6 Erfahrungen mit Substitutionstherapie in Fachkliniken zur Rehabili- Rehabili-tation von Drogenabhängigen
7.1 Auswertungen der Mitarbeitergespräche vor Aufnahme von substituierten Patienten
Insgesamt wurden 15 Mitarbeiter im Sommer 2010 interviewt, die mehr als geringfügig in der Fachklinik in unterschiedlichen Funktionen (sechs therapeutische Mitarbeiter, drei Mitarbeiter der Arbeitstherapie und je einer der Hausversorgung, leitende Ärztin, leitender Sozialarbeiter, Verwaltungsmitarbeiterin, Arzthelferin, Aufnahmekoordination) beschäftigt sind. Zum Teil vertreten sich Mitarbeiter unterschiedlicher Funktionen auch berufsgruppenübergreifend oder nehmen Aufgaben in verschiedenen Funktionen wahr.
Die therapeutischen Mitarbeiter sind Psychologen und Pädagogen mit sucht- oder psychotherapeutischen Zusatzausbildungen. Die Arbeitstherapeuten verfügen über eine handwerkliche Grundqualifikation und unterschiedliche arbeitstherapeutische Weiterbildungen. Auch die übrigen Mitarbeiter verfügen neben ihrem Grundberuf über unterschiedliche Zusatzqualifikationen. Die Mitarbeiter sind sehr erfahren und bis auf zwei Mitarbeiter mehr als drei Jahre in der Suchtkrankenhilfe tätig, zehn Mitarbeiter bereits mehr als zwölf Jahre.
Die Mitarbeiter werden gemäß eines Leitfadens (s. Anhang) interviewt. Die Gespräche und zentralen Aussagen werden protokolliert. Außerdem sollen zwei Einschätzungen in skalierter Form abgegeben werden.
7.1.1 Quantitative Inhaltsanalyse
Kategorienbildung
Im Rahmen der Diskussion des neuen Konzeptes wurden neben Hoffnungen vor allem Sorgen und Ängste deutlich. Der Leitfaden soll einerseits alle relevant erscheinenden Fragen abdecken, andererseits aber auch Antwortspielräume eröffnen. Dafür werden ausdrücklich
„Offene Anmerkungen“ ermöglicht, die in die quantitative und qualitative Inhaltsanalyse einfließen.
Nach Durchsicht der Antworten werden durch Zusammenfassung ähnlicher Formulierungen
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„erhöhter Rückfallgefahr“ und „mehr Therapieabbrüchen“ in dieselbe Kategorie ein.
Insgesamt werden vier Kategorien (Sorgen, Hoffnungen, Fachklinik, substituierte Patienten) mit drei bis vier Unterkategorien gebildet, auf die 198 Aussagen verteilt werden.
Quantitäten in den Kategorien
Sorgen 65 Patienten, Abläufe,
Ergebnisse
Einrichtung, Konzept Persönliche Sorgen
35 17 13
Tabelle 7.1: Sorgen, Mitarbeiter, t1
Insgesamt werden 65 Aussagen von Mitarbeitern in die Kategorie „Sorgen“ eingeordnet. Die Mehrzahl betrifft dabei Sorgen in Bezug auf die Patienten und die Abläufe in der Einrichtung sowie das Konzept der Einrichtung insgesamt. Persönliche Sorgen werden demgegenüber eher seltener geäußert.
Hoffnungen 41 Patienten, Abläufe,
Ergebnisse
Einrichtung, Konzept, Wirtschaftlichkeit
Persönliche Hoffnungen
16 16 9
Tabelle 7.2: Hoffnungen, Mitarbeiter, t1
Hoffnungen werden insgesamt weniger als Sorgen geäußert. In Bezug auf die Einrichtung und das Konzept halten sich Hoffnungen und Sorgen ungefähr die Waage. Ähnliches gilt für persönliche Hoffnungen und persönliche Sorgen. In Bezug auf die Patienten und die Abläufe sowie in Bezug auf die Behandlungsergebnisse werden deutlich mehr Sorgen als Hoffnungen geäußert.
Fachklinik 67
Konzept Lage und Struktur Werte
19 21 27
Tabelle 7.3: Fachklinik, Mitarbeiter, t1
Zur Fachklinik werden insgesamt 67 Aussagen gemacht, die sich entweder auf das Konzept, die Lage und Struktur der Einrichtung oder aber bestimmte Werte (z.B. liberal, menschlich, respektierend) beziehen. Die Fachklinik wird stärker über mit ihr assoziierte Werte beschrieben, als über bestimmte Strukturmerkmale oder das Konzept.
