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Antike und Christentum

Teil I: Philosophische Grundzüge der Leib-Seele-Diskussion

2 Historischer Abriss

2.5 Antike und Christentum

Eine Pattsituation, sie ist nur lösbar durch eine ontologische Vorentscheidung. Wer den konkreten Einzeldingen Vorrang gibt, wird die Zusatzontologie der Ideen verwerfen. Wer die Ideen für grundlegender hält, wird die Zusatzontologie der konkreten Einzeldinge verwerfen. Platon hat diesen Streit im Sophistes als Kampf der Giganten (Aristoteliker) mit den Götterfreunden (Platonikern) geschildert; offenbar gab es beide Fraktionen schon in seiner Akademie. Die einen versuchen den Ideenhimmel im Irdischen zu fundieren, die anderen versuchen es umgekehrt, und dies ist bis heute ein Grundmuster der Philosophia Perennis. In der Scholastik war es der Universalienstreit: Sind die allgemeinen Begriffe vor den Dingen, in den Dingen oder nach den Dingen? Im bis heute währenden logisch-mathematischen Grundlagenstreit ist es die Frage: Sind die letzten reinen Formen, nämlich die reinen Mengen und Klassen, eigenständige Vorbedingungen jeder möglichen Empirie, oder Ordnungen in jeder Empirie, oder nachgeschobene Ordnungen der Empirie? Die erste Auffassung, der Mengen-Platonismus, fand im Lauf der letzten Jahrzehnte immer weniger Anhänger, zugleich aber paradoxerweise immer stärkere Gründe. Denn die Hierarchie der transfiniten Mengen wurde mathematisch immer durchsichtiger und kohärenter, obgleich die mathematisch anspruchsvollsten Theorien der Physik nur einen verschwindend geringen Teil der ganzen Mengenhierarchie benötigen. Wie könnte man diesen mathematischen Ideenhimmel im Irdischen fundieren?

Weiterhin findet sich das Grundmuster des platonisch-aristotelischen Streits im periodisch wiederkehrenden Streit zwischen Subjektivisten und Objektivisten, zwischen Phänomenalisten und Physikalisten, und in jüngerer Zeit zwischen radikalen Konstruktivisten und wissenschaftlichen Realisten. Was ist fundamentaler, das Objekt oder das Objektivierende, das Bewegte oder das Bewegende, der Körper oder die Psyche? Und ist die bewegende Kraft eher das statische i oder das dynamische ki? Das heutige physikalische Verständnis ist gespalten; eine physikalische Grundkraft, z. B. die elektromagnetische, ist einerseits das elektromagnetische Feld, andererseits sein Botenteilchen, das Photon; einerseits i, das Potential, andererseits ki, die Manifestation. Der Streit der Giganten und Götterfreunde ist noch nicht beendet.

Aber zurück zum Giganten Aristoteles. Ähnlich wie heutige wissenschaftsnahe Philosophen bemüht er sich um ein theoretisch kohärentes, empirisch plausibles monistisches Weltbild, das Stoff (hyle) und Form (morphe) vereinigt. Nach Aristoteles ist reiner, amorpher Stoff ebensowenig wahrnehmbar, erkennbar und vorstellbar wie reine, stofflose Form. Unsere Objekte sind immer geformter Stoff, wobei die Formen immer nur unvollständige Aspekte sind, aber – darin folgt er

Platon – das Wesen, die Essenz des Objekts ausmachen: das, was wir geistig erfassen können.

Unser Geist (nous) ist auf die Formaspekte gerichtet. Ähnlich versteht er auch Leib und Seele als untrennbare Einheit: Die Psyche ist der essentielle Aspekt des lebendigen Körpers, ihre Entelechie, das heißt, ihr finaler Zweck:

„Und deswegen haben diejenigen eine richtige Auffassung [der Seele], die annehmen, dass die Seele weder ohne Körper ist, noch [selber] ein Körper; denn sie ist kein Körper, wohl aber etwas [ein Prinzip], das zum Körper gehört, und liegt daher im Körper vor, und zwar in einem sobeschaffenen Körper (De Anima II, 414a).“

Aber diese Einheit enthält starke Spannungen. Als Empirist und Analytiker unterscheidet Aristotoles drei Seelenteile: die nährende anima vegetativa der Pflanzen, die empfindende anima sensitiva der Tiere und die denkende anima intellectiva des Menschen. Und dieser höchste Seelenteil, der nous, ist auf etwas ungewisse Weise Teil des unsterblichen göttlichen nous, des Unbewegten Bewegers. Ich möchte auf Aristotes nicht näher eingehen, vieles bleibt unklar und in verschiedenen Phasen seiner Schriften auch widersprüchlich. Ein Unterschied zu Platon liegt darin, dass der Sprung ins Ganz Andere, das absolut Zeitlose, bei Aristoteles nicht vorkommt. Wo Platon zum Mystiker wird, bleibt Aristoteles Rationalist, und die große Inversion in Platons berühmtem Höhlengleichnis, die Abkehr von den zeitlichen Schattenbildern zu den zeitlosen Urbildern, verweigert er.

