Teil I: Theoretische Grundlagen und einführende Diskussion
1. Diskurs, Sprache, Ideologie
1.5. Bewertungen (Einstellungen)
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Umstrukturierung von Konzepten handelt.16 In der letzten Phase erfolgt eine Konventionalisierung des Zeichens, so dass die ikonische oder assoziative Seite in den Hintergrund tritt und die symbolische oder regelbasierte Seite bei der Interpretation des Zeichens ausschlaggebend ist. Man könnte somit Kellers (1995, 173) Ansicht in Bezug auf die Icons modifizieren, indem man behaupten würde, dass es sich bei den ikonischen Zeichen tatsächlich um eine Art Neubeginn handle; dabei werden Symbole zu Ikonen nicht aus dem Grund eines Wissensverlustes in Bezug auf die Regeln des Gebrauchs, sondern dadurch, dass man versucht, die Regeln des Gebrauchs zu ändern, und zwar durch den Gebrauch des betreffenden Symbols in einem neuen Kontext. Die Tatsache, dass ein Symbol nicht nach seinen Gebrauchsregeln verwendet wird, veranlasst den Hörer dazu, sich bei der Interpretation des Zeichens dem Kontext zuzuwenden und in ihm nach der Motivation des Zeichens zu suchen. Die ikonische Seite des Zeichenprozesses wird aktualisiert, was eine neue Symbol-Ikon-Relation bewirken kann. In einem Diskurs wird versucht, durch verschiedene Kontextualisierungsstrategien ein Symbol im eigenen Interesse zu prägen und so die Einstellung in Bezug auf das Objekt des Zeichens bei seinem Gegenüber zu beeinflussen. Es handelt sich um die so genannten semantischen Kämpfe: semiotische Prozesse mit einem hohen Grad der Dialogizität und Andersheit, die Ponzio (2004) als ideologische Zeichen konzipiert hat (s. Abschnitt 1.3.2). Im Gegensatz zu Ponzio (2004) wertet Eco (1977; 1987) die Zeichen mit einer ‘festen’ Bedeutung als ideologisch.
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Diese Erweiterung des Werthorizonts vollzieht sich dialektisch. Neue, in den sozialen Interessenkreis einbezogene und sich dem menschlichen Wort und Pathos anpassende Seiten des Seins lassen die schon früher eingedrungenen Seinselemente nicht ruhen, sondern greifen sie an, werten sie um und weisen ihnen innerhalb der Einheit des Werthorizonts einen anderen Platz zu. Dieses dialektische Werden spiegelt sich im Werden der sprachlichen Bedeutungen wider. Ein neuer Sinn offenbart sich im alten und mit Hilfe des alten, doch nur mit diesem alten Sinn in Widerspruch zu treten und ihn umzugestalten. (Vološinov 1975, 172)
Esser (1999, 135) sieht in Werten eine besondere Form der kollektiven Repräsentation und somit einen Teil der sozialen Identität. Sie sind relativ „konstant in der Zeit“ und
„unempfindlich gegen Änderungen in ihrer Umgebung“ (ebd.). Die in einer Gesellschaft geteilten Werte ermöglichen „eine einigermaßen funktionierende Orientierung und ein verlässliches soziales Handeln“ (ebd.).
Ideologische Zeichen entstehen auf der Basis von Werten und drücken Einstellungen des Sprechers gegenüber den dadurch dargestellten Sachverhalten und Objekten aus. Als Kriterien einer ideologischen Wertung führt Vološinov (1975, 56) solche Größen wie „Lüge, Wahrheit, Richtigkeit, Gerechtigkeit, Güte usw.“ an. Wertende Einstellungen oder Bewertungen können in der Sprache auf unterschiedliche Art ausgedrückt werden: als explizite wertende Aussagen oder als implizite Bedeutungskomponenten. Im Einklang mit Vološinov (s. oben) weist (vgl.
