3. Das europäische Bedrohungsbewusstsein von 1890 bis 1914
5.2 Europäisches Selbstverständnis und Fremderfahrung Paquets
5.2.1 Alfons Paquet als Reiseschriftsteller und Reisetheoretiker
Interessen und seine ausgewiesene Kompetenz auf diversen Gebieten haben schon seine Zeitgenossen hingewiesen. In den „Dresdner Nachrichten“ vom 7. September 1913, wo Paquet einen Bericht über die internen Verhältnisse in der Türkei veröffentlichte, nannte man ihn einen „vielseitig begabten Dichter, Nationalökonom, Historiker und Forscher“646. Heinrich Gessert bezeichnete Paquet als „Volkswirtschaftler und Dichter“647. Ein anderer Zeitgenosse Paquets, Otto Doderer, charakterisierte ihn folgendermaßen: „Paquet ist Held Namenlos, der Rastlose, der Weltgierige, der Schaffens- und Erlebnishungrige, ein Gegenwartsmensch, kenntnisreich und erfahren in volkswirtschaftlichen Fragen, in der ganzen Welt zu Hause […] nüchtern beobachtend mit dem Blick für das Wesentliche“.648 Paquet wurde an der Jahrhundertwende vor allem als Reiseschriftsteller rezipiert. Auch er selbst verstand sich zu dieser Zeit primär als Reisender und Reiseberichterstatter.649 Paquets hierbei erworbener Ruf als Reiseberichterstatter und Journalist lässt sich besonders anschaulich daran sichtbar machen, dass seine in Zeitschriften veröffentlichten Reiseberichte oftmals als Aufmacher erschienen. Für die Hochschätzung des informativen Werts seiner Reiseliteratur spricht auch die Tatsache, dass sein Sammelband „Asiatische Reibungen“ auf der 1911 in Berlin abgehaltenen „Internationalen Ausstellung für Reise und Verkehr“ mit dem Ehrendiplom ausgezeichnet wurde.
Die Äußerungen des Schriftstellers über die Bedeutung des Reisens für seine eigene Biographie und über den Wandel von Reiseart und Reisebeschreibung in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben sein publizistisches und autobiographisches Werk nachhaltig geprägt. In einer seiner autobiographischen Studien verwies Paquet etwa retrospektiv auf die Bedeutung seiner Reisen als Abenteuer, das jedoch nicht mit der Entdeckung exotischer Orte verbunden war, sondern mit dem „Ausbruch aus dem Alltäglichen und Aufbruch in neue Kulturen und unbekannte Regionen.“650 Eine ähnliche Aussage enthält die Definition des Reisens, die er ein Jahr später in seiner Studie „Autobiographisches Zwischenspiel“ lieferte:
„Das Reisen kommt natürlich von Reißen. Das Reisen ist die Kunst auszureißen oder sich aus
646 Paquet, Die innere Lage der Türkei, in: Dresdner Nachrichten, 7. 9. 1913, S. 1–2.
647 Paquet, Der Sendling. Erzählungen und Schilderungen, Einleitung von Heinrich Gessert, Hamburg 1914, S. 8.
648 Otto Doderer, Über Alfons Paquet. Zit. nach: „Ich liebe nichts so sehr wie die Städte“, S. 140. Mit der Benennung des Dichters als „Held Namenlos“ machte Doderer eine Anspielung auf Paquets Gedichtsband, der im Jahre 1912 erschien.
649 Vom Selbstverständnis Paquets als Reisender zeugen seine autobiographischen Studien. Aussagekräftig im Hinblick darauf sind vor allem: Paquet, Autobiographische Skizze, in: Das literarische Echo, 1. 10. 1912, Jg. 15, H. 1, S. 35–37; ders., Skizze zu einem Selbstbildnis (1925), in: Bibliographie Alfons Paquet, S. 9–21; ders., Meine Reisen, in: Der Bücherwurm. Eine Monatsschrift für Bücherfreunde, 1924, Jg. 9, H. 4, S. 105–106. Eine Auswahl Paquets autobiographischer Texte findet sich in: Paquet, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 7–25.