Substituierte Patienten 25
Weniger bereit Weniger fähig Positiv Nichts Besonderes
7 12 2 4
Tabelle 7.4: Substituierte Patienten, Mitarbeiter, t1
25 Äußerungen beziehen sich ausdrücklich auf die substituierten Patienten. In 19 Äußerungen drückt sich die Vermutung aus, dass dieser Patientenkreis entweder weniger bereit oder weniger fähig ist, das therapeutische Angebot wahrzunehmen. Äußerungen, die substituierte Patienten im Vergleich zu anderen Patienten eher positive Eigenschaften (z. B. „die sind besser informiert“) zuschreiben oder keine Besonderheiten erwarten, sind eher seltener.
7.1.2 Auswertung der Skalen
Die erste Skala fragt danach, inwieweit der Aufbau eines Angebotes für Substituierte als
„absolut richtig“ (10) oder „völlig verkehrt“ (0) eingeschätzt wird. Alle Interviewten machen eine entsprechende Angabe (N = 15). Der Mittelwert der Angaben beträgt 7,3. Die Schwankungsbreite ist mit Standardabweichung SD = 2,13 relativ gering.
Die zweite Skala (N = 14) fragt nach dem Verhältnis von Vor- zu Nachteilen. Denkbar ist, dass zwar mehr Nachteile genannt werden, dennoch die erwarteten Vorteile stärker gewichtet
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werden. Das Verhältnis von Vor- zu Nachteilen wurde mit 61,5 zu 38,5 ebenfalls überwiegend positiv eingeschätzt.
Die Korrelation der Skalen ist erwartungsgemäß mit r = 0,69 hoch. Im Gegensatz zur quantitativen Inhaltsanalyse, bei der eher Sorgen und Bedenken überwiegen, zeigt die Auswertung der Skalen, dass das Angebot begrüßt wird und die Vorteile als überwiegend eingeschätzt werden.
7.1.3 Qualitative Auswertung
Die qualitative Auswertung71 kann den Widerspruch zwischen der Einstufung in Skalen und der quantitativen Inhaltsanalyse möglicherweise aufklären.
Viele Mitarbeiter erwarten, dass die substituierten Patienten häufiger Beigebrauch betreiben, insgesamt häufiger die Behandlung abbrechen, den Beigebrauch heimlich betreiben und andere Patienten ebenfalls zum Konsum von Drogen verleiten („mehr Rückfälle“, „erhöhte Rückfallgefahr für alle“, „die ziehen sich gegenseitig runter“, „andere Patienten sind neidisch“ etc.). Die Befürchtungen für Einrichtung und Konzept resultieren zum Teil direkt hieraus: „Glaubwürdigkeitsproblem“, „Abstinenzorientierung wird unklar“, „Substituierte passen nicht ins Konzept“, „konzeptuelle Klarheit könnte verloren gehen“, „Rufschädigung“.
Hierauf beziehen sich auch die wesentlichen persönlichen Sorgen, d. h. es wird befürchtet, dass die eigene Arbeitsbeschreibung unklarer wird („schwammige Regeln in Bezug auf die Abstinenz“) und das Niveau der Arbeit insgesamt sinkt („Ich sitze hier mit dem letzten Gesindel“). Der Handlungsspielraum für die eigene therapeutische Tätigkeit wird durch die medizinische Behandlung mit Substituten als bedroht erlebt („mehr Diskussionen über Medikamente und UKs“, „das Medizinische tritt in den Vordergrund“).
Die Hoffnungen in Bezug auf die Patienten beziehen sich fast ausschließlich auf die substituierten Patienten („ein Personenkreis, der sonst nicht erreicht wird“,
„Ausstiegserleichterung“, „Alternative zur Dauersubstitution“, „Chance für eine Randgruppe“).