Nun zum früheren Christentum. Ohne seinen wichtigsten Apostel Paulus wäre es vielleicht so rasch verschwunden wie zahlreiche anderen Sekten jener Zeit. Paulus, ein hochgebildeter hellenistisch geprägter Jude, verknüpfte das Christentum mit antiker Philosophie, und das erleichterte weitere Brücken, vor allem jene zum späteren Neuplatonismus, der auch andere mystisch-monotheistische Strömungen der Spätantike aufnahm. Sein wichtigster Vertreter Plotin lehrte in Anlehnung an Platons Kosmologie (im Timaios) drei „Hypostasen“: zuoberst das zeitlose All-Eine jenseits aller Trennungen und Begriffe, dann die ebenfalls zeitlose göttliche Vernunft, durch die sich das All-Eine zum Ideenkosmos strukturiert (ähnlich dem Demiurg im Timaios, der den Kosmos nicht im biblischen Sinn erschafft, sondern ordnet), und schließlich die Weltseele, in der sich der Ideenkosmos psychophysisch verzeitlicht. Diese Triade verweist auf die christliche Trinität: den Gottvater, den Heiligen Geist und den Gottessohn. Die frühchristlichen Kirchenväter fühlten sich solcher (neu-) platonischer Mystik näher als der aristotelischen Ratio, was auch damit zu tun hat, dass die frühen Christen das baldige Zeitende erwarteten. Mit der

Etablierung des Christentums als Staatsreligion ging diese Endzeitstimmung und mystische Unterströmung vor allem in der Westkirche zurück, aristotelische Gedanken wurden wichtiger.

Dazu gehört der aristotelische Leib-Seele-Monismus, denn Christus war Gott und Mensch zugleich, Vorbild der unteilbaren individuellen Person während ihrer kurzen irdischen Probezeit, und die „Auferstehung des Leibes“ gehört bis heute zum Glaubensbekenntnis vieler Christen. In den scholastischen Schriften, besonders in der Summa Theologiae des Thomas von Aquin ist viel aristotelisches Gedankengut, das dort irgendwie mit der Bibel verträglich gemacht wird. Wo Thomas von dem Philosophen spricht, meint er Aristoteles. Aber die platonisch-aristotelische Kontroverse um das Leib-Seele-Verhältnis durchzieht die gesamte Kirchengeschichte. Augustinus war eher Dualist, Leib und Seele sind für ihn außen und innen: „unum exterius et alterum interius“, wobei das Innere ausdrücklich das Bessere ist: „melius quod interius“ (Confessiones X, C).

Thomas von Aquin war vergleichsweise eher Monist, die aristotelische Geistseele anima intellectiva und der Leib corpus sind für ihn eine essentielle, keine akzidentelle Einheit. Dieses platonisch-aristotelische Erbe blieb noch lange lebendig, Spinozas pantheistischer Kosmos und Leibnizens Monadologie haben im Entwurf mehr von Platon, in der Ausarbeitung mehr von Aristoteles. Erst im 19. Jahrhundert hat der wachsende Historismus, vor allem aber Darwins Evolutionstheorie, Platons zeitlose Ideen schwer erschüttert. Wenn unsere Vorstellungen und Begriffe dem historischen Wandeln unterliegen, so schlägt das zwar nicht unmittelbar auf Platons Ideen durch, aber diese sollten doch zumindest sprachlich approximierbar sein, sonst wären die sokratischen Dialoge müßig. Und der Kratylos-Dialog sollte die Mittelstellung der Sprache zwischen dem Wandel der Erscheinungen und den unwandelbaren Ideen zeigen. Daher musste der Platonismus im 19. Jahrhundert stark an Überzeugungskraft verlieren und sich auf jene zwei strikt normativen Bereiche zurückziehen, die schon für Platon die wichtigsten waren: die moralischen Ideen und die logisch-mathematischen.

Zum Abschluss dieser flüchtigen Skizze erwähne ich noch, dass im 19. Jahrhundert auch das Doppelproblem, das die christlichen Theologen seit Anbeginn plagte, immer deutlicher als unlösbar erkannt wurde: Wie verträgt sich Gottes Allmacht, Allwissen, Allgüte (a) mit der Existenz des Bösen und (b) mit der menschlichen Willensfreiheit? Das erste Problem ist heute etwas verblasst, das zweite ist geblieben. Denn die Betonung der individuellen Verantwortung ist vom monotheistischen Erbe geblieben.