Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung begründet sich in deren genereller Bedeutung für die Lebenspraxis und spätere berufliche Tätigkeiten. Weiterhin können hier auch Schüler einiges leisten, für die Schriftsprache und Mathematik außerhalb ihres Fähigkeitsbereichs liegen. Das folgende Zitat von Wendeler (1990) mag diese Ausführungen unterstreichen.
Für eine Schule, die ihre Schüler auf die berufliche Arbeitswelt vorbereiten will, ohne ihnen die „Kulturtechniken“ Lesen, Rechnen und Schreiben in einem praktisch bedeutsamen Umfang vermitteln zu können, müssten also die konstruktiven Tätigkeiten, auch weil sie in sehr verschiedenem Alter auf sehr verschiedenen Entwicklungsniveau ausgeführt werden können, eine zentrale Stellung haben. (S. 149)
Die Bedeutung handwerklich-technischer Fähigkeiten für die berufliche Tätigkeit von Menschen mit geistiger Behinderung kann anhand von Daten belegt werden. Aus einer Aufstellung der Bundesagentur für Arbeit (2010) geht hervor, dass deutschlandweit etwas über 700 anerkannte Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) existieren. In der Aufstellung sind für etwa 650 Werkstätten die Arbeitsbereiche angegeben, in denen diese tätig sind. Lediglich ca. 5,5 % dieser 650 Werkstätten sind nicht in der Holz-, Metall-, Kunststoffbearbeitung und/oder in der Holz-, Metall-, Kunststoff-, Elektromontage tätig. Häufig werden Holzmöbel und / oder Holzspielzeug produziert.
Diese Angaben belegen zwar nicht, wie viele Menschen mit geistiger Behinderung im handwerklich-technischen Sektor tätig sind, lassen aber vermuten, dass es sich um einen recht großen Teil der Gesamtgruppe handelt. Allemal unterstreichen die Zahlen, dass die Ausbildung im handwerklichen Bereich in der Schule eine wichtige Stelle einnehmen sollte.
Bevor aber aufgezeigt werden kann, wie eine effektive Schulung von handwerklichen-technischen Fähigkeiten möglich ist, muss der Begriff der handwerklichen-technischen Tätigkeiten präzisiert werden. Eine genaue Beschreibung der Struktur dieser Tätigkeiten ist nötig, um die Inhalte einer Förderung bestimmen zu können.
In einem sehr weiten Sinne ist dabei Technik als ein auf Veränderung gerichtetes Verfügen über Materie und / oder Energie zu sehen (Kuipers, 1984). Unter anderem – und in diesem Sinne soll Technik hier verstanden werden – ist Technik die praktische Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zur handwerklichen oder künstlerischen Produktion. Handwerkliche Tätigkeiten zielen auf die manuelle Herstellung – oder auch Reparatur – von Gegenständen aus unterschiedlichen Materialien. Dabei steht der Gebrauchswert der Gegenstände im Vordergrund und unterscheidet sich damit von der künstlerischen Tätigkeit.
Kuipers (1984) sieht technische Prozesse vor allem als vom Individuum bewirkte Veränderungen von Ort, Lage, Bewegungszustand, Form, Größe, Zustand, Art und Kombination. Konkret nennt er die folgenden zwölf technischen Prozesse:
1. Bewegen: Verändern von Ort und / oder Lage von Materie und / oder Energie 2. Leiten: räumliches Lenken und Begrenzen der Bewegungen von Materie und /
oder Energie
3. Trennen: Teilen oder Lösen von Verbindungen
4. Fügen: Verbinden von Materie und / oder Energie über die räumliche Annäherung hinaus; betrifft alle Verbindungen, bei deren Lösung andere Widerstände als die Schwerkraft überwunden werden müssen
5. Speichern: bestimmt als Lagern von Materie und / oder Energie in dichter oder loser Anordnung (z.B. Haufen, Stapel, Begrenzungen)
6. Mischen: Vereinen eines Stoffes mit einem oder mehreren anderen Stoffen 7. Sortieren: Verfahren, um gleichartige Bestandteile aus einer Ansammlung
ungleichartiger Bestandteile zu entfernen
8. Formen: Ändern der Abmessungen fester räumlicher Gebilde 9. Wandeln: qualitatives Ändern von Materie und / oder Energie 10. Messen: Vergleich von Größen
11. Steuern / Regeln: regelhaftes Auslösen; Beenden, Konstanthalten und Variieren von Prozessen und Zuständen im Bereich von Materie und / oder Energie
12. Halten: Aufnahme von gegen Form-, Lage- oder Ortskonstanz gerichteten mechanischen Spannungen
Auf der Subjektseite sind bestimmte Fähigkeiten nötig, um diese Prozesse zu bewirken oder, allgemeiner ausgedrückt: um handwerklich-technische Tätigkeiten kompetent auszuführen. Roth (1974) kommt aufgrund von Faktorenanalysen zu den folgenden sechs Faktoren des technischen Verständnisses:
1. Handgeschicklichkeit
2. Optische Differenzierungsfähigkeit 3. Technisch-produktive Kombinatorik
4. Arbeitstechnisches Wissen (einschließlich Begriffsbildung) 5. Arbeitstechnisches Können, Werkzeugbenutzung
6. Technisches Vorstellungsvermögen
Es liegt nahe, dass zum Bewirken eines technischen Prozesses mindestens ein, meist aber eine Reihe dieser Subjektfaktoren notwendig ist.
