4.2 Entwicklungen der Abhängigkeitsbehandlung ab 1968
4.3.2 Anwendungen der ICF
Bei der Anwendung der ICF sind zwei Möglichkeiten zu unterscheiden vgl. (Schuntermann, 2009):
- Die Kodierung von festgestellten Sachverhalten nach ICF.
- Die Anwendung des biopsychosozialen Modells und der Begrifflichkeiten der ICF Die Kodierung von festgestellten Sachverhalten nach ICF ist bis heute die Ausnahme in der Anwendung. Hier gibt es im Wesentlichen einige Modellprojekte, aber kaum praktische Ausführungen.
Der Schwerpunkt der Anwendung der ICF liegt demnach auf einer Anwendung des biopsychosozialen Modells und der Begrifflichkeiten der ICF. Dabei soll rehabilitatives Denken systematisiert werden und damit insbesondere neue Perspektiven für rehabilitierendes Handeln durch die Einbeziehung von Kontextfaktoren eröffnet werden. Die verschiedene Konzepte der ICF können in der medizinischen Rehabilitation praktisch umgesetzt werden.
So wird der Ansatz der Menschenrechte und das Teilhabe-Konzept im Umgang des Rehabilitationsteams mit dem Rehabilitanden umgesetzt, indem die Selbstbestimmung des Rehabilitanden beachtet wird (vgl. Schuntermann 2009; Schuntermann 2011).
Der Ansatz der subjektiven Erfahrungen des Teilhabe-Konzeptes wird aus Sicht des Rehabilitanden durch die Bestimmung und die Präferenz-Struktur der Reha-Ziele umgesetzt.
Das Konzept der Körperfunktionen und -strukturen wird durch Verhütung von Verschlimmerung der Funktionsstörungen und der Wiederherstellung oder Verbesserung beeinträchtigter Körperfunktionen berücksichtigt, aber auch durch Stärkung nicht beeinträchtigter Körperfunktionen. Das Konzept der Aktivität findet seine Berücksichtigung in der Wiederherstellung oder Verbesserung der Leistungsfähigkeit in Lebensbereichen abhängig von den Reha-Zielen und in der Verhütung einer Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeiten. Das Konzept der Kontextfaktoren, also Umwelt- und Personenbezogene Faktoren, findet seine Berücksichtigung durch den Abbau von Barrieren, die die Leistung bzw. Teilhabe erschweren und durch den Aufbau von Förderfaktoren, die die Teilhabe verbessern.
Die wichtigste Anwendung ergibt sich aus dem Hauptziel der ICF, das sich nach Schuntermann (2009, S.81) folgendermaßen beschreiben lässt: „Das wichtigste Ziel der ICF ist, eine gemeinsame Sprache für die Beschreibung der funktionalen Gesundheit zur Verfügung zu stellen, um die Kommunikation zwischen Fachleuten im Gesundheits- und Sozialwesen, insbesondere in der Rehabilitation sowie den Menschen mit beeinträchtigter Funktionsfähigkeit zu verbessern.“ Schuntermann (2009, S.82) führt weiter aus: „Bereits jetzt
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Begrifflichkeiten der ICF auf hohe Akzeptanz stoßen. Die Kodierung nach ICF wird jedoch derzeit noch als problematisch angesehen“. Entsprechend wird die Core Set der ICF mit 1424 Kategorien für die routinemäßige Anwendung nicht verwendet.
Einarbeitung der ICF in Leitlinien
Bisher hat die ICF vor allen Dingen als konzeptionelles Bezugsbezugssystem in Arbeitsmaterialien Eingang gefunden, wie sie die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation veröffentlicht. In den RPK-Empfehlungsvereinbarungen vom 29.09.2005 (Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 2006a) ist der gesamten ICF eine Seite gewidmet, in der der Begriff der funktionalen Gesundheit erläutert wird. Eine nähere Umsetzung, zum Beispiel durch Prozessvorgaben in Form von Kommunikationsrichtlinien, erfolgt nicht. Dies geschieht ansatzweise im ICF-Praxisleitfaden (Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation, 2006b). Dabei wird festgehalten, dass die ICF eine gemeinsame Denk- und Handlungsgrundlage für alle darstellt, die an der Behandlung, Therapie und Versorgung gesundheitlich beeinträchtiger Menschen beteiligt sind. Die ICF wird als eine Philosophie zum besseren Verständnis von Behinderung und Gesundheit auf der Grundlage biopsychosozialer Wechselwirkungen verstanden. Außerdem wird die ICF als eine Klassifikation zur Kodierung der Komponenten der funktionalen Gesundheit dargestellt.
