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4 Bewegungskonzepte und Interaktion

4.4 Basale Stimulation

Nachdem auf Bewegungskonzepte in der Pflege eingegangen und mit Hilfe einer bewegungswissenschaftlichen Schablone versucht wurde, ihre theoretischen Hinter-gründe offen zu legen, soll nun das Konzept der Basalen Stimulation vorgestellt werden. Damit wird ein deutlicher Schwenk der Untersuchungsperspektive vorgenom-men, denn das Konzept der Basalen Stimulation ist kein Bewegungskonzept. Vorge-stellt wird es deswegen, weil Interaktion im Mittelpunkt dieses Konzeptes steht und es vor allem Menschen in den Blick nimmt, die unter schweren Wahrnehmungsstörungen leiden. In den beiden bisher beschriebenen Bewegungskonzepten konnten die funktio-nalen Aspekte von Bewegung als theoretischer Hintergrund dargestellt werden, wobei die Kinästhetik einen Blickwinkel für Interaktion und Bewegung integrierte. Mit der Basalen Stimulation wird ein Pflegekonzept dargestellt, das nicht von der Funktion ausgeht, sondern die Interaktion in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt.

4.4.1 Das Konzept der Basalen Stimulation

Andreas Fröhlich begründete Mitte der 1970er-Jahre das Konzept der Basalen Stimu-lation. Fröhlich ist Sonderpädagoge, das Konzept entstand in einer Zeit, in denen schwerst mehrfachbehinderte Menschen häufig außerhalb pädagogischer Bemühungen standen. Fröhlich selbst beschreibt diese Zeit folgendermaßen:

„Bis dahin waren sie [Menschen mit schwersten und mehrfachen Behinderungen, Einfügung M.Z.] in so genannten Pflegeeinrichtungen versorgt, als „Dauerpflege-fälle“ abgeschrieben. Kinder, Jugendliche, aber auch manche Erwachsene lebten zu Hause, verbrachten ihre Tage meistens im Bett und wurden von ihren Angehö-rigen versorgt. [...] Es waren Menschen, denen man keine Entwicklungsmöglich-keiten mehr zugestand und von denen man auch nichts erwartete.“ (Nydahl, Bar-toszek, 1999, Geleitwort).

Fröhlich begründet seinen Konzeptentwurf mit unterschiedlichen Zugängen. Zum ersten mit neurowissenschaftlichen Grundlagen, die darauf verweisen, dass Umwelt einen zentralen Einflussfaktor für Entwicklung darstellt und damit Entwicklung nicht als biologische Determinante gesehen werden kann. Zum zweiten mit dem genetisch-entwicklungstheoretischen Ansatz von Jean Piaget, der auf die Entwicklungsschritte über die Sensomotorik verweist. Zum dritten mit der Physiotherapie, wie sie auch durch die Bobaths verstanden wurde, die deutlich machten, dass das Gehirn

Netzwer-ke ausbildet, um bestimmte Handlungsziele in der Bewegung zu erreichen. Und viertens mit den Untersuchungen Alfred Adlers zu frühen Formen des Selbstbewusst-seins (Werner, 2001, S. 26ff). In den 1980er Jahren wurde das Konzept von Christel Bienstein in die Pflege übertragen und hat seitdem dort, aber auch in der Sonderpä-dagogik, Verbreitung gefunden. In der Pflege ist heute in Deutschland eine berufsbe-gleitende Weiterbildung als Qualifikation vorgeschrieben, um das Konzept an Kollegen vor Ort oder in Basis- und Aufbauseminaren weiterzugeben. Das Konzept ist europa-weit verbreitet. Koordinationsstelle ist der internationale Förderverein Basale Stimula-tion® mit Sitz der Geschäftsstelle in Stuttgart (Basale Stimulation, 2008).