650 Paquet, Autobiographisches Zwischenspiel, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 21.
dem ruhigen Leben des Ortes und der Gewohnheit herausreißen zu lassen.“651 In „Die Welt des Reisens“ benannte Paquet rückschauend die Motivation seiner Reisetätigkeit:
„Zur Kunst des Reisens gehört nicht immer das Ziel. Nicht einmal die richtige Wahl der Wege, der günstigsten Jahreszeit, die Vorbereitung durch das Studium des Fahrplans, die Aufgeschlossenheit für Menschen und Sprachen, die Fähigkeit widriger Gefühle Herr zu werden, besonders des Heimwehs, des Fremdseins oder der Langeweile und der Ermüdung. Vor allem gehört dazu die Fähigkeit, sich auf das Ungewohnte zu freuen. Das Ungewohnte muss als das eigentliche Element der Reise hingenommen werden können, ohne das wäre sie nur ein Hinundherlaufen.“652
Der Drang nach dem Abenteuer, den Paquet an anderer Stelle als „eine Neugier auf sich selbst“653 bezeichnete, war ein wichtiges Motiv bei seinen Reisen. Das drückte sich auch in seiner abenteuerlichen Reiseart aus654, die er als „das wirkliche Reisen“ betrachtete. Die dabei auftretenden Schwierigkeiten wurden von Paquet in der Einleitung zu seiner Studie
„Südsibirien und die Nordwestmongolei“655 ausgebreitet. Hier beschrieb er die Unterschiede zwischen der Reiseart wissenschaftlicher Expeditionen und der eines einsamen Reisenden,
„der einzeln, mit nur wenigen ihm wesensfremden Mietlingen, in schweigender Ausdauer und Überlegenheit draußen mit Sand und Felsenmassen, Sümpfen und wilden Flüssen, Wind und Wetter monatelangen zähen Kampf aufnimmt; der, losgelöst von aller äußeren Beziehung zu der geistigen Masse, der er entstammt, wie in der Luft schwebend, als ein armer Späher, Pilger und Fremdling sein Ziel sucht“656. An anderer Stelle berichtete Paquet retrospektiv über die Schwierigkeiten der einsamen Reiseart folgendermaßen: „Das wirkliche Reisen, ohne Hilfe von Daheim, aber mit allen Qualen, die die Trennung auferlegt, ist eine Sache, die man nicht anders lernen kann als das Seiltanzen, man lernt es mit Schweiß auf der Stirn, mit Zähneklappern.“657
651 Ebenda.
652 Paquet, Die Welt des Reisens, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 9.
653 Ebenda, S. 11.
654 Die abenteuerliche Art des Reisens von Alfons Paquet hat in der Forschung Christiane Günther hervorgehoben:
„Paquet reiste auf andere Art als die meisten Dichter, nämlich einsamer, abenteuerlicher, ungewöhnlicher.“, in:
Günther, Der Aufbruch nach Asien, S. 257.
655 Wie bereits an anderer Stelle betont, entstand diese Studie 1908 als Bericht von der zweiten Reise Paquets in den Fernen Osten.
656 Paquet, Südsibirien und die Nordwestmongolei, S. 1 f.
657 Paquet, Meine Reisen, in: Der Bücherwurm, S. 105. Den letzten großen Reisenden sah Paquet in
dem Schweden Sven Hedin. Ihm widmete Paquet seinen Essayband „Der Kaisergedanke“ (1915). Zu Hedin als Forschungsreisendem siehe Mechthild Leutner, Helden ihre Kämpfe und ihre Siege. Sven Hedin und Wilhelm Filchner in China und Zentralasien, in: Wolfgang Kubin (Hrsg.), Mein Bild in deinem Auge. Exotismus und Moderne: Deutschland-China im 20. Jahrhundert, Darmstadt 1995, S. 83–103. Eine zeitgenössische Quelle zum Thema liefert: A. de Lapparent, Les voyages de M. Sven Hedin, in: Le Correspondant, 1898, Bd. 190, S. 50–67.