Dabei wird jedoch festgehalten: „Die Kodierung wird in absehbarer Zeit nur in speziellen Zusammenhängen verwendet werden können.“ (Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 2006b, S. 7).
Zu demselben Ergebnis kommt auch der gegenwärtig aktuellste Praxisleitfaden (Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation, 2010, S.10): „Bis auf weiteres wird sich die Nutzung der ICF auf die Anwendung des bio-psycho-sozialen Modells unter Verwendung der Begrifflichkeiten der ICF beschränken.“ Ähnlich bilanziert Schuntermann in einem Artikel, der die Bedeutung der ICF für das deutsche Gesundheits- und Sozialsystem zusammenfasst:
„Der Schwerpunkt der Anwendung der ICF liegt derzeit auf der Anwendung des bio-psycho-sozialen Modells und der Begrifflichkeiten der ICF. Die Philosophie der ICF systematisiert rehabilitatives Denken und eröffnet insbesondere durch die Einbeziehung von Kontextfaktoren im Sinne von Barrieren und Förderfaktoren erweiterte Perspektiven für rehabilitatives Handeln“ (Schuntermann 2011, S. 12).
In den „Leitlinien zur Rehabilitationsbedürftigkeit bei Abhängigkeitserkrankungen“ für den beratungsärztlichen Dienst der Deutschen Rentenversicherung Bund wird kein Bezug auf die ICF genommen, hier ist der Bezug auf die ICD-10 mit Verweisen auf die Diagnostik nach DSM IV - Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders - (Deutsche Rentenversicherung, 2010) wesentlich. In den „Leitlinien für die medizinische Rehabilitation, Reha-Therapiestandards Alkoholabhängigkeit – Pilotversion“, wird ebenfalls lediglich Bezug auf die ICD-10 und nicht auf die ICF genommen (Deutsche Rentenversicherung, 2009).
Dies ist darauf zurück zu führen, dass die Idee der ICF, d. h. das Erfassen von Wechselwirkungen und daraus abgeleiteten individuellen, sowohl personenzentrierten als auch umweltbezogenen Handlungsweisen, nur sehr schwer in die Logik der Leitlinien und Richtlinien zu integrieren ist. Leitlinien gehen gerade von der These aus, dass es eine „beste“
Behandlung für eine Erkrankung gibt, die sich aus einer Vielzahl von Studien durch Metaanalysen herausfiltern lässt. Das dahinterstehende Störungs- und Menschenbild orientiert sich eben nicht an der ICF, sondern an der ICD-10, die Behinderung im Wesentlichen als im Individuum angelegt sieht und entsprechendem den Schwerpunkt der therapeutischen Maßnahmen setzt.
Bei einer Leitlinienerstellung wird weder auf die Wechselwirkung des Individuums mit seiner Umwelt Bezug genommen, noch werden die Wechselwirkungen verschiedener möglicher Interventionen berücksichtigt. Bei den Reha-Therapiestandards Alkoholabhängigkeit (Deutsche Rentenversicherung, 2009) werden insgesamt 14 evidenzbasierte Therapie-Module benannt. Inwieweit die evidenzbasierten Therapie-Module in Wechselwirkung treten, wird nicht thematisiert35. Die evidenzbasierten Therapie-Module werden anhand ihrer therapeutischen Inhalte, der formalen Ausgestaltung und der KTL-Leistungseinheiten beschrieben. Darüber hinaus wird ein Mindestanteil der entsprechend zu behandelnden Rehabilitanden festgelegt. Zum Beispiel werden für das evidenzbasierte Therapie-Modul 5a,
„arbeitsbezogene Leistungen für Arbeitslose“, insgesamt 20 KTL-Leistungseinheiten beschrieben, die mindestens 16 Stunden pro Woche durchgeführt werden sollen und die mindestens 90 % der zu behandelnden Rehabilitanden bekommen sollen. Eine denkbare Zuordnung oder eine Ableitung von Strategien, wie KTL-Leistungen gemäß einer
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Beschreibung der funktionalen Gesundheit des Patienten zugeordnet werden sollen, wird aber nicht erörtert.
