdrückung von normalem Distress. Dadurch ziehen die Kinder nicht den entspre-chenden Nutzen aus der Situationsbewertung durch die Emotionen. Die Entwicklung von adap-tivem Problemlösen und Unterstützung suchenden Copingstrategien könnte für unsicher gebun-dene Kinder kurzgeschlossen sein. Auch Crittenden (1995) und Spangler und Zimmermann (1999) zufolge sollte es bei Personen mit einem „distanziert-vermeidenden“ Arbeitsmodell in einer Anforderungssituation, die emotionale Regulation erfordert, zu einer eingeschränkten Nutzung emotionaler Informationen kommen und damit zu einer Überbewertung der kognitiven Information. Dadurch sollte eine angemessene, realistische Regulation nicht mehr möglich sein.
Interpretiert man dieses Verhalten mit Kuhls Handlungstheorie (Kuhl & Kraska, 1989), so handeln vermeidende Kinder selbstkontrolliert. Kommt es zu einer Handlungsschwierigkeit, so sollten vermeidende Kinder dies entweder später merken, oder einfach nicht aufgrund der emo-tionalen Präferenz handeln. Ihr emotionales System ist unterdrückt, so dass es schwerer fällt, die Emotionen zur Handlungssteuerung zu verwenden. Um die emotionale Präferenz zu unterdrü-cken, müssen sie mehr und länger volitionale Kontrollstrategien einsetzen. Dafür benötigen sie Kapazität, die ihnen zur realistischen Situationsbewertung fehlt. Nach Kuhl (1994) kommt es bei external internalisierten Intentionen zu einer zu starken Festlegung auf ein Handlungsziel, wobei die situativen Bedingungen, bei denen das Ziel erreicht werden kann, nicht bekannt sind.
Genau das könnte bei unsicher-vermeidenden Kindern der Fall sein (z.B. „Stark sein, nicht wei-nen.“,...). Sie sollten folglich bei Handlungsschwierigkeiten länger dasselbe Verhalten zeigen und, da sie die Handlungsschwierigkeit nicht sofort wahrnehmen, ihre eigenen Lösungsmög-lichkeiten überschätzen. Zur Unterdrückung des holistischen Systems und damit der im System unpassenden Emotionen wird langfristige negative Emotionalität benötigt (Kuhl & Fuhrmann, 1998). Bei unsicher-vermeidenden Kindern sollte sich mehr negative Emotionalität finden. Da-bei ist unklar, ob diese negative Stimmung auch am Emotionsausdruck der Kinder ersichtlich wird. Cassidy (1994, siehe oben) weist darauf hin, dass es für unsicher-vermeidende Kinder
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keinen Sinn macht, in der Beziehung mit der Bindungsperson negative Emotionen auszudrü-cken. Diese dürfen sie auf Grund der display rules, die Cassidy (1994) beschreibt, nicht zeigen.
Zwischen Situation, Ausdruck, Gefühl, Erwartung und Handlung sollte es also bei unsicher-vermeidenden Kindern Widersprüche geben.
Interpretiert mit der Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan (1985) sind vermei-dende Kinder weniger autonom reguliert und besitzen eher eine kontrollierte Kausalitätsorie n-tierung. Sie handeln aufgrund von introjizierten Werten oder direkter externaler Kontrolle. Wer-te und Ziele sind nicht ihre eigenen, wurden ihnen nicht erklärt, sie konnWer-ten sie nicht selbst ent-wickeln, sondern bekamen sie aufgezwungen. Deshalb müssen sie alle Nachteile, die introjizie r-te Regulation mit sich bringt, in Kauf nehmen. Die Kinder handeln aufgrund von inr-ternalen Belohnungen und Bestrafungen, da die Werte internalisiert wurden, aber nicht akzeptiert. Ihre Emotionen müssen sie unterdrücken, das kostet Aufmerksamkeit und Energie und die fehlt bei der adaptiven Auseinandersetzung mit der Umwelt. Ist man gezwungen aufgrund von Regeln zu handeln, die nicht die eigenen sind, die also auch nie ganz verstanden wurden, so kann man sich schlechter an Situationsveränderungen anpassen, da man die Ausnahmen von der Regel auch nicht kennt. Die Selbstbestimmungstheorie kommt also zu vergleichbaren Aussagen wie die Handlungstheorie. Während bei Personen mit einer autonomen Kausalitätsorientierung eher alle drei „basic needs“ befriedigt werden (Deci & Ryan, 1985), sollten Personen mit einer kontrol-lierten Kausalitätsorientierung wenig soziale Einbindung erfahren. Dafür werden ihre Bedürf-nisse nach Kompetenz und Autonomie (etwas eingeschränkt, da Autonomie und soziale Einbin-dung verbunden sind) befriedigt.
