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6.5 Der Beziehungsaufbau zum Kind

Der Beziehungsaufbau wird in der Literatur häufig mit dem Begriff der Bindung be-schrieben. Das Konstrukt der Bindung wurde basierend auf Grundlagen aus Lern-theorie, Psychoanalyse und Humanethologie für die Entstehung einer engen, intensi-ven emotionalen und individuellen Beziehung in den wissenschaftlichen Sprach-gebrauch eingeführt (SCHNEIDER, 1989). Dabei ist der Bindungsprozess kein iso-liertes Phänomen nach der Geburt, sondern dieser beginnt schon in bzw. vor der Schwangerschaft in der Fantasie der Mutter (HARBAUER, 1979).

Während ganz zu Beginn der Schwangerschaft das Kind als Teil des eigenen Kör-pers bzw. Mutter und Kind als eine Einheit erlebt werden, beginnt mit Fortschreiten

der Gravidität eine zunehmende Differenzierung zwischen dem mütterlichen Selbst und dem Ungeborenen (MALL-HÄFELI & PÖLDINGER, 1987; RAPHAEL-LEFF, 1983).

Die Ernährungsumstellung, Verzicht auf Alkohol und Nikotin waren ein Hinweis, dass die Frau das Ungeborene als eigenes Wesen begreift (NECKERMANN, 1998). Die Befunde von (LEIFER, 1977, 1980) weisen auf eine kontinuierliche Entwicklung müt-terlicher Gefühle ohne sprunghafte quantitative Veränderungen hin.

Der erste Schritt des Bindungsprozesses besteht nach MERTIN (1986) in der Identi-fikation der werdenden Mutter mit ihrem Ungeborenen, welche von wachsender emo-tionaler Beteiligung begleitet wird. Zunehmend genauere und differenziertere Fanta-sien lenken den Fokus der Gedanken auf den Föten und schließlich auf das erwarte-te Neugeborene.

Die neuen Techniken der pränatalen Diagnostik haben nun für den Aufbau der elter-lichen Vorstellungen vom Kind einen historisch neuen Stellenwert. Sie regen die El-tern an, bereits ab der 10.-14. Schwangerschaftswoche eine detaillierte kognitive Repräsentation von ihrem Kind zu entwickeln, nach dem ihnen vom Arzt Ultra-schallabbildungen des kindlichen Körpers auf dem Monitor gezeigt wurden (GLOGER-TIPPELT, 1988).

MILNE & RICH (1981) waren der Ansicht, dass die Sonografie in den meisten Fällen Gefühle der Zuneigung fördert und zur Identifikation der Frauen mit dem Kind bei-trägt. Geschlossen wird daraus auf einen Beitrag der Ultraschalluntersuchung zur Entstehung von Bindung. Verschiedene Autoren meinen, die Sichtbarmachung des Fötus fördert die Bindung unmittelbar (KOHN et al., 1980, MILNE & RICH, 1981, READING & COX, 1982).

Offenbar sind auch die werdenden Eltern dieser Meinung, wenn sie zur Ultraschall-untersuchung gehen. Bei einer Untersuchung von EURENIUS et al. (1997) erwarte-ten 64% der Frauen und 62% der Männer eine Förderung der Beziehung zum Kind von der Ultraschalluntersuchung.

Bei den Frauen unserer Untersuchung vermuteten nur 37,5% einen Einfluss der Ult-raschalluntersuchung auf die Beziehung zum Kind, bei den Männern waren es 50%.

Insgesamt wurde der Einfluss der Ultraschalluntersuchung auf die Beziehung zum Kind höher eingeschätzt als tatsächlich empfunden. Die Teilnehmer/innen erlebten, dass durch die Ultraschalluntersuchung die erwartete Intensivierung der Beziehung

zum Kind nicht im erhofften Ausmaß stattfand. Bei den Mehrgebärenden war diese Einschätzung noch ausgeprägter, sie gingen davon aus, dass die Ultraschalluntersu-chung keinen Einfluss auf die Beziehung zum Kind hat.

Auf die konkrete Nachfrage, welchen Einfluss die Ultraschalluntersuchung auf die Eltern- Kind- Beziehung haben könnte, schätzen die Teilnehmer/innen den Einfluss auf die „Sicherheit“, „die Liebe zum Kind“, „das Zusammengehörigkeitsgefühl“, „die Vorstellung vom Kind“ und „den Genuss der Schwangerschaft“ hoch ein. Nach der Ultraschalluntersuchung fand jedoch eine Relativierung der Aussagen stattfand. Es kam sogar zur statistisch signifikanten Abnahme des Gefühls der Sicherheit und der Zusammengehörig. Bei dem Gefühl, eine „starke Beziehung aufgebaut“ zu haben, kam es bei den Frauen zu einer Intensivierung.