So bleibt es den Einrichtungen überlassen, in ihren Konzepten auf die ICF Bezug zu nehmen und Strategien zu entwickeln, die unterschiedlichen Berufsgruppen des Teams mit ihren jeweiligen Beobachtungen und Erhebungen zusammenführen und gemeinsam mit dem Rehabilitanden Therapieziele zu formulieren und einen Therapieplan aufzustellen.
Die ICF als Klassifikation und ihre Anwendung im Bereich der Rehabilitation Abhängigkeitskranker
„Die ICF hat sich fortentwickelt von einer Klassifikation der ‚Krankheitsfolgen’ (ICIDH von 1980) hin zu einer Klassifikation der ‚Komponenten der Gesundheit’. ‚Komponenten der Gesundheit’ bezeichnen Bestandteile der Gesundheit, während ‚Folgen’ den Blick auf die Auswirkungen von Krankheiten oder anderen Gesundheitsproblemen lenken…“ (ICF 2005, S.10)
Die genannten Komponenten teilen sich auf in: Körperfunktionen, Körperstrukturen, Aktivität und Teilhabe, Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren. Bis auf die personenbezogenen Faktoren werden alle Komponenten unabhängig voneinander klassifiziert.
Kategorien bilden die Einheiten der Klassifikation. Insgesamt gibt es 1424 Kategorien.
Im dritten Leitfaden der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation zur Implementierung der ICF wird festgehalten: „Bis auf Weiteres wird sich die Nutzung der ICF auf die Anwendung des bio-psycho-sozialen Modells unter Verwendung der Begrifflichkeiten der ICF beschränken. Nach ICF kodiert wird nach wie vor nur in Forschungsprojekten. Auch mittelfristig wird wegen der z. B. noch nicht praktikablen Schweregradeinteilung die Kodierung nicht sinnvoll realisierbar sein“ (Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 2010, S.10).
Das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information liefert eine Auflistung der im deutschsprachigen Raum laufenden und abgeschlossenen Forschungsprojekte zu ICF Core Sets, Forschungsvorhaben, Weiterentwicklungen und Validierungen (http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icf/icf-projekte.html; 2010). Nur in
wenigen Bereichen liegen abgeschlossene Arbeiten vor, da die Entwicklung der ICF Core Sets aufwendig ist.
Für den Bereich „Abhängigkeitserkrankungen“ ist eine Arbeitsgruppe benannt. Die „durch den Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe (buss) und den Fachverband Sucht (FVS) getragene AG hat das Ziel, ein Core Set „Abhängigkeitserkrankungen“ zu entwickeln.
Zu diesem Zweck wurde eine Pilotstudie mit 20 Experten durchgeführt, deren Ergebnis spätestens im 1. Quartal 2011 veröffentlicht werden soll. Danach soll entsprechend dem Delphi-Konsensusverfahren der Kreis der Experten erweitert werden, um ein mehrheitlich akzeptiertes Core Set schließlich verabschieden zu können.
(http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icf/icf-projekte.html; 2010). Erste Ergebnisse dieses Versuchs präsentierte Amann (2009) auf der Siebten Anwenderkonferenz der Deutschen Rentenversicherung, deutliche relevante Unterscheidungen zwischen Items konnten aber noch nicht hergestellt werden. Erste Ergebnisse liegen in Bezug auf Anwendungsmöglichkeiten vor, dabei ist inzwischen die Identifikation relevanter Items fortgeschritten (vgl. Amann u.
Breuer 2011). Auch erste Erhebungsinstrumente, im wesentlichen Fragebogen, liegen vor und weitere Entwicklungsmöglichkeiten werden positiv eingeschätzt: „die Ergebnisse zeigen, dass ein Core Set Sucht gut machbar ist“ (Amann et al., 2011 S. 28).