4.4.2 Grundlagen des Konzepts

Das Konzept von Fröhlich geht grundsätzlich von der Entwicklungsfähigkeit des Menschen aus, und zwar in jeder Lebenssituation (Bienstein, Fröhlich, 1997). Die Grundkonzeption bezieht sich dabei zunächst auf die eigene berufliche Erfahrung Fröhlichs mit Kindern und wird später auf Erwachsene ausgeweitet (Fröhlich, Simon, 2004). Ausgehend von den Wahrnehmungsbereichen Somatische Wahrnehmung, Vestibuläre Wahrnehmung, Vibratorische Wahrnehmung, Orale Wahrnehmung, Taktil-Haptische Wahrnehmung, Visuelle Wahrnehmung und Auditive Wahrnehmung sucht Fröhlich nach Interaktionsmöglichkeiten mit Menschen, die in ihrer Interaktionsfähig-keit stark eingeschränkt sind. Auch wenn in den Diskussionen am Beginn des Kon-zeptentwurfes kritisch über den Begriff der Stimulation nachgedacht wurde und damit verbunden eine biologistische Vorgehensweise und ein mechanistisches Menschenbild unterstellt werden kann, so verdeutlich Fröhlich heute diesbezüglich immer wieder, dass das Konzept den individuellen Kontakt durch die Gestaltung einer individuellen Interaktion16 fördern möchte:

„Es werden keine vorgegebenen Programme durchlaufen, sondern in einem sen-siblen Austausch werden gemeinsam Sicherheiten ausgebaut und neue Aktivitäten begonnen, alte Aktivitäten wieder aufgenommen oder auch bei einer

16 Martin Pohlmann kommt aufgrund der Analyse von Interviewaussagen professionell Pflegender in einer qualitativ phänomenologischen Untersuchung zur Beziehungsgestaltung zu der Aussage, dass körper-bezogene Pflegeinterventionen eine wesentliche Grundlage der Beziehungsarbeit darstellen und benennt dabei als Konzepte, die in dieser Form interagieren und Beziehung gestalten, sowohl das Konzept der Basalen Stimulation als auch das der Kinästhetik (Pohlmann, 2005).

lung zum Ende/Anfang hin die Zurücknahme begleitet.“ (Bienstein, Fröhlich, 1997, S. 13).

Basis der gemeinsamen Zusammenarbeit von Pflegekräften und den zu Pflegenden bildet dabei also ein grundlegendes Verständnis, in dem von einer ganz „basalen“ Art der Interaktion ausgegangen wird, nämlich von der Verständigung über körperliche Regungen:

„Der Rehabilitierung dieser sog. ‚niedrigen’ Sinne, wie insbesondere der Berüh-rungssinn immer wieder denunziert wird, entspricht die Rehabilitierung bzw. die besondere Betonung der elementaren präverbalen Kommunikation, der frühen Lern- und Entwicklungsprozesse und der menschlichen Existenz als Leib mit seeli-schen und geistigen Kräften.“ (Bienstein, Fröhlich, 1997 S. 14).

Kommunikation ist dabei für Fröhlich mehr als das Verstehen von Zeichen oder das Senden von Informationen, sie ist vielmehr das Herausarbeiten der gemeinsamen Bedeutung im gemeinsamen Handeln. Hierin besteht die Überschneidung mit grundle-genden Gedanken der im Kapitel 3 vorgestellten theoretischen Fundierung dieser Arbeit. Fröhlich schreibt:

„Kommunikation ist aber immer etwas, was sich zwischen Menschen vollzieht.

Kommunikation geht nicht von einem Menschen aus und wird von einem anderen aufgenommen, sondern Kommunikation wird von den Beteiligten gemeinsam er-arbeitet, sie ‚formulieren’ Regeln, sie ‚sprechen sich ab’ was ein Laut, eine Geste, ein Gesichtsausdruck, eine veränderte Körperhaltung bedeuten soll.“ (Fröhlich, Simon, 2004, S. 7).