1.4.3. Unsicher-ambivalent gebundene Kinder
Unsicher-ambivalente Kinder erfahren ihre Bindungsperson als inkonsistent verfügbar (Cassidy, 1994). Ihre Strategie ist die Verstärkung der Bedeutung der Beziehung und das Zeigen von extremer Abhängigkeit von der Bindungsperson. Angenommen wird, dass unsicher ambi-valent gebundene Kinder den negativen Affekt verstärken, um mehr Aufmerksamkeit von der Mutter zu bekommen. Ihr Bindungssystem ist demnach chronisch aktiviert, da eine Beruhigung bedeuten würde, dass das Kind den Kontakt zu der inkonsistent verfügbaren Bindungsperson verliert. Die Kinder reagieren auf relativ harmlose Stimuli sehr ängstlich. Erwartet wird, dass sie eine größere negative Reaktivität zeigen als sie aktuell fühlen.
Thompson (1994) zufolge warten die Eltern mit dem Eingreifen, bis ihr Kind sehr stark aufgeregt ist, mit dem Erfolg, dass sie das schnelle Anwachsen der emotionalen Intens ität und den Stress dadurch verstärken. Dies führt wiederum dazu, dass es schwerer für die Eltern wird, ihre Kinder zu beruhigen.
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Da meist nur 10 Prozent der untersuchten Kinder eine ambivalente Bindung zur Mutter zeigen, existieren kaum Studien, in denen das Verhalten systematisch erforscht wurde. Cassidy (1994, im Überblick: Cassidy & Berlin, 1994) weist auf Studien hin, bei denen die ambivalenten Kinder ängstlicher und gehemmter im Umgang mit Spielzeug und Peers waren.
Crittenden (1995) und Spangler und Zimmermann (1999) zufolge kommt es bei Personen mit einem „unsicher-verwickelten“ Arbeitsmodell in einer Anforderungssituation, die emotiona-le Regulation erfordert, zu einer Einschränkung auf emotionaemotiona-le Bewertungsprozesse, während kognitive Prozesse im Hintergrund stehen. Diese emotionalen Prozesse können aber nicht effek-tiv genutzt werden.
Interpretiert man das Verhalten der ambivalenten Kinder mit der Handlungstheorie (Kuhl
& Kraska, 1989), so wird erwartet, dass sie bei Handlungsschwierigkeiten die emotionale Präfe-renz betonen. Sie sollten dann weniger wahrscheinlich eine Verpflichtung bilden, das intendie r-te Handlungsziel weir-ter zu verfolgen. Demnach sind sie impulsiver, hande ln eher aufgrund von momentanen Bedürfnissen und Neigungen als aufgrund von langfristigen Zielen. So kann man annehmen, dass unsicher-ambivalente Kinder vermehrt Verhaltensmerkmale der Lageorientie-rung ze igen.
Interpretiert mit der Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan (2000) , kommt es bei unsicher-ambivalenten Kindern nicht zu einer angemessenen emotionalen Integration, sie sind ebenfalls weniger autonom. Auch sie handeln eher aufgrund von introjezierten Werten oder direkter externaler Kontrolle. Auf dem oben (siehe Kapitel 1.3.2.5) beschriebenen Kontinuum von Ryan et al. (1995) wären unsicheambivalente Kinder dem Extrem der zu wenig regulie r-ten Kinder, mit eher impersonalen Kausalitätsorientierungen (Deci & Ryan, 1985) zuzuordnen.
Demnach erfahren sie soziale Einbindung in einer eingeschränkten Art und Weise. Ihre Bedürf-nisse nach Autonomie und Kompetenz werden aber kaum befriedigt, was zu einer geringen Kontrollüberzeugung im Leistungsbereich und geringen Leistungen führen sollte.
Unsicher-ambivalente Kinder sollten mehr Hilfe suchen, da sie eine geringere Kontroll-überzeugung besitzen und schneller aufgeben und um die Beziehung zur Fürsorgeperson zu erhalten und deren Bedeutung zu verstärken (siehe Cassidy, 1994). Ihr Leistungsverhalten sollte unter stressreichen, frustrierenden Bedingungen schlechter sein als das der sicheren und ver-meidenden Kinder.