In Fachkliniken, in denen schon weitergehend mit der ICF gearbeitet wird, z. B. im Rehabilitationszentrum Häuser am Latterbach, Medizinische Rehabilitation in Peiting – Herzogsägmühle, sind hausinterne Anpassungen erfolgt. Vor allem wird die Möglichkeit geschätzt, eine interdisziplinäre Sprache zu finden und in der Behandlung „Problemcluster“
zu definieren. Eine für den Suchtbereich geltende Auswahl trifft die Fachklinik Nordfriesland in ihrem Konzept (Fachklinik Nordfriesland 2008, S.30f.):
„1. Körperfunktionen (bxxx.x)
b110 Funktionen des Bewusstseins b114 Funktionen der Orientierung
b126 Funktionen von Temperament und Persönlichkeit b130 Ausmaß der psychischen Energie/des Antriebs b1303 Drang nach Suchtmitteln
b1304 Impulskontrolle
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b144 Funktionen des Gedächtnisses b147 Psychomotorische Funktionen b152 Emotionale Funktionen b160 Funktionen des Denkens b164 Höhere kognitive Funktionen
b240 Mit den Hör- und vestibulären Funktionen verbundene Empfindungen b2401 Schwindelgefühl
b410- b429 Funktionen des kardiovaskulären Systems b435 Funktionen des Immunsystems
b440 Funktionen des Atmungssystems
b515 Verdauungsfunktion (Aufschlüsselung, Absorption, Nährstoffe) b540- b545 Allgemeine und spezifische Stoffwechselfunktionen b555 Funktionen der endokrinen Drüsen
b640 Sexuelle Funktionen b660 Fortpflanzungsfunktionen b730 Funktionen der Muskelkraft b735 Funktionen des Muskeltonus
b780 Mit den Funktionen von Muskeln und der Bewegung in Zusammenhang stehende Empfindungen
2. Körperstrukturen (sxxx.x)
s100 Struktur des Gehirns
s140 Struktur des sympathischen Nervensystems s150 Struktur des parasympathischen Nervensystems s560 Struktur der Leber
3. Aktivität und Partizipation (Teilhabe) (dxxx.x)
d163 Denken
d175 Probleme lösen
d177 Entscheidungen treffen
d220 Mehrfachaufgaben übernehmen d230 Die tägliche Routine durchführen
d240 Mit Stress und anderen psychischen Anforderungen umgehen d310 Kommunizieren als Empfänger gesprochener Mitteilungen d315 Kommunizieren als Empfänger non-verbaler Mitteilungen d330 Kommunizieren als Sender: Sprechen
d335 Kommunizieren als Sender: Non-verbale Mitteilungen produzieren d350 Konversation
d355 Diskussion
d475 Ein Fahrzeug fahren d510- d560 Selbstversorgung d570 Auf seine Gesundheit achten d5702 Seine Gesundheit erhalten d520 Seine Körperteile pflegen d610 Wohnraum beschaffen
d620 Waren und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs beschaffen d640 Hausarbeiten erledigen
d710 Elementare interpersonelle Aktivitäten d720 Komplexe interpersonelle Interaktionen d760 Familienbeziehungen
d770 Intime Beziehungen
d840 Vorbereitung auf Erwerbstätigkeit
d845 Eine Arbeit erhalten, behalten und beenden
d860- d870 Elementare und komplexe wirtschaftliche Transaktionen und wirtschaftliche Eigenständigkeit
d910 Gemeinschaftsleben d920 Erholung und Freizeit
4. Umweltfaktoren (exxx.x) 4.1 Produkte und Technologien
e110 Produkte und Substanzen für den persönlichen Verbrauch e1100 Lebensmittel (Alkohol)
e1101 Medikamente
e125 Produkte und Technologien zur Kommunikation (z.B. Internet, Spielsucht) e135 Produkte und Technologien für die Erwerbstätigkeit
4.2 Natürliche und vom Menschen veränderte Umwelt 4.3 Unterstützung und Beziehungen
e310 Engster Familienkreis e315 Erweiterter Familienkreis e320 Freunde
e325 Bekannte, Seinesgleichen (Peers), Kollegen, Nachbarn und andere Gemeindemitglieder e330 Autoritätspersonen
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e355 Fachleute der Gesundheitsberufe 4.4 Einstellungen
e410 Individuelle Einstellungen der Mitglieder des engsten Familienkreises e415 Individuelle Einstellungen der Mitglieder des erweiterten Familienkreises e420 Individuelle Einstellungen von Freunden
e425 Individuelle Einstellungen von Bekannten, Seinesgleichen (Peers), Kollegen, Nachbarn und anderen
Gemeindemitgliedern
e430 Individuelle Einstellungen von Autoritätspersonen
e450 Individuelle Einstellungen von Fachleuten der Gesundheitsberufe e460 Gesellschaftliche Einstellungen
e580 Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze des Gesundheitswesens“
Im Konzept wird nicht weiter auf einen Einbezug dieser Auswahl in Diagnostik, Behandlungsplanung oder Evaluation hingewiesen.