4.4.3 Zum Forschungsstand in der Basalen Stimulation

An dieser Stelle soll kein kompletter Überblick über alle Studien zur Basalen Stimula-tion dargestellt werden, da diese für die eigene Forschungsfrage nicht von großer Relevanz sind. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es erste Ansätze pflegewissen-schaftlicher Forschung aus den 1990er-Jahren gibt, wobei die Studien hier vor allem eine bestimmte Intervention wie die Atemstimulierende Einreibung oder aber die beruhigende Ganzkörperwaschung untersuchen (Bienstein, 1997; Schiff, 2006). Aktu-ellstes Beispiel ist sicherlich die Studie des Deutschen Instituts für Angewandte Pflege-forschung zur basalstimulierenden elterlichen Kontaktpflege (Isfort, Brühl, et al.,

2008). Auch diese Studie macht deutlich, wie Einzelelemente aus dem Gesamtkonzept genommen werden, um daraus eine spezifische Intervention (in diesem Falle Kontakt-aufbau, Kontaktgestaltung über bestimmte Sinneskanäle, Verabschiedung mit dem Frühgeborenen) und die Wirksamkeit der Basalen Stimulation nachzuweisen. Inwieweit das dem Konzept dienlich ist, bleibt zu diskutieren. Die Autoren kommen selbst zu dem Schluss, dass hinter Basaler Stimulation nicht nur eine Technik, sondern auch eine Haltung steht und hier die Grenzen quantitativer Untersuchungsdesigns liegen (Isfort, Brühl, et al., 2008, S.47). Mit der wissenschaftlichen Arbeit von Birgit Werner zur Analyse des Konzeptes kann zumindest gesagt werden, dass es sich um ein in der pflegerischen Praxis etabliertes Konzept handelt, das Pflegenden Möglichkeiten für Kommunikationswege aufzeigt und damit das Handlungsrepertoire der Pflegekräfte erweitert (Werner, 2001, S.76).

4.4.4 Schwerpunkte des Konzeptes Basale Stimulation

Das Konzept der Basalen Stimulation sucht nach gemeinsamen Interaktionsmöglich-keiten mit Menschen, die gleichgültig aufgrund welchen Ereignisses in ihrer Interaktionsfähigkeit eingeschränkt sind. Das Konzept wendet sich von der Durchfüh-rung einer bestimmten Technik ab. Von zentraler Bedeutung ist es dagegen, über-haupt in Interaktion miteinander zu kommen. Dabei entsteht ein Dialog, der nicht nach festen symbolisch festgelegten Zeichen sucht, sondern dessen Bedeutung sich zwischen den Interaktionspartnern herausschält. Fröhlich betont immer wieder, dass die Begleitung des zu Pflegenden in seiner individuellen Lebenssituation im Vorder-grund steht. Damit gibt er die Haltung auf, dass Pflegekräfte wüssten, was „gut“ für den zu Pflegenden sei. Er sieht in dem zu Pflegenden vielmehr einen sich entwickeln-den, eigenaktiven Menschen, der durch die Unterstützung der Pflegekräfte auf seinem Entwicklungsweg begleitet werden kann (Werner, 2001, S.73). Vor diesem Hintergrund drängt sich beim Konzept der Basalen Stimulation die Frage auf, welche Richtung die pflegewissenschaftliche Forschung nehmen will. Geht es um die Messung und Heraus-lösung bestimmter Techniken aus dem Gesamtkontext, dann kommt das Konzept der Basalen Stimulation in ein Dilemma, da es sich dann wie in den oben skizzierten Studien letztlich auf Einzelelemente und Techniken reduziert, die die Basale Stimula-tion ja gerade nicht sein will. Zu fragen wäre also, welche anderen Zugangsmöglich-keiten es gibt und welche auch sinnvoll für die Weiterentwicklung und Fundierung des Konzeptes wären. Die Diskussion dazu steht noch am Anfang.