Arutjunova 1998, 181) darauf hin, dass nicht alle Lebensbereiche der Menschen einer Bewertung unterzogen würden, sondern nur jene, die für ihre physische und geistige Existenz als wichtig und bedeutend erschienen. Objekte, die nicht im Bereich des ‘pragmatischen’
Interesses der Menschen lägen, gehörten nicht zu Objekten der Bewertung (vgl. Arutjunova 1998, 177 f.). Eine wichtige Voraussetzung für die Bewertung stellt die Wahlmöglichkeit dar (vgl. Arutjunova 1998, 173, 229): In einer Wahlsituation werden mögliche Welten (Alternativen) miteinander verglichen. So impliziert die Zuordnung eines Objekts zu Werten die ‘idealisierte Welt’ des wertenden Subjekts. Die Prädikate gut und schlecht geben neben der Wertung auch Informationen darüber an, ob das betreffende Objekt oder der Sachverhalt eine Entsprechung im ‘idealisierten Weltbild’ des Sprechers hat und ob das betreffende Objekt bzw.
der betreffende Sachverhalt dem Ideal entspricht (vgl. Arutjunova 1998, 182). Die ‘idealisierte Welt’ ist im Vergleich zur ‘physischen Welt’ eine Welt des Sollens und des Wünschens (vgl.
Arutjunova 1999, 180). Man kann Werte somit als Ideen darüber, was gut und was wünschenswert ist, definieren. Um diesen ‘idealen’ Zustand zu erreichen, muss man bestimmte Handlungen vollziehen und Entscheidungen treffen.
Die in einer Gesellschaft geteilten Werte werden in Normen, Regeln, Gesetzen, Geboten, Verboten und Standards ‘verkörpert’; diese stellen ihrerseits Handlungsanweisungen dar, die auf dem Weg zu den angestrebten Werten befolgt werden müssen. In diesem Zusammenhang können Normen, Gesetze, Regeln usw. als „situationsbezogene Konkretionen und Spezifikationen legitimatorisch zugrunde liegender Werte“ charakterisiert werden (Hillmann 2000, 594 f.). Im Unterschied zu Werten weisen sie einen Soll-Charakter auf und ihre Nicht-Einhaltung wird sanktioniert (dadurch werden Werte auch indirekt sanktioniert; vgl.
Hillmann 2000, 295). Durch Normen und Standards, die oft in verbalisierter oder modellhafter Form festgehalten werden, werden Werte aus der ‘idealen’ in die ‘reale’ Welt transportiert, sie werden ‘objektiviert’. Die ‘objektiv existierenden’ Normen und Standards dienen nun als Maßstab für Bewertungen. Durch ihren ‘deskriptiven’ Inhalt ermöglichen sie (beinahe) eine
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‘wertfreie’ Zuordnung. Es gilt generell: Je fester und ausdifferenzierter Kriterien der Bewertung sind, desto enger ist die Relation zwischen der Bewertung und dem deskriptiven Inhalt (vgl.
Arutjunova 1998, 161; Vol’f 2009, 57).17 Zuordnungen zu Normen und Standards können als Fakten dargestellt und wertneutral formuliert werden: ‘X entsprich nicht dem Standard / der Norm’ oder ‘X erfüllt (nicht) die Kriterien A, B, C, die die Norm bzw. der Standard vorschreibt’. Aus der wertenden Opposition ‘gut vs. schlecht’ entwickeln sich ‘objektivere’
Oppositionen wie ‘richtig – falsch’, ‘legal – illegal’, ‘grammatisch – ungrammatisch’ usw. (vgl.
Arutjunova 1998, 198). Es wird nicht bewertet, sondern lediglich festgestellt, ob eine Handlung bzw. ein Objekt der Norm / der Vorschrift / dem Gesetz / dem Standard entspricht. In Bezug auf sprachliche Strukturen werden solche Bewertungen mittels einer kodifizierten Standardsprache ermöglicht (s. Abschnitt 1.2.1). Die Aussagen, die ein Objekt in Relation zu einer Norm bzw. einem Standard bewerten bzw. es charakterisieren, können verifiziert werden.