Charakteristisch ist im Hinblick darauf der nüchterne, informative Stil der Reiseberichte von Paquets.658 Der wissenschaftliche Anspruch seiner Reiseberichte wurde von seinem Bemühen begleitet, in die empirische Wirklichkeit fremder Völker, „in fremde Zustände und Gemeinschaften, in Fabriken und Farmen, in Schiffsmannschaften und Belegschaften von Gruben oder Werkstätten“659 einzudringen. Demzufolge finden sich in Paquets Reiseberichten zahlreiche Beschreibungen asiatischer Handelshäfen und Bergwerkstädte.660 Wie wichtig Paquet selbst der wissenschaftliche Aspekt seiner Reisen war, bezeugt seine Selbstbeschreibung als „wissenschaftlicher Reisender“661.
Von maßgeblicher Bedeutung als Antriebsmotor der Reisetätigkeit von Paquet war, neben der Suche nach Abenteuern, der bildende Wert des Reisens.662 Ihm verdankte der Mensch, so Paquet, die „in der Breite zunehmende Kenntnis des Lebens. Mag es sich um die Sitten der Liebe handeln, das Sammeln von Schmetterlingen oder um Arbeitsmethoden der Handwerke und Industrie“663.
Neben seinen theoretischen Überlegungen zum Wert des Reisens gab Paquet auch einige Einblicke in den modernen Wandel der schriftlichen Verarbeitung von Reiseerfahrungen. Die entscheidenden Änderungen in den Reisebeschreibungen an der Wende zum 20. Jahrhundert waren nach seiner Einschätzung weniger ästhetischer als inhaltlicher Art. Sie standen mit der bereits einsetzenden Verwissenschaftlichung der Reisedarstellung im Zusammenhang. Dieser Prozess, so Paquet, äußerte sich in der Berücksichtigung von psychologischen, sozialen und politischen Aspekten:
„Das zwanzigste Jahrhundert könnte uns fast langweilen, wenn wir uns durch die enorme Zunahme der Reisebücher täuschen ließen, die zunächst eine Folge der Leichtigkeit ist, mit der heute lange Reisen durch ein bloßes Aneinanderreihen von Fahrplanabschnitten ausgeführt werden. Aber das zwanzigste Jahrhundert bringt in das Reisen, in die Reisebeschreibung ein Neues: die Psychologie, den Sinn für das Typische, den soziologischen Blick, die brennende Nähe des politischen Gedankens, und neben der befreienden Erweiterung des Spezialistentums eine neue Tiefenordnung der Eindrücke“664.
658 Dieser Aspekt wurde auch durch Dietrich Kreidt hervorgehoben. Kreidt schreibt über die Ausdrucksweise Paquets wie folgt: „eine äußerst schlichte, unromantische auf Gegenwartsfragen bezogene Haltung (…), die ihn vom genussüchtigem Touristen ebenso unterschied wie vom Sensationsreporter oder vom Entdeckungsreisenden alten Typs“, in: Kreidt, Augenzeuge von Beruf, S. 4.
659 Paquet, Die Welt des Reisens, S. 16.
660 Hierzu gehören insbesondere die Berichte Paquets über Hankau, Dalny, Kyoto und Funschun.
661 Paquet, Südsibirien und die Nordwestmongolei, S. 1.
662 Paquet, Die Welt des Reisens, S. 15.
663 Ebenda.
664 Ebenda, S. 14 f. Zur verstärkten Anwendung soziologischer und psychologischer Betrachtungen in den Reiseberichten zu Beginn des 20. Jahrhunderts vgl. Günther, Der Aufbruch anch Asien, S. 244. Die Forschungsergebnisse von Günther bezeugen die Aktualität der Thesen von Paquet.
Paquet war der Ansicht, dass die Reisedarstellung und die Reiseart selbst immer aus ihrer Zeit heraus interpretiert werden müssen.665 Diesem Gedankengang folgend legt der Reiseschriftsteller Zeugnis über seine Epoche ab und kann zu ihrem Verständnis beitragen.