Für die Arbeit mit Abhängigkeitserkrankungen sind erst wenige Umsetzungen dokumentiert, die über eine Übernahme der Begrifflichkeit und den Bezug aus das bio-psycho-soziale Modell hinausgehen. In einer Untersuchung in einer Fachklinik zur Alkoholentwöhnung wurde festgestellt, dass die ICF für die Behandlungsplanung in der Praxis brauchbar ist (vgl.
Klein et al. 2011). Patienten mit geringerer funktionaler Gesundheit und Prädikatoren hierfür konnten identifiziert werden, sodass im Behandlungsverlauf konkrete Maßnahmen zur Steigerung der funktionalen Gesundheit geplant werden konnte.
Die Anwendung der ICF zur Therapieplanung durch Identifikation der relevanten Items und Einbezug in eine Behandlungsplanung ist insgesamt noch nicht sehr weit fortgeschritten. Ein einheitliches Core Set existiert noch nicht. Der Bezug auf die Begrifflichkeit der ICF in den Rehabilitationskonzepten und Materialien der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation existiert, für die Erstellung von Leitlinien scheint er aber ohne Relevanz zu sein, so dass offen ist, inwieweit eine Orientierung an der ICF und daraus abgeleiteten Core Sets mit einer leitliniengerechten Behandlung in Einklang steht.
ICF Messinstrumente
Bisher wird die ICF kaum zur Routinediagnostik in der Suchthilfe in Deutschland eingesetzt.
In den Niederlanden gibt es eine umfangreiche Implementierung im Rahmen der Diagnostik
im Suchtbereich (vgl. Schippers et al. 2009). Dort wurde das „Measurements in the Addictions for Triage and Evaluation - ICF-Core-Set and Needs for Care“ (MATE-ICN) entwickelt. Ziel des Verfahrens ist die Zuordnung der Patienten zu verschieden intensiven Behandlungsmöglichkeiten. Bei der Erstellung des MATE wurden, ähnlich wie gegenwärtig in Deutschland (vgl. Amann et al., 2011) von einem Expertengremium diejenigen ICF-Kategorien ausgewählt, die für die Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen relevant erschienen. Die deutsche Version des MATE wurde im Rahmen einer Pilotstudie in verschiedenen Suchteinrichtung erprobt (vgl. Buchholz et al., 2009; Küfner et al., 2009).
Insgesamt erscheint das Instrument sinnvoll, um „Informationen über spezifische Beeinträchtigungen der funktionalen Gesundheit zur individuellen Behandlungsplanung“
(Buchholz et al. 2011, S. 18) zu nutzen. Buchholz et al. bewerten insgesamt die Entwicklung und Implementierung des MATE als ein positives Beispiel zur Umsetzung der ICF in der Suchthilfe: „Neben einer ausführlichen und standardisierten Routinediagnostik in Bezug auf die funktionale Gesundheit und aktuellen Hilfebedarf gelingt es dadurch auch, die Hauptziele der ICF und zwar:
- die Bereitstellung einer disziplinübergreifenden Sprache,
- eine bessere Verständigung zwischen Betroffenen, Professionen und Institutionen sowie - eine verbesserte Möglichkeit zu Datenvergleichen
umzusetzen“ (ebd., S.19).
Die ICF für den Alltag handhabbarer zu machen ist auch ein Anliegen der Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation an der Charité Berlin (vgl. Baron 2010). Hier wurde das
„Mini-ICF-Rating für Aktivitäts- und Partitzipationsstörungen bei psychischen Erkrankungen (Mini-ICF-APP)“ entwickelt, um Aktivitäts- und Partizipationsstörungen bei psychischen Erkrankungen zu klassifizieren und das in der ICF beschriebene theoretische Konzept in ein praktikables Vorgehen umzusetzen. Dabei werden alle verfügbaren Informationen genutzt und durch Fachpersonal eingeschätzt. Die Ergebnisse dienen sowohl der Therapieplanung und Zielfindung als auch der Zustandsdiagnostik, Prognoseeinschätzung, sozialmedizinischen Beurteilung und Messung des Therapieerfolgs. Damit liegt ein handhabbares Instrumente zur Erfassung und Messung von Teilhabe und Aktivitätseinschränkungen und -veränderungen.
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