Nach der zweiten Untersuchung kam es bei den Frauen zu keiner Intensivierung der Beziehung zum Kind durch die Ultraschalluntersuchung, vielmehr waren bei den Items „Nähe zum Kind“, „an den Gedanken gewöhnt ein eigenes Kind zu bekommen“

und „starkes Gefühl der Liebe zum Kind" die Werte statistisch signifikant geringer.

Die Männer vermuteten zur Hälfte einen Einfluss der Ultraschalluntersuchung auf die Beziehung zum Kind. Diejenigen, die von einem Einfluss ausgingen, schätzten ihn jedoch hoch ein. Nach der Ultraschalluntersuchung kam es ebenfalls zur Relativie-rung der Aussagen. Die Männer erlebten eine statistisch signifikant Abnahme des

„Gefühls der Sicherheit“ und der „Liebe zum Kind“.

Die Aussagen legen nahe, dass diese Erwartungen bei vielen Untersuchungsteil-nehmer/innen nicht erfüllt wurden.

Beim Längsschnittvergleich (Vergleich t1 zu t2) vermuteten Frauen und Männer kei-nen Einfluss der Ultraschalluntersuchung auf die Beziehung zum Kind. Die Mittel-wertsunterschiede waren bei den Frauen hoch signifikant (vgl. Abbildung 67, S. 91).

Bei konkreter Nachfrage zeigte sich allerdings, dass die Ultraschalluntersuchung bei den Frauen einen Einfluss auf die Beziehung zum Kind vermuten lässt (vgl.

Abbildung 61, S. 86 und Abbildung 62, S. 87). Bei den Männern konnte diese Ent-wicklung nicht gezeigt werden. Die Veränderungen blieben eher gering oder es zeig-ten sich Relativierungen (vgl. Abbildung 65, S. 89 und Abbildung 66, S. 89).

Diese Ergebnisse sprechen für einen linearen Anstieg des Beziehungsaufbaus, wel-cher mit der Dauer der Schwangerschaft zusammenhängt und nur in einem geringe-ren Ausmaß durch die Ultraschalluntersuchung beeinflusst wird.

Unsere Ergebnisse decken sich somit nicht mit den Aussagen der Probanden von EURENIUS et al. (1997), von denen 72% der Frauen und 66% der Männer nach der Ultraschalluntersuchung sagten, die Bindung zum Kind hätte zugenommen.

Untersuchungen von READING & COX (1982) weisen allerdings darauf hin, dass die positivere Einstellung zu Schwangerschaft und Fötus durch die Ultraschalluntersu-chung eher ein Kurzzeiteffekt ist. Die Bindung zum heranwachsenden Kind zeigte dagegen einen signifikant linearen Anstieg über den Schwangerschaftsverlauf, der nicht in Bezug zur Ultraschalluntersuchung, sondern zur frühzeitigen Wahrnehmung der Kindsbewegungen ab der 16. Schwangerschaftswoche stand.

Hingewiesen wurde darauf, wie wichtig es ist, dass der betreuende Arzt während der Ultraschalluntersuchung herausfindet, ob die Frauen oder Paare einen dem Stadium der Schwangerschaft entsprechenden Entwicklungsstand erreicht haben oder ob in-nere Konflikte vorliegen, die einem normalen Beziehungsaufbau zum Kind entgegen-stehen. Von Bedeutung ist, ob die Frau in dieser Phase bereits erkennen lässt, ob sie sich auf ihre Mutterrolle einzustellen vermag oder ob innere Widerstände, Konflik-te mehr UnKonflik-terstützung z. B. durch ihre Familie erfordern oder ob eine professionelle Beratung angezeigt ist.

Ein normaler Beziehungsaufbau ist auch deshalb wünschenswert, weil Untersuchun-gen darauf hinweisen, dass bereits in der Schwangerschaft der Grundstein für die postnatale Beziehung zum Kind gelegt wird. So konnten STEELE & STEELE (1995) in einer Einzelfallstudie zeigen, dass sich die von der Mutter pränatal im Bindungsin-terview eingeschätzte Bindung nach der Geburt fortsetzt. Während die bereits vor der Geburt angedeutete sichere Bindung auch nach der Geburt fortdauert, zeigt sich umgekehrt bei distanzierter Bindungsrepräsentation bei der Mutter im pränatalen Bindungsinterview eine unsicher- vermeidende Beziehung des Kindes zur Mutter postnatal. Aus diesem Grund gibt es zunehmend die Tendenz, bereits pränatal Hilfen anzubieten, um den werdenden Eltern die Entwicklung von Vorstellungen über das Kind und die Interaktion mit ihm zu erleichtern (JERNBERG, 1988; MORRIS &

WERTHEIM, 1987; WELLER et al., 1987, GAERTNER & GAERTNER, 1992).