71 Die Interviews werden mit der zusammenfassenden Inhaltsanalyse ausgewertet (vgl. Mayring 1983).
Die Hoffnungen in Bezug auf die Fachklinik sind vor allem auf die Wirtschaftlichkeit bezogen („breiteres Spektrum und dadurch besserer Markt“, „erweiterter Kundenpool“). Zum Teil wird mit der Angebotserweiterung inhaltlich die Hoffnung verknüpft, „moderner“ zu werden und Patienten zu erreichen, die „etwas Neues reinbringen“. Der Wunsch nach
„Teamentwicklung“ wird deutlich, die „spannend“ ist. Persönliche Hoffnungen beziehen sich auf die Chance daran mitzuwirken, die Fachklinik zu modernisieren und weiterzuentwickeln:
„Aufbruch zu neuen Ufern.“
Die Klinik selbst wird mit Werten assoziiert, die sich auf einen offenen und partnerschaftlichen Umgang mit den Patienten beziehen. Sie wird als liberal und freiheitlich wahrgenommen und mit einer hohen Selbstverantwortung der Patienten assoziiert.
Bezüglich der Lage wird vor allen Dingen die Verortung in einem problematischen Stadtteil von Berlin hervorgehoben. Hinsichtlich der Struktur wird die Realitätsnähe, die geringe
„Krankenhausatmosphäre“ der Klinik und das alte Gebäude (Berliner Mietshaus) betont. Das Konzept wird als gut geeignet für ältere Patienten und für Patienten aus Haft gehalten. Die hohe Quote von Patienten mit Justizauflage („35er dominiert“, „80 % Knackis“) wird kritisch bewertet.
Die substituierten Patienten werden eher als Belastung für die Einrichtung und die Therapeuten erlebt. Es werden negative Einflüsse erwartet durch ihre angenommene geringere Bereitschaft oder auch angenommene geringere Fähigkeit, sich in den Therapieprozess zu integrieren. So werden höhere Fehlzeiten in den Therapieangeboten und insbesondere in der Arbeitstherapie erwartet. Es wird befürchtet, dass diese Patienten nicht „nüchtern und klar“
sind und so von den therapeutischen Angeboten weniger profitieren. Es besteht die Sorge, dass die Patienten in ihrem Denken und Fühlen „ausschließlich ums Substitut kreisen“ und
„nicht wirklich fähig und bereit sind“ drogenfrei zu leben. Grundsätzlich werden mehr komorbide Erkrankungen und eine insgesamt höhere Verelendung angenommen („Die total Fertigen sind das.“). Nur ein kleiner Teil der Mitarbeiter nimmt an, dass dieser Personenkreis keine Besonderheiten aufweist. Einzelne positive Äußerungen beziehen sich auf eine vermutete „geringere Haftvermeidungsmotivation“ dieses Personenkreises und eine gute Vorbereitung auf die Entwöhnungsbehandlung durch die Vorbereitungsgruppe für substituierte Patienten.
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Bei näherer Betrachtung löst sich der Widerspruch zwischen der positiven Einschätzung der Aufnahme von substituierten Patienten in den Skalen und der überwiegenden Skepsis in der quantitativen Inhaltsanalyse auf. So finden sich eine Reihe von Äußerungen, die sich auf eine Freude an Veränderung beziehen und den Wunsch, „endlich mal etwas Neues zu machen“.
Auch der Abbau eigener Vorurteile wird erhofft und ebenso eine Entwicklungsdynamik in der Einrichtung, die nach ihrem langen Bestand mit überwiegend langjährig beschäftigten Mitarbeitern als verkrustet erlebt wird. Die Erweiterung des Angebots und die damit verbundene „Modernisierung“ und die Belebung durch ein neues Angebot werden begrüßt und stärker gewichtet als die befürchteten praktischen Schwierigkeiten im Umgang mit substituierten Patienten oder im Umgang mit den befürchteten Konflikten zwischen den unterschiedlichen Patientengruppen. Hier erleben sich die Mitarbeiter vor dem Hintergrund ihrer langjährigen Erfahrung als kompetent.
Die Mitarbeiter sind sich zum Teil bewusst, ein negatives Vorurteil zu haben und erwarten, dass dieses in der Realität nicht bestätigt, sondern korrigiert werden wird. Möglicherweise spiegelt sich in der größeren Anzahl negativer Bewertungen in der quantitativen Inhaltsanalyse auch die in der Berufspraxis der Entwöhnungsbehandlung erworbene Fähigkeit wider, Risiken und Krisen schneller imaginieren zu können, um diese vorauszusehen und schnell auf sie reagieren zu können. Unspektakuläre, positive und „normale“ Verläufe hingegen bedürfen einer geringeren Aufmerksamkeit der therapeutischen Mitarbeiter.