Auch diese Absicht lässt sich anhand der Reiseberichte von Paquet, die zudem einen besonders hohen informativen Wert hatten, eindrucksvoll nachweisen. Dokumentiert wurde von ihm beispielsweise die Geburtsstunde des Tourismus als „Kommerzialisierung und Kollektivierung des Reisens“666. Von besonderem Wert ist an dieser Stelle wie Paquet die Entstehung des Berufs eines modernen Reiseberichterstatters beschrieben hat. „Aus dem Augenzeugen durch Zufall hat sich der Augenzeuge von Beruf gebildet“, so Paquet, „aus dem schlendernden Begleiter die Reiseleitung, die alles in Bahnen lenkt. Die Menge, die so vieles selber sieht, sieht noch nicht genug. Sie braucht geschwinde Menschen, von einer vogeläugigen Art, die in Wort und Bild berichten, Beobachter aus Liebhaberei, aus Leidenschaft, schließlich aus Beruf.“667 Die Aufgabe der Reiseberichterstatter wurde von Paquet als „Dienst an der nachfolgenden Generation und am eigenen Volke“668 verstanden.
Auch Paquet selbst gehört zu den „Menschen von einer vogeläugigen Art“, zu den
„Augenzeugen von Beruf“. Er informierte sowohl über die sozialen Zustände, die Alltagskultur und die Festlichkeiten fremder Völker, als auch über ihre Wirtschaftspolitik und die modernen Infrastrukturen in den fernen Ländern. Kennzeichnend für seine Reiseberichte ist der scharfe Blick für hintergründige Zeittendenzen sowie seine Fähigkeit, sich über eine genuin nationale Sichtweise zu erheben. Sein nationales Empfinden wurde, ähnlich wie bei Romain Rolland, von einem europäischen und weltbürgerlichen Selbstverständnis begleitet.
Alle drei Arten von kollektiver Identität bildeten bei Paquet jedoch keinen Widerspruch. Er war ein nationalbewusster Europäer, der von einem ausgeprägten Interesse für das Fremde durchdrungen war. Gerade seine Aufmerksamkeit gegenüber dem Fremden machte aus ihm einen Weltbürger.
Der bildende Wert der Reiseberichte von Paquet stoß bei bei den Zeitgenossen auf große Anerkennung. Es ist dabei zu betonen, dass mehrere seiner Reisen dank finanzieller Unterstützung von Bildungsinstitutionen ermöglicht wurden. In diesem Kontext kann von Paquet als Vertreter des Typus eines modernen Reiseberichterstatters die Rede sein. Es ist kennzeichnend für die Wende zum 20. Jahrhundert, dass immer mehr Repräsentanten der
665 Siehe ebenda.
666 Günther, Der Aufbruch nach Asien, S. 17.
667 Paquet, Die Welt des Reisens, S. 16.
668 Ebenda.
kulturellen und intellektuellen Elite Europas die außereuropäische Welt dank finanzieller Zuschüsse bereisten, die ihnen als Korrespondenten von Verlagen, Zeitschriften oder wissenschaftlichen Instituten gewährt wurden.669 Das kann in diesem Ausmaß als eine Novität in der Zeit unmittelbar vor 1914 gelten. 1904 ist der Schriftsteller mit finanzieller Unterstützung des Merton-Instituts und der „Frankfurter Zeitung“ nach Amerika gereist, um über die Weltausstellung in Saint Louis und die Jugendfürsorge in den USA zu berichten.670 Seine Reise in den Fernen Osten im Jahre 1908 wurde dank Zuschüssen der „Geographischen Gesellschaft zu Jena“ und eines Vorschusses der „Frankfurter Zeitung“ ermöglicht.671 Über seine Entscheidung, auf die Karriere eines „akademischen Nationalökonoms“ zu verzichten und sich der Tätigkeit eines „wissenschaftlichen Reisenden“672 zu widmen, äußerte er sich wie folgt:
„Einen Augenblick stand ich nun wohl vor der Möglichkeit, einen der Wege einzuschlagen, die einem akademischen Nationalökonom in Deutschland offen stehen. Aber der Osten winkte, und ein Vierteljahr später fand ich mich, strahlend vor Glück und Dankbarkeit, in der Mongolei.“673