Wird das menschliche Verhalten bzw. alle in Frage kommenden Objekte an Normen bzw.
Standards angepasst, erübrigt sich der Vergleich und somit die Wertung. Normen und Standards können somit als ‘soziale Tatsachen’ im Sinne von Durkheim (1961) angesehen werden.18 Soziale Tatsachen werden dadurch charakterisiert, dass sie das Handeln der Menschen beeinflussen und so in der Gesellschaft bestimmte Strukturen schaffen (vgl. Reinhold 2000, 589).
Die Mindestvoraussetzung eines Wertes ist, dass er im idealisierten Weltbild mindestens einer Person vertreten ist, während Normen und Standards intersubjektiv geteilt werden müssen.
Diese Intersubjektivität ist gleichzeitig ihre ‘Objektivität’: Um einen Standard bzw. eine Norm geltend zu machen, muss ein ‘intersubjektiver Wahrheitsraum’ hergestellt werden (vgl. Rellstab 2007, 247). Ein solcher Wahrheitsraum kann u.a. argumentativ erzeugt werden, indem man bewertet und seine Bewertung begründet. Das Hauptziel solcher Bewertungen besteht vor allem darin, auf Überzeugungen des Anderen Einfluss zu nehmen und seine Zustimmung zu erreichen (vgl. Vol’f 2009, 168). Was in einer Bewertung, die nicht als persönliche Meinung vorgetragen wird, beansprucht wird, ist der Wahrheitsraum, in dem die betreffende wertende Zuordnung gilt (s. auch Unterkapitel 1.1). Der beanspruchte Wahrheitsraum kann auch bestritten werden, so dass der Sprecher seine Geltung auf die eigene idealisierte Welt reduzieren kann (vgl. Kuße 2004, 243, 247). Für den Sprecher stellt die eigene Bewertung dennoch immer die ‘subjektive Wahrheit’ dar (vgl. Dmitrovskaja 1988, 13 f.).
Ein argumentativ erzielter Wahrheitsraum impliziert die gegenseitige Anerkennung der betreffenden Werte und stellt somit die Legitimationsbasis für die davon abgeleiteten Normen und Standards dar. Im Falle der Sprache ist das die Standardsprache. Sie fungiert als eine Möglichkeit, den idealisierten Wert, den angestrebten Soll-Zustand in die soziale Realität zu transferieren (s. auch Abschnitt 1.2.1). Standard zielt, wie Milroy (2001) in Bezug auf Sprachen anmerkt, auf die Nivellierung der Unterschiede ab. Mit dem Verschwinden der Unterschiede
17 Im Einklang damit weist Lumer (1990, 135) darauf hin, dass sich Bewertung und Deskription komplementär verhielten: Je mehr Wertung eine Äußerung enthält, desto geringer ist ihr deskriptiver Gehalt und umgekehrt (vgl.
auch Vol’f 2009, 30).
18 „Ein soziologischer Tatbestand ist jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben; oder auch, die im Bereiche einer gegebenen Gesellschaft allgemein auftritt, wobei sie ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben besitzt.“
(Durkheim 1961, 114).
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soll auch die Wahlmöglichkeit verschwinden. Ohne Wahlmöglichkeit besteht auch keine Bewertungs- bzw. Zuordnungsmöglichkeit und -notwendigkeit (vgl. Arutjunova 1998, 173, 229). Der hinter der betreffenden Norm bzw. hinter dem betreffenden Standard stehende Wert wird ‘devaluiert’ bzw. neutralisiert im Hinblick auf seine Wertigkeit, indem er als das einzig Mögliche, als gegebenes Faktum empfunden wird. Er verschwindet aus dem Interessenbereich der Menschen und als Folge aus ihrer ‘idealisierten Welt’. Er wird ‘naturalisiert’ (s.
Unterkapitel 1.3).