Eine Förderung technischer Fähigkeiten sollte handwerklich-technische Prozesse zum Inhalt haben und sich positiv auf Subjektfaktoren des technischen Verständnisses auswirken. Diese Aussage ist zwar banal, trotzdem muss genau dieser Punkt erfüllt sein, um wirklich von einer gezielten Schulung handwerklich-technischer Prozesse sprechen zu können. Sind die hier aufgeführten technischen Prozesse sowie die Subjektfaktoren des technischen Verständnisses an einer Tätigkeit beteiligt, ist anzunehmen, dass es sich um eine Tätigkeit handelt, die zu Schulung von handwerklich-technischen Fähigkeiten geeignet ist.
Wie im Folgenden noch zu zeigen ist, erfüllt das Konstruktionsspiel diese Kriterien und kann daher als geeignetes Mittel zur Förderung konstruktiver und handwerklicher Fähigkeiten gelten. Eine entsprechende theoretische Ableitung erfolgt in den kommenden Kapiteln. Die förderliche Wirkung des Konstruktionsspiels für die – vor allem kognitive – Entwicklung von Kindern ist in der Literatur gut beschrieben und empirisch nachgewiesen (Einsiedler, 1991; Fritz, 1995; Pfitzner, 1994). In begrenztem Umfang liegen Hinweise vor, dass Konstruktionsmaterial für die Förderung von Kindern mit geistiger Behinderung geeignet ist (Fischer, 1992; Kreuser, 1995). Viele Lehrer sehen das Material als geeignet und förderlich an. Didaktisch-methodischen Rahmenkonzepte existieren allerdings nicht. Damit bleibt die Qualität der Förderung stark an das Geschick des einzelnen Lehrers gebunden. Entsprechend ist eine didaktisch-methodische Aufarbeitung zu leisten und die Förderlichkeit empirisch zu belegen.
Erste eigene pilotierende Trainingsstudien haben gezeigt, dass sich die Fähigkeit zum Umgang mit einem Konstruktionsmaterial bei Schülern mit geistiger Behinderung bereits durch ein kurzes, aber systematisches Training erheblich steigern lässt.
Weiterhin konnte ein Zusammenhang zwischen der Fähigkeit, mit
Konstruktionsmaterialien zu bauen, und manuell-handwerklichen Kompetenzen sowie räumlichem Denken nachgewiesen werden (Kuhl & Ennemoser, 2010).
Trotz dieser ersten ermutigenden Ergebnisse sind noch viele Fragen offen. So ist zu klären, ob Konstruktionsfähigkeit als eigenständiges und abgrenzbares Konstrukt gelten kann. Auch ist noch wenig darüber bekannt, welche differenziellen förderlichen Effekte ein Training der Konstruktionsfähigkeit bei Schülern mit geistiger Behinderung hat.
Nach bisherigem Kenntnisstand ist das Konstruktionsspiel bzw. der Umgang mit Konstruktionsmaterialien ein viel versprechender Ansatz der Trainingsentwicklung für Schüler mit geistiger Behinderung, zumal ein Material systematisch didaktisch-methodisch aufgearbeitet wird, das in vielen Schulen bereits vorhanden ist und eingesetzt wird.
Nachdem aufgezeigt wurde, dass die Förderung handwerklich-technischer Fähigkeiten ein wichtiges Ziel der Förderung von Menschen mit geistiger Behinderung ist, wird im Folgenden zu begründen sein, warum das Konstruktionsspiel ein probates Mittel dafür darstellt. Dazu wird zunächst beschrieben, was unter Konstruktionsspiel zu verstehen ist und welche Rolle es bei der Entwicklung von Kindern spielt.